Dieses Buch kaufte ich im Sommer 1982 und las es zu einem großen Teil. In Gesprächen ging es immer wieder um die Leseanweisung, die der Autor als »Wegweiser« dem Roman voranstellt.

Es waren die Jahre, in denen ich mich intensiv mit den Konkreten beschäftigte. Franz Mon, Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, Oskar Pastior, Reinhard Priessnitz und weitere Sprachskeptiker und Experimentelle zog ich den im 19. Jahrhundert verhafteten Schematikern und Moralisten vor. Deren Content-over-form-bias, Bedeutungs-Geraune und angeblicher Realismus stießen mich ab. Etwas Nouveau Roman kannte ich ebenfalls, auch zufällig einige Bücher von Oulipisten. Eins ihrer Häupter, Jacques Roubaud, folgte 1983 meiner Einladung (via Institut Français) nach Bremen zu einem Poesie-Festival. Der Kanon der experimentellen Moderne erweiterte sich auch in die Literaturgeschichte – Gertrude Stein, Finnegan’s Wake – und in andere Kunstformen, für mich vor allem Neue Musik und ein wenig Jazz. Max Bense und Oswald Wiener sorgten für die theoretische Begleitmusik. Julio Cortázar passte perfekt in diese Umgebung. Ich hatte schon 1977 sein zehn Jahre nach Rayuelaerschienenes Album für Manuel gelesen, eine durch Zeitungsausschnitte und andere Materialien angereicherte Geschichte einer politischen Aktion in Paris.

In Paris spielt auch der erste von drei Teilen des Romans Rayuela. Eine männliche Hauptfigur, Horacio Oliveira, ist in allen Teilen vertreten, dazu kommen in Paris seine Freundin Maga, zu der er eine problematische Beziehung hat, und ein Kreis von jungen Intellektuellen, die unentwegt über Literatur und Jazz diskutieren. In Buenos Aires spielt der zweite Teil; dort lebt er mit einer Gekrepten genannten Frau zusammen und geht ständig mit seinem Freund Traveler und dessen Frau Talita um.
Es ist kein Roman mit einem Spannungsbogen oder einer strukturierten Handlung. Es gibt einige Highlights wie den äußerst unwahrscheinlichen Drahtseilakt (über zwei ineinander geschobene Bretter) zwischen zwei Fenstern im Hinterhof eines Hauses, mit dem Talita frischen Mate von Wohnung zu Wohnung bringt. Im 23. Kapitel gibt es eine wunderbare Beschreibung eines Klavierkonzerts mit zeitgenössischer Musik – in das Oliveira nur ging, weil es nachmittags regnete. Ansonsten wird über das Abhängen einer Gruppe von Exilanten in Paris berichtet und über die Jobs von Oliveira und Traveler in einem argentinischen Zirkus. All das ist aber letztlich nebensächlich. Spannung entsteht dann, wenn die Sprunganweisungen Cortázars befolgt werden und die vielen – vor allem intellektuellen – Nebenschauplätze der Kapitel 57 bis 155 beachtet werden, in denen manchmal Bezüge zu den ersten beiden Teilen enthalten sind, manchmal nicht. Es taucht dort oft ein Literat und Literaturtheoretiker namens Morelli auf, auch mit Zitaten aus seinen Werken, die im Grunde die Poetologie des vorliegenden Romans enthalten. Das Himmel-und-Hölle-Hüpfspiel, das unter vielen anderen Namen auf der ganzen Welt verbreitet ist und dem Buch seinen Untertitel verleiht, kommt tatsächlich in Kapitel 54 einmal vor. Auch die Regeln dieses Spiels können als poetologischer Hinweis verstanden werden.
Keinem besonderen poetologischen Prinzip, sondern wohl einfach nur dem Spieltrieb des Autors ist das Zeilensprung-Kapitel 34 geschuldet:

Es gibt auch kleine Passagen in Gliglisch, einer Kunstsprache, die einigen erotischen Passagen vorbehalten ist.
Unbedingt erwähnenswert ist die Qualität der Übersetzung. Es ist eine der besten Übersetzungen, die ich je gelesen habe, und ich habe mich gefragt, ob das Original selbst wohl so lebendig, differenziert und elegant geschrieben ist wie der deutsche Text. Er stammt von Fritz Rudolf Fries, über den hier in diesem Blog noch einiges zu sagen sein wird.
Ich bin froh, dass ich mich an die durchaus zeitaufwendige Aufgabe gemacht habe, das Buch noch einmal, und diesmal vollständig, zu lesen. Die deutschsprachige sogenannte Gegenwartsliteratur ist – sicher mit Ausnahmen, nach denen ich auch ständig suche – demgegenüber öde und literarisch der Vergangenheit verhaftet.
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Cortázar, Julio: Rayuela. Himmel-und-Hölle. Aus dem argentinischen Spanisch von Fritz Rudolf Fries. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.