Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Der Hai auf der Kirchturmspitze

    Was für ein Kontrast – zu den kürzlich gelesenen Büchern von ElmingerEdelbauer oder gar Schneider. Michal Ajvaz ist ein hierzulande unverständlicherweise unbekannter Autor. Seine Übersetzerin Veronika Siska ist gleichzeitig seine deutsche Verlegerin im kürzlich gegründeten Münchner Allee-Verlag.

    Der Roman beantwortet in 22 recht kurzen Kapiteln die Frage seines Erzählers auf atemberaubend heitere Weise:

    Ist es möglich, dass in unserer nächsten Nähe eine Welt existiert, die vor sonderbarem Leben überbordet, die vielleicht früher als unsere Stadt hier gewesen ist, und von deren Existenz wir überhaupt nichts wissen? [65]

    Einen Vorschein dieser anderen Welt erleben wir vielleicht schon in unserem Alltag, wenn wir beim Putzen einen Schrank beiseite schieben »und plötzlich in das ironisch gleichgültige Gesicht seiner Hinterwand« [66] blicken. Der Ich-Erzähler gerät durch die Ausleihe eines Buchs, das er in einer Bibliothek entdeckt hat, in eine andere Welt. Es zog ihn durch seinen samt-violetten Einband und seine rätselhafte unbekannte Schrift an. Diese Schrift schien ein eigenes Leben zu haben, Lichteffekte, Bewegung und schließlich eine dreidimensionale Bildwelt zu entwickeln, eine Stadt in, hinter, unter oder neben dem ihm bekannten Prag. Ein Bibliothekar berichtet am nächsten Tag vom Einbruch einer anderen Welt in die eigene, erzeugt durch ausführliches Inspizieren desselben Buchs, und macht Andeutungen über einen geheimnisvollen und gefährlichen Flügel seiner Bibliothek, den er selbst nicht mehr betreten wolle. Und dann gerät der Erzähler selbst in den Nachtstunden immer wieder für eine gewisse Zeit, indem er neugierig rätselhaften Hinweisen folgt, in diese andere Welt hinein.

    Ein Buch, dessen Schrift niemand entziffern kann – ist das nicht so etwas wie das Voynich-Manuskript? Dessen frühester dokumentierter Aufenthaltsort um 1600 war Prag. Eine normalerweise unsichtbare andere Welt, zu der es an geheimen Stellen Zugänge gibt – das erinnert an das Bukarest in Mircea Cărtărescus Roman Solenoid. Und da wir uns in Prag befinden, lässt sich eine Erinnerung an den Golem nicht vermeiden, wie er zum Beispiel von Gustav Meyrink dargestellt wurde.

    Weitere Assoziationen kommen auf – zu Dantes Göttlicher Komödie, den Geschichten E. T. A. Hoffmanns und den in die vierte Dimension hineinreichenden Wissenschaftlichen Erzählungen Charles Howard Hintons, auch zu Alfred Kubins Die andere Seite, Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom und den Städten von Jorge Luis Borges. Paul Ernst hat mit der Erzählung »Die sonderbare Stadt« die Unheimlichkeit einer unterirdischen gläsernen Stadt ausgelotet. Nicht nur wegen des Sujets Stadt, sondern vor allem wegen der Leichtigkeit des sprachlichen Übertritts in eine parallele Welt ist zudem an Italo Calvino zu denken – Die unsichtbaren Städte, wo es neben etlichen anderen eine zweidimensionale Stadt gibt, die auf ein Blatt Papier passt und wie dieses eine Vorder- und eine Rückseite hat. Alle genannten Texte enthalten Grenzübertritte in phantastische Welten, in denen andere Gesetze herrschen als gewohnt und durch die auch die Selbstinterpretation der jeweiligen menschlichen Protagonisten zerfranst.

    Für Fische, Wasser und Schnee scheint Michal Ajvaz eine besondere Vorliebe zu haben. Andere Welten, die hinter Gegenständen existieren und in Wohnungen umherkriechende Fische gibt es auch schon in seinen Gedichten und anderen Werken.

    Es gelingt ihm mühelos, mit wenigen Sätzen bildstarke Eindrücke zu erzeugen:

    Gehen die Bewohner der Wohnungen in der Nacht durch den dunklen Flur zur Toilette, ruht ihr Fuß manchmal kurz auf einem sich wiegenden Ponton: Nur wenige wagen es, über die schwankende Brücke in die Dunkelheit aufzubrechen, auch wenn viele wissen, dass sie an deren Ende ihren Namen vergessen und die Stirn an das kühle Metall der Rohrleitung legen dürfen, durch die die Milch verzweifelter Tiere in die phantastischen Küstenstädte strömt.

