André und Heiner

Hat sich schon jemand nach dem Lesen eines Ihrer Werke das Leben genommen?

MÜLLER: Nicht nach dem Lesen. Aber nach dem Ansehen einer Aufführung des Stückes ›Der Auftrag‹ in Lyon hat sich ein französischer Theaterkritiker umgebracht, angeblich am selben Abend. Allerdings hatte er sich gerade von seiner Frau getrennt, außerdem war er Kommunist. Das kann eine Rolle spielen.

Warum sagen Sie so selten die Wahrheit?

MÜLLER: Weil man zur Wahrheit die meiste Phantasie braucht. Ich bin ja kein Dokumentarist. Was ich schreibe, ist immer Dichtung und Wahrheit, eine Mischung aus Dokument und Fiktion. Ich erlebe etwas und bringe es auf eine poetische Formel, um eine Distanz zu schaffen. Wenn ich das später lese, ist es für mich wie der Text eines Toten.

– Aus der großartigen Sammlung von Interviews und Texten André Müllers. Das Interview mit Heiner Müller erschien am 14. August 1987 unter der Überschrift »Dichter müssen dumm sein« in der ZEIT.