Sonnenuntergänge

Die Kuratorin der Ausstellung in der Bremer Kunsthalle begründet die Wahl des Themas – oder Motivs? – erzähltheoretisch: Der bei uns so genannte Sonnenuntergang verweist auf des Tages Anfang – Mitte – Ende. Dabei ist das Ende visuell eine Wiederholung des Anfangs. Beim Rückwärtsabspielen ist ein Unterschied kaum erkennbar. Annett Reckert assoziiert dann ein wenig: Dieses Tagesende »kann eine Phase intensiver Reflexionen und Bestandsaufnahme sein« (zitiert aus dem Katalog S. 201). Ein Ereignis, ein »letzter Akt« ist ein Sonnenuntergang allerdings nur für assoziationsbereite Beobachter. Auch die Anknüpfung an unsere Zeitläufte, in denen der »Untergang« populär geworden sei, muss man nicht mitmachen. Klimawandel, eine bedrohliche Kriegsbeteiligung, beklemmender sozialer Druck – das liefert gewiss genügend Stoff für »Memento mori«, aber nicht unbedingt für den Sonnenuntergang als verbindendes Symbol. Wir kennen seit dem Biedermeier den friedlich stimmenden Abendsonnenschein, und die in der Ausstellung gezeigten Bilder vermitteln überwiegend keine Endzeit-Botschaften. Ein kleiner Teil von ihnen dramatisiert das atmosphärische Farbspiel, das vor allem im Gebirge und an Küsten beobachtet werden kann, die meisten anderen sind ganz undramatisch und verwenden das Motiv oft nur als Hintergrund, der das Bild und die Perspektive stabilisiert.

Beim Betreten der Ausstellung wird schnell klar, dass die Besucher zu Opfern einer kuratorischen Zwangsvorstellung gemacht werden sollen. In neodadaistischer Manier sind die Bilder bloßes Material des Konzepts. Die Kuratorin ist die eigentliche Künstlerin, und die Lieferanten des Materials – sofern sie noch leben – haben sich offenbar nicht gewehrt. Die Bilder sind dicht nebeneinander gehängt und vertikal so verschoben, dass die auf ihnen erkennbare Horizontlinie auf derselben Höhe liegt. Das bedingt dann den schrägen Gag, der bei der Hängung mit dem Holzschnitt von Josef Weisz angestellt wird, wobei der Horizont dort wohl eher den Eingang zur Hölle zu markieren scheint und von einem Sonnenuntergang nichts zu sehen ist. Das Framing des Konzepts bewirkt oder begünstigt eine registrierende Bildwahrnehmung, die nur dem Motiv Sonnenuntergang gewidmet ist und nicht dem Bildganzen. Der Entstehungszusammenhang, die verwendeten Techniken und die tatsächlichen Themen (»Sonnenuntergang« ist es in den seltensten Fällen) bleiben so außer Acht; zumindest wird eine produktive Auseinandersetzung mit diesen Faktoren erschwert.

Drei zwischen 1938 und 1945 entstandene Aquarelle Emil Noldes sind unkommentiert in die Präsentation eingereiht. Das ist angesichts der Diskussionen über das NSDAP-Mitglied ungewöhnlich.

Thomas Weinberger: schön. 54 sunsets.

Es gibt 20, 30 Bilder, die in meinen Augen eine eingehendere Befassung verdienen (ich gehe also noch einmal oder mehrmals hin). Aus dem Bestand der Kunsthalle stammen einige japanische Farbholzschnitte von Utagawa Hiroshige und anderen. Von den Jüngeren gefällt mir ein großer Öl/Acryl-Fächer von Marina Schulze und der Desktop Horizon von Johanna Jaeger. Jäger zeigt auf einer kleinen Serie von Prints den Lichtschein einer Leuchte hinter dem Horizont einer Schreibtischplatte. Die 54 Inkjet-Prints von Thomas Weinberger verdienen eine Erwähnung eigentlich nur wegen der Geduld des Photographen und weil sie so ziemlich das einzige Werk sind, das tatsächlich Sonnenuntergänge thematisiert. Ehrfurchtgebietend ist das Entrée der Ausstellung (Stardust 6). Es stammt von Marikke Heinz-Hoek und basiert auf Bildern von Galaxien und Gaswolken, die vom Hubble-Teleskop aufgenommen und mit einer ostfriesischen Landschaft über-zeichnet wurden. Milliarden von Sonnen, die noch Milliarden Jahre auf ihren Untergang warten.


Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne. Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, noch bis 02.04.2023. Katalog erschienen bei Hatje Cantz kostet in der Kunsthalle 28, im Buchhandel 34 Euro.