    Die »andere Stadt« ist eine Art dreidimensionaler Spiegel der bekannten Welt, in der Menschen, Tiere und Gegenstände allerdings andere Beziehungen untereinander haben als gewohnt. In einer Passage fühlt man sich an E. T. A. Hoffmanns Nussknacker erinnert. In einem Geschäft, in dem tagsüber Schuhe und Socken verkauft werden, wird nachts eine Unzahl seltsamer Gegenstände angeboten. Eine selbständig agierende Schreibmaschine und belebte, sehr anhängliche Apfelscheiben sind noch die harmlosesten Objekte in diesem nächtlichen Kuriositätenkabinett. Es gibt auch Andeutungen einer gewissen Brutalität der traumhaften Wesen. Eine riesenhafte Ameise beißt einem jungen Mann nach langem Kampf den Kopf ab. Der Erzähler muss auf einem Kirchturm mit einem Hai kämpfen und kann ihn mit knapper Not besiegen. Andererseits erlebt er freundschaftliche Gefühle eines Rochens, den er davor bewahrt hatte, von einem Hund zerfleischt zu werden.

    Die Stadt, die sich jenseits der physischen Grenzen der bekannten Welt ausbreitet, enthält auch Elemente einer wörtlichen »extended reality«: Der Erzähler lässt sich von einem Musikstück für siebenundfünfzig Pianisten berichten, »die an einer einzigen langgestreckten Tastatur spielen, die sich durch nächtliche Dörfer zieht und die im Mondschein in dunklen Obstgärten glänzt«. Er selbst fährt mit dem Fahrrad durch einen langen Tunnel, an dessen Wand 3.6oo Gemälde hängen, die sich jeweils nur durch geringfügige Permutationen unterscheiden, aber letztlich aufgrund ihrer Vielzahl Geschichten erzählen, in denen auch seine sonderbaren Erlebnisse enthalten sind.

    Die ganze Stadt Prag ist voller Skulpturen, auch die Wohnungen und Läden. Der Erzähler entdeckt in einer Nacht, dass viele von ihnen hohl sind und beispielsweise als Ställe für kleine Elche genutzt werden.

    Die »andere Stadt« hat einen eigenen Gott: Dargúz, und ein Nationalepos, aus dem (von einem Zitatenpapagei) eine Passage vorgetragen wird, es heißt »Der kaputte Teelöffel«. 

    Es ist aussichtslos, bei der Lektüre die Semantik der phantastischen Episoden entschlüsseln zu wollen. Das Schreiben selbst ist für Ajvaz – so sieht es im Nachwort der Slawist Tomáš Glanc – weniger ein Fixieren von Sinn als eine Möglichkeit, auf Sinngrenzen hinzuweisen, eine Art Oszillation zu erzeugen. Immer wieder geht es um die Abwehr von alltäglichen Sinnzuschreibungen, deren Funktion es sei, einer Begebenheit einen Platz im Gewebe der Beziehungen zuzuweisen, die insgesamt eine oder die »Heimat« bilden. Dazu erklärt der Erzähler – und benennt dabei gleichzeitig das, was er mit seinem Schreiben überwinden möchte: »Für uns existiert nur, was sich in die Spiele, die wir spielen, eingliedert«. Im Buch spielt die Schrift eine große Rolle, ein Widerschein der theoretischen Beschäftigung von Ajvaz mit Jacques Derrida, über den er zwei Bücher geschrieben hat. Im Roman findet sich der Satz: »Die Grammatik ist eine angewandte Dämonologie«, der Derrida gefallen hätte (falls er nicht überhaupt von ihm stammt).

    Der Roman beginnt in einer Bibliothek, und in einer längeren, sich über zwei Kapitel erstreckenden Passage am Ende des Buchs ist diese Bibliothek der Ausgangspunkt einer langen Expedition in einen Bereich des Gebäudes, wo offenbar eine unsichtbare Grenze übertreten wird und sich die Bücher in den Regalen in eine »gefährliche und gleichgültige Vegetation« verwandeln. Der Erzähler begegnet den Gefahren mit zeichentheoretischen Reflexionen, die ihm letztlich auch die Abkehr von der sich perpetuierenden Regelhaftigkeit seines bisherigen Alltagslebens ermöglichen. 

    Eine kleine Leseprobe? Die folgende Passage enthält ein vom Erzähler belauschtes Gespräch zwei alter Damen in einem Café:

    Jemand wie Michal Ajvaz fehlt in der deutschen Gegenwartsliteratur. Dieser fehlt es an Phantasie – und deshalb ist sie so wirklichkeitsarm.

    Es ist mein Buch des Jahres (Abteilung Fiction).


    Michal Ajvaz: Die andere Stadt. München: Allee-Verlag, 2025.

