
Das Buch – die Übersetzung ist als »Roman« bezeichnet, das Original The Hanky of Pippin‘s Daughter weist keine Genrebezeichnung auf – ist 1986 im Original herausgekommen. Übersetzt hat es die Sprachkünstlerin Ann Cotten, die in ihrem Nachwort, das die anderen Werke von Rosmarie Waldrop vorstellt, nicht auf ihr Markenzeichen verzichtet, die manirierten Genusbildungen (wie »Lesernnnie« statt Leser_/*/:nnen). Ein weiteres Nachwort schrieb Ben Lerner, der Waldrops Schreibweise knapp erläutert und ein wenig verteidigt, weil es in den USA nach der Veröffentlichung Irritationen über die Form gab, die sich keiner bekannten Kategorisierung zuordnen lässt.
Der Titel bezieht sich auf eine lokale Legende im Geburtsort der Autorin, Kitzingen. Rosmarie Waldrop, 1935 geboren, lebt seit 1960 in den USA und gilt dort als Avantgardistin. Pippins Tochters Taschentuchzeichnet sich allerdings durch keine aufregende, irritierende, experimentelle Gestalt aus, sondern ist eine Abfolge munterer und unterhaltender Fragmente. Die mehr als hundert Abschnitte sind jeweils durch ein Wort oder eine Reihe von Wörtern in Versalien eingeleitet, die manchmal unmittelbar an den vorausgehenden Abschnitt anschließen. So entsteht, wie Lerner sagt, eine »scharnierartige« Verbindung der zwischen Zeiten und Orten ständig springenden Erzählpartikel.

Worum geht es? Der Roman spielt in zwei Zeitabschnitten. Der erste beginnt ca. 1926 und reicht bis in die 1950er Jahre, der zweite beginnt 1957. Lucy, die Erzählerin, hat zwei ältere Zwillingsschwestern, Andrea und Doria, und adressiert ihren Text an Andrea. Ihre Mutter Frederika und ihr Vater Josef heirateten 1927 in Kitzingen. Da Frederika in der Ehe sexuell unbefriedigt blieb, nahm sie sich Josefs Freund Franz Huber als Liebhaber, der möglicherweise auch der Vater der Zwillinge ist. Lucy ist mit einem amerikanischen Musiker verheiratet, lebt in Providence, und hat auch einen Liebhaber, Laff(ayette). Mit Musik hat ein großer Teil beider Generationen der Familie zu tun, als Orchestermusiker, Lehrer und auch als Bayreuth-Besucher.
Josef reagiert auf Franz eifersüchtig und auch mit antisemitischen Emotionen. Er tritt 1932 in die NSDAP ein und reißt sich um die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, aus dem er einbeinig zurückkommt. Franz verschwindet von der Bildfläche und bleibt ein Gegenstand der Spekulation – als potentieller Vater und potentielles Opfer des NS-Staates.
Die Zeitumstände der dreißiger Jahre sind in einigen Passagen kurz erkennbar, werden aber meist durch die persönlichen Umstände der Protagonisten überlagert. Die Situation in Providence Ende der Fünfziger bleibt völlig opak. Die Frage nach dem autobiographischen Erfahrungsgehalt des Buchs drängt sich übrigens nie auf.
Rosmarie Waldrop: Pippins Tochters Taschentuch. Berlin: Suhrkamp, 2021.