Lea Ypi, geboren 1979 in Albanien, lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics. Ihr autobiographischer Roman Free ist auch auf Deutsch erschienen und heißt hier einfach Frei. Die Cola-Dose auf dem Cover ist ein Element ihrer Erzählung: In Tirana wurden in den 1980er Jahren leere Cola-Dosen gehandelt und wie Ikonen auf den Wohnzimmerschrank gestellt. Die von Leas Familie erworbene Dose verschwand eines Tages und tauchte bei den Nachbarn auf, die jedoch einen Diebstahl leugneten.
Das ganze Buch besteht aus einer Unmenge von Anekdoten, jeweils aus der kindlichen und jugendlichen Sicht der Autorin erzählt. Der Strom der Geschichten beginnt Mitte der 1980er Jahre und endet 1997, gefolgt von einem Epilog.
Die Autorin stellte ihr Buch am 15.03.2022 in Frankfurt in einem langen Gespräch mit Steffen Mau vor, das als Video dokumentiert ist:
In dem Video erzählt sie die Geschichte eines Albaners, die im Buch nicht enthalten ist. Es handelt sich um den Sohn einer sowjetrussischen Mutter und eines albanischen Vaters. Diese Konstellation war im antisowjetischen System Enver Hoxhas grundsätzlich verdächtig. Der junge Mann wurde ständig von der Polizei beobachtet, die einen Vorwand suchte, ihn hinter Gitter zu bringen. Sie machte eines Tages eine Wohnungsdurchsuchung und fand eine CD von Joe Cocker. Ob sie ihm gehöre und ob er sie höre, wurde der junge Mann gefragt. Er bejahte, wurde festgenommen und blieb bis zum Zusammenbruch des realstalinistischen Systems zehn Jahre im Gefängnis. Er reist in den Westen und besucht ein Joe-Cocker-Konzert. Dort dringt er bis zu seinem Idol vor, hält ihm seine CD, die er immer noch besitzt, zum Signieren hin und ruft, er sei seinetwegen zehn Jahre im Gefängnis gewesen. Joe Cocker macht sich nicht die Mühe, hinter die Aufregung des Albaners zu dringen, sagt nur: »Wir haben alle mal Drogen genommen« und lässt die Polizei kommen, um den Belästiger abzuführen.
In Albanien fiel 1990 nach dem Tod Enver Hoxhas, der das Land mit seinen 3 Millionen Einwohnern über 45 Jahre unter ein stalinistisches Zwangsregime gestellt hatte, die Mauer in der Weise, dass Hunderttausende über die Adria nach Italien fahren wollten, um den liberalen Westen zu erleben. Die Kontakte mit den Bürgern westlichen Staaten waren dann schnell ernüchternd: »Plötzlich kamst du nicht mehr aus einem gescheiterten Staat, sondern du warst eine gescheiterte Person«.
Die Übergangsphase, die 1991 mit den ersten pluralistischen Wahlen begann – bei der die regierenden Kommunisten noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit errangen – entwickelte sich recht chaotisch. Ein Kulminationspunkt war der manchmal Lotterieaufstand genannte Bürgerkrieg 1997, der durch den Einsatz von 6.000 ausländischen Soldaten aufgrund eines Uno-Mandats beendet wurde. Einige Firmen hatten Pyramidensysteme aufgezogen und Tausenden von naiven Albanern um ihr Erspartes gebracht, und die Regierung hatte nichts gegen die betrügerischen Umtriebe unternommen.
Die Autorin, väterlicherseits Urenkelin des kurzfristigen albanischen Ministerpräsidenten Xhafer Ypi (1922) und mütterlicherseits Enkelin eines muslimischen Gläubigen, der sich 1947 mit dem Ruf Allahu akbar! von einem Hochhaus stürzte, erfuhr diese und viele andere Details ihrer Familiengeschichte erst nach der Befreiung des Landes vom Stalinismus. Nach ihrem Schulabschluss und dem Tod von Großmutter und Vater verließ sie Albanien. So ist es nicht nur der zeitliche, sondern auch der räumliche Abstand, der es ihr ermöglicht, heiter und ohne Bitterkeit ihre Geschichte zu erzählen.
Lea Ypi: Free/Frei. London: Allen Lane, 2021/Berlin: Suhrkamp, 2022