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Ukraine-Scrapbook (3)

22.04.2022   

It’s not dark yet, but it’s getting there

Zunächst zwei kleine Ausschnitte aus der Sendung Markus Lanz am Abend des 21.04.2022.

Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr in München:

Nachdem die russische Föderation diese beiden Briefe mit ihren Forderungen an die USA und die Nato geschickt hat, und es klar war, weder die USA noch die Nato werden auf die zentralen Forderungen eingehen, war die Situation klar, wie kann dieser Mann aus dieser Situation eigentlich noch herauskommen, ohne einen Krieg zu starten (nachdem er monatelang da Truppen massiert hat). Und da war klar, er wird eine militärische Operation durchführen.

Auf diese Erklärung geht niemand aus der Diskussionsrunde ein. Angesprochen sind die beiden in den hiesigen Nachrichten erwähnten und vom Wismarer Ostinstitut dokumentierten Vertragsentwürfe. Sie werden von Joachim Schramm kommentiert. Auf die Entwürfe wurde mit einer Melange von Ablehnung und Ignoranz reagiert, ohne die eventuell noch bestehenden Chancen zu Verhandlungen wahrzunehmen.

Marieluise Beck hingegen spricht nur von dem Versäumnis, die Ukraine nicht mit genug Waffen ausgestattet zu haben, um einen erfolgreichen Krieg gegen Russland führen zu können.

Beck: Wir müssen Putin die Eskalationsdominanz aus der Hand nehmen —

Lanz: Wie? —

Beck: — Wir dürfen nicht Angst haben —

Lanz: — Wie, indem wir selbst eskalieren?

Beck: — Indem wir stark sind —

Lanz: Sollte die Nato zum Beispiel eine Flugverbotszone durchsetzen?

Beck: Also, ich würde es mir von Herzen wünschen, nachdem ich im Kinderkrankenhaus in Kiew gesehen habe, was für Wunden diese Kinder haben. Es ist unvorstellbar, es werden ja Splitterbomben eingesetzt …

Auch Becks Partner Ralf Fücks haut weiter in die Kerbe der alternativlosen Waffenlieferung. Eine Kleinigkeit: Der Text unter dem Titelbild dieses Beitrags – »Ohne schwere Waffen kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen« – ist Fücks nicht explizit zugeordnet. Sollte er aber sein.

Einen passenden Kommentar zu der sich hier immer deutlicher offenbarenden dunklen Seite der Empathie liefert der Neuropsychologe Thomas Elbert in der FAZ am 13.04.2022:

Ich stimme der Sichtweise von Albert Einstein zu, der bereits darauf hinwies, dass es unter ungewöhnlichen Umständen leicht sein kann, die Lust an Gewalt zu einer »kollektiven Psychose zu erheben«, und zwar auf beiden Seiten. In der jetzigen Situation beunruhigt mich das sehr.

Wenn es aufgrund der Erfüllung von Forderungen nach »schweren« Waffen und der »Schließung des Himmels« zu einem Bombenhagel auf Deutschland kommen sollte (immerhin warnt Bundeskanzler Scholz offenbar nicht unbegründet vor einem Atomkrieg), helfen vielleicht diese munteren Ratschläge des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (das dem Bundesinnenministerium untersteht):


Sympathy for the devil

Bill Browder im Time Magazine am 12.04.2022: »It is now plain that Putin is evil. This is not breathless hyperbole. It is fact. He has no regard for human life, and only lusts over power and money.«

Zudem ist Stalins Geist in Putin gefahren, Gerd Koenen erklärt das in 45-minütiger Ausführlichkeit in einem Radiogespräch.

Deshalb wird er seine Krallen auch nach Alaska ausfahren:


Die Geschichte der Gegenwart kommentiert diese (wessen?) Phantomschmerzen.

Apropos ›Phantomschmerz‹: Christian Schüle, Kulturwissenschaftler und Autor essayistischer Bücher, unter anderem eines, das Heimat. Ein Phantomschmerz betitelt ist, sagt im Radio: »Wie alle ethno-nationalistischen Autokraten und Tyrannen bedient sich auch der Hobbyhistoriker Wladimir Putin aus dem selbst angelegten Vorrat reaktionärer Mythologien von Macht, Stärke und Großräumen und sieht das höchste Gut der Staatskunst keineswegs in Wohlstand und Wohlfahrt für sein eigenes Volk, sondern in der Vernichtung anderer Völker.«

Einer der Unterteufel Putins, Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow,

erläutert in einem Video-Interview am 19.04.2022 mit einer indischen Fernsehjournalistin eine Stunde lang Strategie und Motivation seiner Regierung: Rettung und Schutz der russischen Bevölkerung der Ukraine und nicht Vernichtung der Ukrainer.


