Plattform der Erwartungen

An Helmut Heißenbüttels literatur- und musikkritischen Texten habe ich immer bewundert, dass er sich um die Herausarbeitung von positiven Aspekten der von ihm besprochenen Werke bemühte. So wurde 1984 Paul Wührs Das falsche Buch, das bei der Kritik auf Unverständnis stieß, zum »richtigen« Buch, weil in ihm eine »Summe« von Schreib- und Lebenserfahrungen steckte. Und Hubert Fichtes ethnographisch-autobiographische Texte, die bei Erscheinen oft sehr distanziert zur Kenntnis genommen wurden (»Realismus als l’art pour l’art« – Reinhard Baumgart), bevor Fichte posthum eine Karriere als »homosexueller Popliterat« machte, waren für Heißenbüttel vor allem als beispielhafte »Selbstentblößung« interessant.

Vor der Lektüre von Michael Seemanns Buch Die Macht der Plattformen habe ich mir fest vorgenommen, den H-Punkt (Heißenbüttel-Punkt) in ihm zu finden. Das ist mir von Anfang an sehr schwergefallen. Das Buch distanziert zunächst durch sein potthässliches Cover. Die 1927 von Paul Renner entworfene Futura weist nicht gerade darauf hin, dass brennend aktuelle Probleme des 21. Jahrhunderts behandelt werden. Ich habe einen Schreck bekommen, als ich las, dass der Autor dem Graphiker für dessen »wunderbare« Gestaltung dankt. Nun gut, jedenfalls legen die in Andeutung übereinander gestapelten dreidimensionalen Rechtecke auch hinter dem Autorennamen die Frage nahe, auf welchen Erkenntnissen anderer Seemann aufsetzt. Da das Buch auf einer Dissertation basiert, gibt es reichhaltige Quellennachweise, denen es sich nachzugehen lohnt.

Die Plattform-Metapher ist eine der verludertsten im neuländischen Sprachgebrauch. Sogenannte Handelsplattformen, auf denen sich Käufer und Verkäufer treffen, sind begrifflich noch hinnehmbar. Eigentlich sind es Marktplätze, aber auch der Marktbegriff mit seinen metaphorischen Wucherungen ist problematisch. Dennoch wäre der Ausdruck virtueller Marktplatz teilweise durchaus treffend, weil er das Geschehen auf den Plattformen konkreter adressiert als die Plattform. Produktionsplattformen für Kraftfahrzeuge – also die gemeinsame technische Basis für Fahrzeuge von Volkswagen, Audi, Seat, Skoda und andere – erhalten zunehmend andere Bezeichnungen, bei VW ist die frühere Plattform jetzt ein »Modularer Querbaukasten«. Seemann unternimmt weitreichende definitorische Bemühungen, aber kommt letztlich zu keinem klaren Schluss, was er als Plattform bezeichnen bzw. nicht bezeichnen möchte. Zudem fehlen Begründungen dafür, warum die ins Auge gefassten SNS (Social Network Sites), Angebots- und Handelsportale etc. überhaupt als Plattformen bezeichnet werden sollten oder sogar müssen.

Der Titel des Buchs ist ohnehin irreführend. Seemann geht es gar nicht um die Macht von Plattformen, sondern um die Macht der Unternehmen, die diese auf der einen Seite ertragreichen, auf der anderen Seite populären Gebilde gegründet haben und betreiben. Nicht der Spielsalon hat »Macht« und zieht Profit aus dem Verhalten der Spielsüchtigen, sondern dessen Betreiber. Der Plattformbegriff lenkt die Aufmerksamkeit eher auf das Geschehen zwischen Nutzern und nicht auf die Organisation des Betriebs. Insofern ist er in meinen Augen recht eigentlich überflüssig und sollte weitgehend abgeräumt werden.

Die Geschichte von Napster, einem damals manchmal als Tauschbörse bezeichneten Portal, das Zugang zu den Musik-Bibliotheken aller angeschlossenen Teilnehmer gewährte, zieht sich episodisch durch das Buch hindurch. Das könnte so gemeint sein, dass Napster eine Muster-Plattform bzw. ein Plattform-Muster darstellte: Ein Peer-to-Peer-Netzwerk, das einem klar definierbaren Zweck dient. Napsters Betreiber waren allerdings nicht imstande, die technischen, rechtlichen und ökonomischen Probleme zu lösen, die mit ihrer schnell wachsenden Einrichtung verbunden waren. Insofern bleibt das Beispiel bei Seemann in der Luft hängen.

Der Anspruch Seemanns, eine »trans«disziplinäre Plattformtheorie zu entwickeln, endet, um es ganz hart zu sagen, in einem multidisziplinären Feuilleton. Schon der durch nichts begründete und höchstens einmal durch ein Luhmann-Zitat versuchsweise legitimierte Anspruch, eine allgemeine Plattformtheorie müsse zu allen vorhandenen und denkbaren Plattformen passen, sollte eine immer wieder patchworkartig und anekdotisch vorangetriebene Darstellung von allem möglichen Plattformartigen ausschließen. Daraus besteht das Buch jedoch über weite Strecken.

