Alphabet für Wolfgang Hagen
Apple. Das Apple-Universum ist Freunden und Schülern von Friedrich Kittler und auch Anhängern „freier“ Software meist suspekt, obwohl viele von ihnen es als akademischen Quasi-Standard akzeptieren. Die mangelnde Offenheit von Hard- und Software und die Unterwerfung aller Kundenwünsche unter ein weltumspannendes Marketingdiktat genügten lange als Argumente – auch gegen die Faszination an gelegentlichen Innovationen und vor allem am Produktdesign. WH adaptierte Mac und iPhone für sich erst spät – und dann auch, um deren Benutzeroberflächen auf ihre synästhetischen Eigenschaften hin zu untersuchen. Ein wenig mag mitgeholfen haben, dass er mit der Apple Watch seinen aktuellen Herzschlag an die meist ferne Gefährtin übermitteln kann.
Bach. In WHs Schriften ist nichts über über Johann Sebastian Bach zu finden. Das ist verwunderlich, denn er spielte über Jahre auf Tasteninstrumenten kaum ein Stück anderer Komponisten. Es kann vermutet werden, dass Bachs Musik einen Ordnungsüberschuss erzeugt, der beim Arrangement komplexer beruflicher und privater Verhältnisse nützlich ist.
Cage. „Continuity today, when it is necessary, is a demonstration of disinterestedness“. Zumindest dieser Devise von John Cage aus der Lecture on Nothing folgte WH. Dass er sich bei der Wahl seiner Themen so vom Zufall leiten ließ wie Cage, der aus den Fliegenschissen auf einem Notenblatt ein Musikstück machte, wird er selbst bestreiten.
Dr. Nox. (Vorname nicht überliefert). Bremer Musikologe und Pharmazeut. Er spielte schwarze Musik und User Generated Content. Für eine spätabendliche Community war er die Stimme eines akustischen „Survival Research Lab“. Nahm sie mit auf eine „Eroberungsfahrt, die das aufdecken will, was sie als Ereignis mit sich bringt.“ (—> Leo G. Wahnfangg).
Euroscript. «MZ10,hans»«MZ20,otto»«MA10,«ET10»+«ET20»» Der Inhalt des Textbausteins 20 wird dem Inhalt des Textbaustein 10 angefügt. Die Variable 10 hat jetzt den Wert „hansotto“.
Aus den teilweise undokumentierten Makrofunktionen, genannt „Anwenderprogrammierung“, des DOS-Textprogramms Euroscript entstand die erste Version des Musikauswahlprogramms der Radiowelle Bremen Vier. Es war die umständlichste und unzuverlässigste Option zur Bewältigung der vorgesehenen Aufgaben. Aber sie funktionierte eine Weile – und der hypnotische Sog des Programmierens setzte ein.
Feynman. Keiner der beim Abfall von den Geisteswissenschaften wirkenden großen Idole – Freud, Lacan, Foucault, Heidegger, Husserl, Turing, Shannon, von Neumann, Wiener (wer fehlt? Kerninghan? Innis?) – scheint eine so kontinuierliche und nachhaltige Resonanz in den Arbeiten WHs zu finden wie Richard Feynman. Zumindest sind es die grundlegenden Themen der modernen Physik, die Feynman in den 1960er Jahren abgehandelt hat, die immer wieder, auch an unerwartbaren Stellen, von WH aufgerufen werden. Sei es ein Vortrag zur Buchgeschichte oder einer über Smartphone-Photographie – ohne einen Hinweis auf die Quantentheorie (oder ihre Unvereinbarkeit mit der Relativitätstheorie) werden die Zuhörer nicht in die Freizeit entlassen.
