Gipfelfetischismus

Der Blick vom Gipfel als Medium der Befreiung des Geistes – eine romantische Phantasie des noch nicht emanzipierten Bürgertums. Viel besser gefällt mir die aristokratische Praxis von alpinistischen Reisenden, die sich auf Passhöhen die Augen verbinden ließen. Die Aufladung der Höhe – von »oben« und »unten« – mit Bedeutung hat mehrere Quellen. Die griechischen Götter wohnten auf dem Olymp, und Moses brachte die Gesetzestafeln vom Berg Sinai herunter. Moderne Organigramme setzen diese religiöse Metaphorik fort. Hierarchien wurden allerdings schon von den Physiokraten als ungeeignete Organisations- und Darstellungsform der Naturaneignung kritisiert. Neuerdings werden in Managementmodellen Organisationspyramiden durch kreisförmige Darstellungen von Holokratien ersetzt. Zeit also, die Frage, warum Menschen auf Gipfel steigen sollten, ernsthaft zu reflektieren. Bewunderer von Freakshows und der Bergsteigerei sind da keine guten Gesprächspartner.


Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination. Aus dem Englischen von Gaby Funk. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021