Selbstverständlich erwähnt er auch die ukrainischen ›Nazis‹, darunter das real existierende Asow-Regiment, das selten in Verlautbarungen der ukrainischen Regierung vorkommt, hier jedoch schon:

Ukraine schlägt Verhandlungen mit Russland im belagerten Mariupol vor Der Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Podoljak, hatte gestern Abend Gespräche mit Russland in Mariupol vorgeschlagen, um über die Evakuierung der Soldaten auf dem Gelände des Stahlwerks zu verhandeln. Er schrieb bei Twitter, es könne eine »besondere Verhandlungsrunde« ohne Vorbedingungen in der umkämpften Hafenstadt geben. Es könnten Zweier- oder Vierergespräche geführt werden. »Damit unsere Jungs gerettet werden, das Asow-Regiment, das Militär, Zivilisten, Kinder, die Lebenden und die Verwundeten«, schrieb Podoljak. (DLF-Nachrichtenticker 21.04.2022)

Folgt man den Äußerungen des Botschafters Andrij Melnyk, so gehört auch der SPD-Politiker Sigmar Gabriel mindestens zu den Unterteufeln: Auf Twitter hier und hier.

Eins der ungelösten Rätsel der Russland-Beobachtung ist die steigende Sympathie für die Politik, auch den aktuellen Krieg, des Präsidenten Putin. Ein hier im Westen als unabhängig bezeichnetes Institut (Lewada) ermittelte in einer Umfrage einen Zustimmungswert von 83% im Monat März (Februar: 71%). Die Bewunderung einer entschlossenen kriegerischen Haltung scheint ein gängiges Phänomen zu sein: »Seit der Kaiser mit erweiterten Flottenplänen gekommen ist, hat sich seine geistige Führergewalt über das deutsche Volksdenken merkbar erhöht …« (Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik. 2. Aufl. Berlin-Schöneberg: Buchverlag der ›Hilfe‹, 1900, S. 214)

Bei westlichen Beobachtern trägt die Unterstützung der geistigen Führergewalt Putins dazu bei, dass erste Stimmen bereits von der Attacke auf den wahnsinnigen Diktator – den sie auf der Anklagebank in Den Haag schmoren sehen wollen – zur düsteren Anklage der Kollektivschuld aller Russen umschwenken.

Der Preis der Freiheit

Als ›Preis der Freiheit‹ werden meist die als notwendig oder unvermeidlich zu Schaden oder ums Leben gekommenen Opfer bezeichnet, die in einem Krieg auf der ›richtigen‹ Seite gefallen sind. Der Freiheitspreis der Weimer-Group weckt in der derzeitigen Situation und aufgrund der Wahl der diesjährigen Preisträger unweigerlich diese Assoziation.

Der Friedensnobelpreis ist es noch nicht, den ich im Teil 2 des Scrapbooks schon am Horizont leuchten sah, dafür aber dieser ›Freiheitspreis der Medien‹ der Weimer-Gruppe. Der Preis wird auf einem ›Ludwig-Erhard-Gipfel‹ verliehen – was einige Nörgler zur Nachfrage bewegen könnte, wieso ausgerechnet Ludwig Erhard für die Freiheit der Medien steht. Immerhin beschimpfte er den Dramatiker Rolf Hochhuth wegen seines Stellvertreter-Stücks als ›Pinscher‹ und vertrat das Konzept der ›formierten Gesellschaft‹, in deren Geist die Freiheit der Kritik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingeschränkt wurde. Präsident Selenskyi sei ein »charismatischer Führer« und ein »Freiheitsheld des 21. Jahrhunderts«, Swetlana Tichanowskaja ein »Symbol starker weiblicher Führung« und Marina Owsjannikowa hat, wie weltweit zu sehen war, eine Pappe in die Kamera gehalten und damit (was ich nicht ironisieren möchte) ihre Freiheit riskiert.

Owsjannikowa hat aufgrund ihres neuen Jobs bei der Welt allerdings keine gute Presse:

Ihr erster Text erscheint kurz nach Bekanntwerden ihres Engagements bei Welt am 11. April. Darin berichtet sie von den Reaktionen auf ihren Auftritt im Propagandakanal. Kurz nach dem Vorfall habe man etwa die Reifen ihres Autos zerstochen und die Batterie manipuliert, beklagt Owsjannikowas – »kleinliche Racheaktion von Polizisten«, wie sie vermutet. Ihr Schwimmclub habe ihre Mitgliedskarte gesperrt, ihr Lieferant für Hundefutter, ein glühender Anhänger Putins, habe die Lieferungen eingestellt.