Geschichte der Rundfunkwissenschaft. Sie beginnt in Deutschland zumindest unter dieser Bezeichnung mit Friedrich-Karl Roedemeyer und einem Institut in Freiburg 1939. Roedemeyer griff 1930 als Frankfurter Lektor für Vortragskunst Nietzsches Klage darüber auf, dass es in Deutschland an einem „natürlichen Boden“ für die mündliche Rede und ihre Ausbildung fehle und beklagte den Mangel an „absichtsloser Natürlichkeit“ der deutschen Radiostimmen. Seine spätere Rundfunkwissenschaft basierte ganz auf dem Erlebnis des Radiohörens. Nach WH gründet diese Freiburger Medienwissenschaft in den techno-okkulten Tendenzen, die seit Madame Blavatsky die Entwicklung der technischen Medien in Europa begleiteten und auch 1945 nicht abrupt endeten. Für die nationalsozialistischen Rundfunkwissenschaftler gipfelte die Performance des Mediums in der Formung der Volksgemeinschaft durch die Stimme des Führers. Diese Huldigung starker Medieneffekte, für die es keinen empirischen Beleg gibt, kehrte sich um in Furcht vor der Verführungskraft von Medien, von der verfassungsrichterlich imaginierten „Suggestivkraft“ des Fernsehens bis zur „Verstörung durch Vernetzung“ des Medienfeuilletonisten Pörksen. Allerdings setzte sich WH durchaus praktisch mit dem von Roedemeyer adressierten Circulus von schlechtem Sprechen und schlechtem Hören auseinander und schickte Radioanfänger mit ihren kleinen Manuskripten für Stunden zu einem erfahrenen Tonmeister ins Aufnahmestudio, um das Geschreibe sprechen und abhören zu lernen. —> Spiritismus
Helvetica. „When using Helvetica you’re never wrong, but also never right.“ Eine subliminale Spätwirkung der Mitarbeit im —> Merve Verlag ist die lebenslange Präferenz WHs für die engzeilig gesetzte Helvetica. Sie prägt auch den Satz und die schlechte Lesbarkeit der meisten Merve-Verlagsprodukte. In den Jahren der Gefangenschaft im walled garden Redmonds meinte WH bei der zumindest auf Papier durch und durch lesefeindlichen Arial Zuflucht nehmen zu müssen, die bislang am sinnvollsten zur Beschriftung von Inflationsgeld (in Zimbabwe) eingesetzt wurde. Sollte er sich gefragt haben, warum seinen Manuskripten seit 2013 mit graduell größerer Aufmerksamkeit und Sympathie begegnet wird, bietet sich die Abkehr von der Arial als Antwort an. Immerhin, es war nicht die Schriftart des Kinderschänders Eric Gill.
Impuls Verlag. Bremer Verlagsinstitut, dem Wunsch eher verbunden als der Ökonomie, und dabei so dionysisch ausgerichtet, dass die Großbuchstaben seiner Publikationen meist einen Punkt über der Grundlinie schwebten. —> Römer —> Jimmy
Jimmy. Resident DJ im —> Römer —> Vier —> Impuls Verlag.
Kleve. Niederrheinische Kleinstadt, an deren Gymnasium 1966 bis 1968 keine Schülerrevolten stattfanden, sondern Kammermusik betrieben wurde, mit WH an der zweiten(!) Geige(!). „Die Mysterien beginnen am Hauptbahnhof“ – diesen Satz kann der Klever Spiritist Josef Beuys nicht auf seine Heimatstadt gemünzt haben, denn sie hat keinen Hauptbahnhof. Bis in die 1970er Jahre hinein war Kleve bekannt für die Schuhfabrikation in vielen kleinen Fabriken und Manufakturen. Als WH ein Kind war, trugen Gleichaltrige in ganz West-Deutschland Elefantenschuhe aus Kleve. Zu seinem mütterlichen Erbe gehörte die Schuhfabrik Bernhard Rave/Wilhelm Rogmann. Mit dem demographischen Wandel („Pillenknick“) war dann die Ära der „Kleefer Schüsterkes“ zuende.
