Werk und Werken

Von Carlos Spoerhase & Steffen Martus: Geistesarbeit war ich nicht übermäßig angetan. Mir gefällt die »praxeologische« Sichtweise der Autoren nicht. Vielmehr: nicht die Sichtweise, aber deren ausführliche Darlegung, die weitgehend auf die Nennung und Aufzählung von Trivialitäten hinausläuft. Bachelard und Latour haben für verschiedene Naturwissenschaften gezeigt, welchen Einfluss das Labor, die Werkzeuge, die experimentellen Prozeduren und institutionellen Rituale auf die wissenschaftlichen Erkenntnis haben. Eine vergleichbare Sicht wird nun auf die literaturwissenschaftliche Praxis geworfen, um die Hervorbringung ihrer Resultate verständlich zu machen. Das finde ich nur in Maßen interessant. Spoerhase & Martus haben daraus ein geradezu unmäßiges Buch gemacht und werfen auf 600 Seiten Blicke auf die Entstehungsprozesse von Werken Peter Szondis und Friedrich Sengles. Da es im Buch einige Referenzen auf ein früher erschienenes gibt, an denen Spoerhase ebenfalls beteiligt war, habe ich es mir angesehen.

Das Werk enthält 19 Beiträge, die sich um die Fragestellung gruppieren: »Welche paratextuellen, institutionellen, autorintentionalen, formalen und inhaltlichen Kriterien muss ein Text erfüllen, damit ihm ein Werkstatus zugeschrieben wird?« (17) Werk kann dabei Opus sein (Einzelwerk), Werkausgabe (Œuvre) oder auch Gesamtwerk (Patrimonium). Die verlegerische Werkkonstitution, so legen die Herausgeber in ihrer erhellenden Einleitung dar, hat einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf literaturwissenschaftliche Lektürepraktiken und Interpretationsverfahren – und selbstverständlich auch auf den Markt oder den Kanon. Schön gesagt: »Das ›Werk‹ erweist sich … als ein historisch etabliertes Modell, die sozialen Praxiszusammenhänge einer ›vergesellschafteten‹ Textualität zu arrangieren und zu regulieren« (19). Andererseits hängt am Werkbegriff die Gefahr der Idealisierung der Autorschaft und ihrer Hervorbringungen. Der Band setzt an der kritischen Einsicht an, dass das »biblionome Zeitalter«, von dem Ivan Illich 1991 sprach (Im Weinberg der Texte), allmählich zu Ende geht und daher auch die Buchform der Werkkonzeption an Überzeugungskraft verliert. Andererseits sollten phantasielose Experimente wie Code Poetry, Hypertext-Literatur, Interactive Fiction, Handy-Romane, Instapoetry und Twitteratur nicht so wichtig gemacht werden, wie die Herausgeber es tun. Behauptungen wie die, dass sich die Grenzen von privatem und öffentlichem Schreiben auflösten, sind haltlos. Es mag ja sein, dass ein Großteil aller Texte netzöffentlich erscheint (6), aber diese Texte bilden eher eine neue Zwischen-Schicht zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre als deren Grenzen aufzulösen. Alles Digitale = öffentlich? Auch die »performative Wende«, die aus den Interaktionsmöglichkeiten in digitalen Medien abgeleitet wird, scheint mir eine bodenlose Übertreibung zu sein.

Die Erzeugung unikaler Texte ist keineswegs erst durch die Print-on-demand-Technik gegeben, wie die Herausgeber meinen, sie wurde schon früher praktiziert, zum Beispiel vom Verlag Klaus Ramm, der 1984 x verschiedene Exemplare von Hartmut Geerkens holunder herstellte (ich habe zwei im Regal).

Den Beitrag zu paratextuellen Aspekten (Alexander Starre) habe ich gern gelesen, auch den von Andrea Albrecht über die Werkkonzeptionen bei Georg Lukács.

Ganz und gar nicht befriedigend ist der abschließende Beitrag von Annette Gilbert über die »Zukünfte« des Werks. Es ist einer der Versuche, Epochengrenzen mit irgendeinem einem Vokabular zu beschreiben, in dem auf jeden Fall ein »post-« vorkommt. Wie kann also »Bedeutungserzeugung« in »Postproduktionen« geschehen? Was soll das überhaupt sein? Bedeutungen erzeugen doch wohl die Rezipienten, nicht die Produzenten, ob Post- oder nicht. Gilbert stützt sich auf Ansätze, die auf den Reproduktions-Charakter (Remake, Kopie, Weiterverarbeitung von Vorhandenem) von Werken abheben und ein angeblich neues Konzept von Originalität und Kreativität belegen (496). Die seit den 1940er Jahren in verschiedenen künstlerischen und literarischen Gattungen entstandenen experimentellen Formen – vom Cut Up über Conceptual Writing bis zur Aleatorik – bilden einen reichhaltigen Fundus, dem Gilberts »Post« eigentlich nichts Neues hinzufügen kann. Was ist »Kuratieren« anderes als Collagieren? Kennen wir »infinites Schreiben« nicht seit den spiritistischen Sitzungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (oder seit Gertrude Stein)? Aufgescheucht durch digitale Techniken und die durch sie beeinflussten Ideen und Hervorbringungen sollten sich Literaturwissenschaftler_innen vielleicht ein paar Jahre Zeit lassen, bevor sie Erscheinungen für grundstürzend neu erklären (Twitteratur u. ä.), die schon nach kurzer Zeit ihre Banalität offenbaren und zu Recht vergessen werden. »Das literarische Leben der Gegenwart« (543) bestimmen sie jedenfalls nicht.


Lutz Danneberg; Annette Gilbert; Carlos Spoerhase (Hrsg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2019.

Carlos Spoerhase; Steffen Martus: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2022.