Der Solenoid ist eine im Untergrund eines Hauses, am Schnittpunkt von Gravitationslinien auf dem Gebiet von Bukarest, installierte Maschine. Sie bringt lokal die Gravitation durcheinander und erzeugt sensorische Ereignisse jenseits des Gewohnten. Der Ich-Erzähler des Romans entdeckt sie und ihre Funktion zufällig, nachdem er das große Haus günstig erworben hatte. Per Hebeldruck ermöglicht ihm der Solenoid im Schlafzimmer, oberhalb seines Betts zu schweben (und in dieser Schwerelosigkeit auch unbeschwert Sex mit einer Kollegin zu haben). Der Erzähler wurde wie der Autor 1956 geboren und ist nach dem Scheitern eines Versuchs als Schriftsteller 1984 Mathematiklehrer an einer Schule in Bukarest.

Merkwürdig ist, dass die vielen Rezensionen des Buchs einen der Schlüssel des Romans nicht finden, obwohl er an zahlreichen Stellen erwähnt wird. Es handelt sich um die Familiengeschichte von George und Mary Boole. Die Verbindung von Mathematik, Spiritualität und Spiritismus prägte das Leben und die Arbeit des Paars, ihrer fünf Töchter und von deren Lebensgefährten. Die jüngste Tochter Ethel Lilian heiratete den polnischen Revolutionär Wilfrid Michael Voynich (eigentlich Michał Habdank-Wojnicz) und war Autorin des Romans The Gadfly, der für die Lebensgeschichte des Erzählers bedeutend war. Auch das Manuskript, das der als Antiquar reüssierende Emigrant 1912 erwarb und das bis heute aufgrund seiner Unentzifferbarkeit die Gemüter erregt, spielt eine Rolle in Cǎrtǎrescus Buch. Noch wichtiger sind die Bezüge zu den mathematisch-geometrischen Spekulationen über die vierte Dimension, die der Ehemann der ältesten Boole-Tochter Mary Ellen, Charles Hinton, und auch die Tochter Alicia Boole Stott anstellten. Sie ziehen sich durch das ganze 900-Seiten-Werk und liefern andeutungsweise Erklärungen für die mysteriösen sensorischen Erscheinungen, denen der Erzähler ausgesetzt ist.
Die erbärmlichen Lebensumstände des Securitate-Rumänien spielen in den Rückblenden (sechziger Jahre) und der erzählten Gegenwart (1984) immer wieder eine Rolle und sind mit unheimlichen Assoziationen von schmerzhaften medizinischen Anwendungen – immer wieder kommen Impfungen vor – verbunden. Der Übergang in die phantastische Sphäre der schier unerkundbaren Innenwelt einer alten Straßenbahnfabrik ist da ein Leichtes. Die ausführliche Schilderung von Verschiebungen der Wahrnehmungsdimensionen, Blindheit, Erscheinungen riesiger Insekten, bohrenden Geräuschen und Vibrationen ist voller Zumutungen an die Gefühlswelt und die Geduld der Leser. Trotzdem ist Solenoid nicht abstoßend genug, um es nicht zu Ende zu lesen. Und weiterhin auf Mircea Cǎrtǎrescu zu achten.
[Mircea Cǎrtǎrescu: Solenoid. Wien: Zsolnay, 2019]