»Zeitgenössisch«
Die deutsche Literaturwissenschaft ist seit den Diskursturbulenzen in den 1980er Jahren ebenso wie der Literaturmarkt still und heimlich wieder zu den Standards des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgekehrt – content over form, platter Realismus, Warten auf den »großen Roman«, dazu Agonie der Literaturkritik und ihre Ersetzung durch »literarisches Leben«.
Kennzeichnend dafür ist die offenbar ernstgemeinte Problematisierung der Gegenwarts-Adäquatheit literarischer Prosa. Fehlt ihr diese Eigenschaft, wenn sie in den 1990er Jahren nicht die Vereinigung von BRD und DDR thematisiert und heute nicht die Covid-19-Pandemie? Gibt es keine anderen Kriterien für Gegenwärtigkeit als solche Bezüge zur politischen und kulturellen Umwelt der Schreibenden? Die im Zitat von Johannes Franzen angeführten »historischen Marker« lassen sich bestimmt für quantitative Inhaltsanalysen codieren, sind aber noch lange keine Belege für die Gegenwärtigkeit von Texten oder der Geistesverfassung von Autorinnen und Autoren. Die aktuelle Bearbeitung irgendeines sprachlichen Materials – das aus der Mündlichkeit, aus Dokumenten, aus der Phantasie oder aus purer Berechnung entsprungen sein mag – liefert weitaus mehr Optionen zur Bestimmung der Zeitgenossenschaft als Franzen offenbar wahrhaben will. Der Gedanke, dass die Umwelt selbst, quasi ein Wurmloch durchquerend und die Dimension wechselnd, durch ihre nunmehrige Anwesenheit im Text dessen Gegenwärtigkeit zertifiziert, ist hochgradig mystizistisch. Prosa, in der nichtrauchende Smartphone-User figurieren, die sich vor virengeschwängerten Aerosolen durch FFP2-Masken schützen und im Gespräch Erinnerungen über einstürzende Doppeltürme austauschen – ist weiter von der Gegenwart entfernt, als sie selbst wahrhaben möchte. Und eine Literaturwissenschaft, die nach solchen »Markern« sucht, hat schon abgedankt.
Artikelauszug: Johannes Franzen Autonomie, bloß wie? Es ist schwierig, keinen Zeitroman zu schreiben FAZ 15.09.2021