  • Erzähltes erzählen. Ein Dschungel

    Auf den Inhalt dieses Buchs kommt es gar nicht an. Dorothee Elmiger wird von der Kritik mehrheitlich dafür gelobt, dass sie Horror zu erzeugen vermag. Den Horror weitergeben, den die Protagonisten eines indirekt erzählten Erlebnisberichts gespürt haben sollen, als sie auf den Spuren von zwei verschwundenen Niederländerinnen durch ein Dschungelgebiet Panamas geistern. Die Protagonisten, unter anderem die Ich-Erzählerin, haben verschiedene Aufgaben in einer Schlingensief-inspirierten Theatertruppe, die einen Herzog-inspirierten Kampf mit den Elementen aufnimmt und in ein Conrad-inspiriertes Herz der Finsternis zu geraten droht. Die Gruppe nimmt die Spur der Verschwundenen auf, ist umständehalber aufeinander bezogen und gerät (durch die Reiseliteratur von Chaucer bis Dickens und darüber hinaus inspiriert) ins Erzählen. Ethnographisch ist nicht viel los in den Erzählungen, es ist also nichts (Hubert) Fichte-inspiriertes zu finden. Stattdessen einige Tropen-Phantasmen. Und ausreichend deutliche (aber dann in Form und Inhalt folgenlose) Anspielungen auf die Kritische Theorie, auf Sprachskepsis, auf Kolonialismuskritisches, was auch in beinahe jeder Rezension gewürdigt wird.

    Der indirekte Bericht – die Erzählerin ist Zuhörerin einer Erzählerin, die wiederum Zuhörerin anderer Erzähler und Erzählerinnen ist – macht die Lektüre unbequem und stellt sich selbst in Frage, weil die erzählten Episoden letztlich perlenschnurartig aneinandergereiht sind und durch die Indirektheit nichts gewinnen.

    Die ganze Thematik, einschließlich der herbeibeschworenen Bedrohungslage – unheimliche Natur, Vermutung einer Tragödie um die Holländerinnen – gibt mir nichts, ebensowenig die sprachliche Darstellung. 


    Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München: Hanser, 2025.

  • Himmel und Hölle

    Dieses Buch kaufte ich im Sommer 1982 und las es zu einem großen Teil. In Gesprächen ging es immer wieder um die Leseanweisung, die der Autor als »Wegweiser« dem Roman voranstellt.

    Es waren die Jahre, in denen ich mich intensiv mit den Konkreten beschäftigte. Franz Mon, Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, Oskar Pastior, Reinhard Priessnitz und weitere Sprachskeptiker und Experimentelle zog ich den im 19. Jahrhundert verhafteten Schematikern und Moralisten vor. Deren Content-over-form-bias, Bedeutungs-Geraune und angeblicher Realismus stießen mich ab. Etwas Nouveau Roman kannte ich ebenfalls, auch zufällig einige Bücher von Oulipisten. Eins ihrer Häupter, Jacques Roubaud, folgte 1983 meiner Einladung (via Institut Français) nach Bremen zu einem Poesie-Festival. Der Kanon der experimentellen Moderne erweiterte sich auch in die Literaturgeschichte – Gertrude Stein, Finnegan’s Wake – und in andere Kunstformen, für mich vor allem Neue Musik und ein wenig Jazz. Max Bense und Oswald Wiener sorgten für die theoretische Begleitmusik. Julio Cortázar passte perfekt in diese Umgebung. Ich hatte schon 1977 sein zehn Jahre nach Rayuelaerschienenes Album für Manuel gelesen, eine durch Zeitungsausschnitte und andere Materialien angereicherte Geschichte einer politischen Aktion in Paris.

    In Paris spielt auch der erste von drei Teilen des Romans Rayuela. Eine männliche Hauptfigur, Horacio Oliveira, ist in allen Teilen vertreten, dazu kommen in Paris seine Freundin Maga, zu der er eine problematische Beziehung hat, und ein Kreis von jungen Intellektuellen, die unentwegt über Literatur und Jazz diskutieren. In Buenos Aires spielt der zweite Teil; dort lebt er mit einer Gekrepten genannten Frau zusammen und geht ständig mit seinem Freund Traveler und dessen Frau Talita um.