Lamprecht. Helmut Lamprecht war einer der einflussreichen Intellektuellen, die in den Kulturprogrammen des westdeutschen Radios wirkten, ein Brückenkopf der Kritischen Theorie im universitätslosen Bremen vor 1970. Für WH war er ein Gesprächspartner und in Radiodingen Mentor und Ermöglicher.
Merve Verlag. WH arbeitete in der Sponti-Phase des Verlages mit, als er noch A5-Heftchen mit dem Serientitel „Internationale Marxistische Diskussion“ und gelegentlich großformatige Sonderpublikationen verbreitete. Zu diesen gehörte das 1982 erschienene sogenannte Bangkok-Projekt mit dem Titel „Über das Nomadische“ (IMD 106). Darin findet sich der Beitrag von —> Leo G. Wahnfangg: Wie Nomaden reisen. „Weiter treibt, rennt und rast, wen kein Staat bindet.“ —> Helvetica
Nim. Die Macht der Algorithmen ließ WH bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre abendliche Besucher spüren, indem er ihnen die Daumenschrauben des Minimax-Algorithmus ansetzte – in Gestalt einer mit —> Turbo-Pascal nachprogrammierten Version von Nim. Zur Entlastung der Besucher, die sich mehrfach übertölpeln lassen mussten, wurden spieltheoretische Lesefrüchte – von Neumann und Morgenstern –, sowie süße Backwaren und Beck’s Biere verabreicht.
Ontologie. Die meistgebrauchte Vorhaltung WHs gegen metaphysische Positionen in Philosophie und Medientheorie. Whitehead, Stengers, Prigogine, Deleuze, Latour, Haraway und auch die Vertreter einer technologischen Wesensschau, einschließlich neuerer praxeologischer Obskuranten aus der Siegener Medienwissenschaft, werden unnachsichtig als Ontologen vorgeführt. Gerade weil die moderne Physik neben dem ontologischen Status der Natur auch das von ihr bis vor 100 Jahren beanspruchte „Rationalitätskontinuum“ aufgegeben hat, muss die Rationalität von punktuellen Analysen und Interventionen immer wieder erstritten werden. Der von WH in diesem Zusammenhang gern verwendete editionsphilologische Begriff der Konjektur legt allerdings nahe, dass in ihm noch ein Rest von Sehnsucht danach existiert, der Urtext könne erschlossen werden.
Pauli. Dass der Pauli-Effekt und das Pauli-Prinzip gleichermaßen auf Wolfgang Pauli, den mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Quantentheoretiker zurückgehen, ist eine schöne Bestätigung der These WHs über die spiritistische Fundierung der modernen Physik. —> Spiritismus —> Quantenmechanik
Quantenmechanik. WH wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass seit 1947/48, als Shockley den Transistor entwickelte, die industrielle Anwendung der Quantenmechanik die Welt beherrscht. Shockleys Werk „Electrons and holes in semiconductors, with applications to transistor electronics“ und natürlich auch Feynmans Ausführungen über freie Löcher, die sich in Kristallen bewegen, inspirierten ihn zum Plan eines Buchs „Das Loch“, das er seinen Lesern allerdings seit einigen Jahren schuldig bleibt.
Römer. Eine Schnittstelle von libidinöser und diskursiver Formation (Lyotard) auf Bremer Territorium. In WHs Biographie ein entspanntes Experimentierfeld zwischen SFBeat und —> Vier. Die Destruktivkraft eines geräuschempfindlichen marxistischen Kulturwissenschaftlers hätte 1982 fast die Umwandlung des Etablissements in eine muslimische Gebetsstätte bewirkt. Einige Jahre nach der erfolgreichen Abwehr dieser Attacke verlor der Ort seinen Zauber, Libido und Diskurs verflüchtigten sich, und man wünschte sich, sie hätte Erfolg gehabt.
