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In Peking mit Bei Dao

23.12.2021   

Das Stadttor geht auf - Bücher - Hanser Literaturverlage

Das Stadttor geht auf ist eine autobiographische Collage. Ihre Kapitel lauten unter anderem: Klänge, Gerüche, Möbel, Schallplatten. Später geht es um Tätigkeiten wie Angeln und um Orte wie Shanghai und verschiedene Schulen. Bei Dao (Zhao Zhenkai) wurde 1949 geboren, seine Mutter war Ärztin, sein Vater Angestellter einer Versicherung. Der Vater war Mitglied einer der 8 Blockflöten-Parteien, die in China neben der KP auch heute noch zugelassen sind. Bei Dao schreibt seit seiner Jugend vor allem Lyrik. Er bekam 2005 den Bremerhavener Jeannette-Schocken-Preis. Viel Bai Dao gibt es auf Youtube (Suche nach »Bei Dao« in Anführungszeichen). Die englischen Übersetzungen von Eliot Weinberger sind beachtlich. Auf Deutsch gibt es einige Gedichtbände, die ebenso wie die Autobiographie von Wolfgang Kubin übersetzt sind.

Das Erzählen in Momentaufnahmen und die Sammlung von Erinnerungen, die einer Person oder einem Ort zugeordnet sind, hat große Vorteile gegenüber der chronologischen Reihung. Anmutungen von Kausalität werden ebenso vermieden wie die Verlockungen der episodischen Dramatisierung. Die kleinen Kapitel stehen für sich, sie sind wie Bilder aufgereiht. Das letzte und längste Kapitel ist den letzten Begegnungen mit dem Vater gewidmet, der zeitlebends ein stiller und ein wenig ängstlicher Oppositioneller war und viele Jahre Landarbeit machen musste, statt seine Karriere im Versicherungswesen fortzusetzen. Bei Dao selbst war in der 1966 beginnenden Kulturrevolution aktiv. Er berichtet unter anderem von einer beschämenden Attacke auf einen vermeintlichen Konterrevolutionär aus der Nachbarschaft, der vonihm und einigen Freunden aus seiner Wohnung gezerrt und einige Tage in einen Keller gesperrt wurde.

Wir schoben der Reihe nach Wache, und zwar in drei Schichten. Abgesehen davon, dass wir ihm rechtzeitig Essen brachten, begleiteten wir ihn noch zur Toilette. Uns plagten die Ängste, er könnte sich aus dem Staub machen oder sich das Leben nehmen. Nach zwei Tagen waren wir ausgelaugt, wir gähnten um die Wette. Wir mussten ihn laufen lassen. (142)

Zeitlich erstrecken sich die erzählten Passagen über die 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre. Die engen Wohnverhältnisse (6 Personen teilen sich 2 Zimmer, mehr als 10 Personen eine Küche und ein Bad) werden am Rande immer wieder erwähnt. Obwohl die Familie Bei Daos zur Elite des Landes gehörte, wird diese Situation als ganz gewöhnlich hingenommen. Der Autor, der nach langem Aufenthalt außerhalb Chinas jetzt wieder in Peking und Hongkong lebt, lässt die Beschreibungen so stehen, ohne ihnen als Kontrast etwa die heutige Wohn- und Lebenssituation in Peking hinzuzufügen. Dennoch regt das Buch zu einem Vergleich an: mit den west- und ostdeutschen Verhältnissen in derselben Zeitspanne. Peking, das 1960 schon annähernd fünf Millionen Einwohner zählte, erscheint in Bei Daos Beschreibungen annähernd als ländliche Abenteuerlandschaft, durchsetzt mit beeindruckend vielen Imbissständen, die auch schon von Kindern frequentiert werden.

Bei Daos Eltern beschäftigten für ihn und seine beiden jüngeren Geschwister eine Kinderfrau und Köchin, genannt Tante Qiao. Sie war Analphabetin und hatte eine Halbschwester, die in einer anderen Stadt ebenfalls als Kinderfrau tätig war. Der achtjährige Bei Dao schrieb für Tante Qiao Briefe an ihre Schwester. Er beherrschte erst einige hundert Schriftzeichen (und setzte für die Wörter, für die er noch kein Schriftzeichen kannte, Kreise als Stellvertreter ein). Die Antworten der Schwester musste er dann vorlesen, wobei er auf ihm unbekannte Zeichen stieß, zusätzlich auch auf Kreise. Die Texte ergaben manchmal keinen für ihn und Tante Qiao nachvollziehbaren Sinn. Er fand nach einer Weile heraus, dass die Halbschwester ebenfalls Analphabetin war und gleichfalls eine ganz junge Schreiberin beschäftigte. Die Briefe enthielten von nun an auch Anteile, in denen sich die beiden jungen Leihfedern untereinander austauschten.

[Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. München: Hanser, 2021]