Klassenunterschiede

Betrachtet man die Biografie meiner Mutter genauer, wird plausibel, warum eine Frau wie sie sich nicht dem Klassenkampf, den großen geschichtsphilosophischen Deutungen des Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie verschrieben hat: Sie hatte zu viel zu tun. Man wird nicht zum Subjekt der Revolution, während man schmutzige Windeln in einem Kochtopf auskocht, in einem Plattenwerk Buch über die sozialistische Produktion führt oder Schweine in Hälften teilt. Meine Mutter träumte nicht vom Klassenkampf. Wäsche von fünf Personen zu schleudern war struggle genug. (22/23)

Hobrack versucht, eine Synthese von feministischer und Klassenperspektive herzustellen. Sie macht darauf aufmerksam, dass Arbeiterinnen und Frauen aus der Mittelschicht nicht unbedingt in einem Boot sitzen. Besonders interessant ist die Erfahrung, die sie aus der DDR-Sozialisation mitbringt. Sie ist zwar 1986 geboren, aber bezieht nicht nur ihre eigene Nach-Wende-Perspektive in ihre Erzählung ein, sondern vor allem die ihrer Mutter. Die DDR »schenkte« den Frauen Gleichberechtigung und Entlastungen durch Kinderkrippen, weil sie ihre Arbeitskraft in den Betrieben brauchte, und zwar für alle Arten von Arbeit. Dafür wurde dann mit tertiärer Bildung geknausert – es wurde nur eine gewisse Anzahl von Hochgebildeten benötigt, aber eine große Masse an einfachen Arbeitskräften. Vergleichbare Tätigkeiten wurden im Westen zunehmend von Zuwanderern ausgeübt. Ein weiterer spezifischer DDR-Aspekt ist, dass der Heiratsmarkt kaum Chancen zum sozialen Aufstieg bot, da es in der Gesellschaft kaum Aufstiegschancen gab, von den Hierarchien in den Partei- und Staatsbürokratien einmal abgesehen.

Die DDR-Sozialisation scheint es zu sein, die eine produktive Sicht auf die Konzepte von Klasse, Identität, Patriarchat gefördert hat. Insofern ist der Text auch unter dem Gesichtspunkt spannend, dass er Einblicke in eine für Bewohner des deutschen Westens weitgehend verborgen gebliebene Lebenswelt gewährt.

Immer orientiert an ihrer eigenen Biographie und der ihrer Mutter, bringt Marlen Hobrack Bewegung in die Diskussion über Klassen- und Identitätsverhältnisse im aktuellen Deutschland. Ihre eigene Position kommt sehr gut in einem von ihr wiedergegebenen Satz von Emma Dabiri zum Ausdruck: »Vermutlich wird ein weißer Arbeiter nicht verstehen, wie es sich anfühlt, eine Schwarze Arbeiterin zu sein, aber er versteht, was eine Zehn-Stunden-Schicht bedeutet. Und darauf kommt es an.«

Die im Untertitel des Buchs Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet enthaltene Andeutung einer Verallgemeinerung über das Anekdotisch-Biographische hinaus kann sie allerdings nicht einlösen. Das ist auch gar nicht nötig, Stoff zum Nachdenken liefert sie auf 200 Seiten genug.


Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Berlin: Hanser, 2022.
Emma Dabiri: Was weiße Menschen jetzt tun können. Von ›Allyship‹ zu echter Koalition. Berlin: Ullstein, 2022.