An der Beschreibung des Geschehens auf den Plattformen ist – außer an der Begrifflichkeit – nicht viel auszusetzen. Plattformen ermöglichen und vereinfachen und formen »Interaktionsselektionen«. Das ist keine unerwartete Kennzeichnung, würde aber problematisch, wenn man sich die Mühe machte, jeder einzelnen der von Seemann erwähnten »Plattformen« (zum Beispiel das Sytem /360 von IBM, Uber und Twitter) in dieser Hinsicht auf den Zahn zu fühlen. Die (von Jonathan Zittrain übernommen: »Generativität«) Einflüsse von Plattformen auf Verhaltensweisen und Erwartungsstrukturen sind unbestreitbar – solche Einflüsse gingen und gehen allerdings auch von vielen Institutionen aus und erzeugen in der medialen und interpersonalen Kommunikation Vorbilder und Muster. Generativität allein medialen Einflüssen zuzusprechen, reduziert allerdings die Komplexität der Alltagskommunikation zu sehr, in der nach allen Erkenntnissen der Medienpsychologie die Face-to-face-Variante immer noch die höchste Relevanz für Entscheidungsänderungen und Verhaltensdispositionen hat.

Die »Theorie« enthält viel verbales Bling-Bling. »Das Internet ist weniger eine Medienrevolution als eine Medienrevolutionsfabrik.« Eine Speicherung ist eine »Erwartungserwartung«. Hinzu kommen Kalauer wie »Die Welt wird zu einer Google« – die vielleicht ein Kitzel für den Doktorvater Pörksen sind, nicht aber für mich.

Leserinnen und Leser bekommen Schnipsel aus der Mediengeschichte geboten, wie etwas über das Selbstwahlverfahren in der Telephonie oder über die Datenbank-Abfrage per SQL. Auch dabei gibt es dann abgehobene Wortkaskaden wie diesen Satz: »Diensteplattformen sind somit invertierte, automatisierte Plattformfabriken. Je mächtiger die Query-Technologien werden, desto komplexere Erwartungserwartungen lassen sich als Selektionsselektionen automatisieren.« An dieser Stelle wollte ich das Buch eigentlich schon schließen, nach erst 17% bewältigten Texts.

Ich könnte endlos weiterklagen, über Oberflächlichkeiten, Beliebigkeiten, Stilblüten und irrelevante Abschweifungen.

Lieber möchte ich jedoch zum »H-Punkt« kommen. Dieser ist für mich eindeutig die ausführliche Behandlung der Graph-Aneignung, von Seemann Graphnahme genannt, um verzichtbarerweise auf Carl Schmitts Landnahme (im Nomos der Erde) anzuspielen. Verzichtbar, weil »Aneignung« mir treffender erscheint als »Nahme«, da beim Nehmen das möglicherweise freiwillige Geben mitgedacht wird, bei der Aneignung jedoch der unzivile Akt des Diebstahls zumindest mit adressiert ist. Zudem kommt die Auseinandersetzung mit Schmitt über ein paar Sätze aus dem »Best of Schmitt«-Zitatenschatz nicht hinaus (sozusagen unvermeidlich: auch der Satz über den Ausnahmezustand wird hervorgekramt), obwohl sie gerade im Hinblick auf das durch die Praktiken der Plattform-Unternehmen in Bewegung geratene Verhältnis von Gewalt und Recht mehr Raum verdient hätte.

Die Ordnung des Plattformbetriebs durch die Auswertung umfassender Daten aller ihrer Nutzer und deren Kommunikationen (zumindest auf einer nicht-semantischen Ebene), also die graphengesteuerte Politik dieser Plattform, ist das Thema, bei dem Seemann mich gewinnt. Auch wenn er hier viel Anekdotisches verbreitet und sich nicht die Mühe einer stärkeren Systematisierung macht, die seinen Theorie-Anspruch erfüllen würde, ist für mich das Kapitel über »Strategien der Graphnahme« das Zentrum seiner Arbeit, über das sich weiter nachzudenken lohnt.

Die dann noch folgenden Kapitel über Plattformpolitik und die politische Ökonomie sind trotz der vielversprechenden Überschriften wieder anekdotisch basiertes medienwissenschaftliches Feuilleton im Pörksen-Style.

Die in einem Epilog enthaltenen zehn Prognosen zur Entwicklung von Plattformpolitiken bieten keine Überraschung (Zentralisierung von Podcast-Angeboten, Kampf um die Dominanz in der Unterhaltungsbranche, ideologische Ausdifferenzierung von Plattformen, Nationalisierungsbestrebungen im Netz usw.). Eine Ausnahme bildet die zehnte Prognose: Das Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie. Dort findet sich der Satz: »Die repräsentative Demokratie braucht repräsentative Medien.« Die Öffentlichkeit und ihre Medien sind seit dem Absolutismus erfreulicherweise nicht mehr repräsentativ verfasst, und das gilt auch für die verfassten Zustände der aktuellen deutschen Republik. Bestenfalls »repräsentieren« Medien – und darauf spielt Seemann auch an – Tendenzen und Stimmungen der Bürger und Konsumenten – wobei die »privaten« Medien in Deutschland unter dem Tendenzschutz, den sie genießen, das auch dürfen und sollen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht, der soll das ganze Bild liefern, ohne eine einzelne Tendenz zu repräsentieren. Dass die inzwischen für die politische und kulturelle Kommunikation relevanten Netzmedien Unruhe in die Ordnung überschaubarer Tendenzen und Positionen bringen und fluktuierende Stimmungen abbilden, ist für massenmedial Sozialisierte schwer erträglich, wie auch am Regulierungsdiskurs der Medienpolitik zu beobachten ist. Forderungen nach »Disziplinierung der Algorithmen«, und das womöglich von Staats wegen, sind aufgetaucht und werden von Seemann (der das Schlagwort erwähnt) leider nicht zurückgewiesen.

Fazit: Die Arbeit enthält viele wissenswerte und unterhaltsame Details, wird dem Anspruch einer »Theorie« der Plattform nicht gerecht, aber: Kapitel Fünf!