Spiritismus. Eine frühe Entdeckung WHs, in der er möglicherweise eine der vielen Nebenbemerkungen Friedrich Kittlers aufnahm, ist die spiritistische Fundierung der Wissenschaften und Künste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gedankenübertragung, die Freud mit seiner Tochter und seinem Freund Ferenczi zu erwecken versuchten, geisterte noch in technischen Artikeln des Radiopioniers Manfred von Ardenne 1928 herum. Spiritistisch – darauf weist WH in einem heiteren wissenschaftshistorischen Beitrag hin – mutet auch das aktuell umlaufende „anthropische Prinzip“ in der Physik an, das in manchen Varianten mit einer „Noosphäre“ kombiniert wird, einer auf den gesamten Kosmos ausgeweiteten Wikipedia.
Turbo-Pascal. Die schönste Programmiersprache der Welt. WH bemerkte aber, dass das Diktum des Urhebers dieser Sprache, Niklaus Wirth, „that software is getting slower more rapidly than hardware becomes faster“ vor allem auch auf Anwendungen mit Pascal zutraf. Die C-Sprachen erwiesen sich als effizienter.
Universität. Es ist eine lange Eroberungsfahrt. Der Abfall von den Geisteswissenschaften wurde in einem Medium ohne schriftliche Überlieferung, im Tonstudio und am Turbo-Pascal-Editor bereits vollzogen, während andere von Politiken des Subjekts gegenüber den Materialien schwärmten, ohne auch nur eine ungefähre Vorstellung von deren Materialität zu haben. WHs never ending tour ist mit einem institutionell verankerten Lehrstuhl nicht vereinbar, sie findet auf einem mobilen Multifunktionssitz statt.
Vier. „Ich sag Bremen – du sagst Vier.“ Die erste junge Welle im öffentlich-rechtlichen Hörfunk war eine Reaktion auf die Einführung des „dualen Systems“ und mit einer Kette von Pioniertaten verbunden: Selbstfahrerstudio, Computereinsatz für die Musikauswahl, Live-Chat im Internet. Innovatoren haben es immer schwer, Freunde in den eigenen Reihen zu finden. Eine Moderatorin blickt auf die Gründungsphase zurück: „Unvergesslich die Konferenzen, in der Anfangszeit Plenum genannt. Alle mussten kommen. Dann hat der Chef eine neue Programmveränderung vorgeschlagen und sie zur Diskussion gestellt. Zwei Stunden lang sind wir gemeinsam dagegen Sturm gelaufen, mit leidenschaftlich vorgetragenen Argumenten. Danach hat der Chef beschlossen, dass sein Vorschlag ab sofort gilt und umgesetzt wird. Und damit war die Konferenz beendet.“
Wahnfangg, Leo G. Niederrheinischer Organist und Zoroastrier. Sein Hauptwerk Wie Nomaden reisen erlebte 1983 und 2001 durch Gottfried von Einem gleich zweimal eine akustisch-szenische Bearbeitung und Aufführung. Als Spätwirkung des Werks kann die zunehmende Verbreitung des mobilen Un/behaustseins im akademischen Lüneburg gelten. Sein Lebensmotto: „Die wirklichen Reisen sind solche ohne Ziel“.
Xanten. Von —> Kleve 29 Kilometer entfernt, auch schon zur Zeit des Drachentöters Siegfried, dessen Geburtsort Xanten war. Walter Seitter lässt es in seinen bei —> Merve erschienenen Vorlesungen über die politische Geographie der Nibelungen auch als möglichen Geburtsort Hagens (von Tronje) gelten. An Kleve reichten seine assoziativen Gedankenspiele 1986 nicht heran.
Zeitunglesen. … des Morgens früh. Hegels „realistischer Morgensegen“ brachte WH und den Autor dieses Alphabets zusammen.
Aus der Festschrift zu Wolfgang Hagens 70. Geburtstag: Klaut, Manuela; Pias, Claus; Schnödl, Gottfried (Hg.): Stimmen hören. Berlin: ciconia ciconia, 2020, S. 317–323