    Es ist kein Roman mit einem Spannungsbogen oder einer strukturierten Handlung. Es gibt einige Highlights wie den äußerst unwahrscheinlichen Drahtseilakt (über zwei ineinander geschobene Bretter) zwischen zwei Fenstern im Hinterhof eines Hauses, mit dem Talita frischen Mate von Wohnung zu Wohnung bringt. Im 23. Kapitel gibt es eine wunderbare Beschreibung eines Klavierkonzerts mit zeitgenössischer Musik – in das Oliveira nur ging, weil es nachmittags regnete. Ansonsten wird über das Abhängen einer Gruppe von Exilanten in Paris berichtet und über die Jobs von Oliveira und Traveler in einem argentinischen Zirkus. All das ist aber letztlich nebensächlich. Spannung entsteht dann, wenn die Sprunganweisungen Cortázars befolgt werden und die vielen – vor allem intellektuellen – Nebenschauplätze der Kapitel 57 bis 155 beachtet werden, in denen manchmal Bezüge zu den ersten beiden Teilen enthalten sind, manchmal nicht. Es taucht dort oft ein Literat und Literaturtheoretiker namens Morelli auf, auch mit Zitaten aus seinen Werken, die im Grunde die Poetologie des vorliegenden Romans enthalten. Das Himmel-und-Hölle-Hüpfspiel, das unter vielen anderen Namen auf der ganzen Welt verbreitet ist und dem Buch seinen Untertitel verleiht, kommt tatsächlich in Kapitel 54 einmal vor. Auch die Regeln dieses Spiels können als poetologischer Hinweis verstanden werden.

    Keinem besonderen poetologischen Prinzip, sondern wohl einfach nur dem Spieltrieb des Autors ist das Zeilensprung-Kapitel 34 geschuldet:

    Es gibt auch kleine Passagen in Gliglisch, einer Kunstsprache, die einigen erotischen Passagen vorbehalten ist.

    Unbedingt erwähnenswert ist die Qualität der Übersetzung. Es ist eine der besten Übersetzungen, die ich je gelesen habe, und ich habe mich gefragt, ob das Original selbst wohl so lebendig, differenziert und elegant geschrieben ist wie der deutsche Text. Er stammt von Fritz Rudolf Fries, über den hier in diesem Blog noch einiges zu sagen sein wird.

    Ich bin froh, dass ich mich an die durchaus zeitaufwendige Aufgabe gemacht habe, das Buch noch einmal, und diesmal vollständig, zu lesen. Die deutschsprachige sogenannte Gegenwartsliteratur ist – sicher mit Ausnahmen, nach denen ich auch ständig suche – demgegenüber öde und literarisch der Vergangenheit verhaftet.

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    Cortázar, Julio: Rayuela. Himmel-und-Hölle. Aus dem argentinischen Spanisch von Fritz Rudolf Fries. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.

  • Alte Oberflächlichkeit

    Nun ist Peter Schneider schon 85. Sein literarisches Debut, Lenz, stieß 1973 die Welle der »Neuen Innerlichkeit« an. Die war bei etlichen Autorinnen und Autoren und ganz besonders bei Schneider allerdings eine neue Oberflächlichkeit. Die Aneinanderreihung beliebiger subjektiver Eindrücke, das Fehlen einer Plotline und das Einstreuen schlüsselromanesker Elemente unterstützte Leserinnen und Leser bei der eigenen Nabelschau, die in den siebziger Jahren die von den Melancholikern der RAF erzeugte Gänsehaut ergänzte. Helmut Böttiger nannte Peter Schneiders Erzählung höflich »Das Manifest der plötzlichen Verunsicherung«, das eine Leerstelle gefüllt habe, die von der Studentenbewegung und außerparlamentarischen Opposition der vorangegangenen Jahre nicht bearbeitet worden war. Aber wie Schneider Lenz erzählte, hat(te) für mich nichts Überraschendes. Die von ihm skizzierte melancholische Ödnis langweilte mich nur.

    Auch der neue Roman Schneiders ist voller Schlüsselmomente und -personen, die sich im Westberlin der Jahre 1965 bis 1968 entdecken lassen. Noch einmal gibt es Anspielungen auf Figuren der RAF (Herzog, Meinhof) und schon in mindestens drei früheren Büchern sattsam ausgebreitete autobiographische Elemente. Ich habe Die Frau an der Bushaltestelle gelesen, weil ich von einem über Achtzigjährigen ein neues Niveau der Reflexion erhoffte. Und sehe mich enttäuscht. Der Text schildert eine Drei-Personen-Beziehung und plaudert sie in 53 kurzen Episoden linear durch die Jahre. Die Lektüre stellt keinerlei Ansprüche und lässt sich schnell erledigen – zumal der Verlag jedes Kapitelchen auf einer rechten Seite beginnen lässt, wodurch viele Leerseiten erzeugt wurden (und viele Verlage klagen über Papiermangel?).

    Neben dem Kiosk an der Ecke gibt es einen wettergeschützten Bücherschrank, der hoffentlich noch Platz für das Buch hat.


    Peter Schneider: Die Frau an der Bushaltestelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025.

    Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Göttingen: Wallstein, 2021.

  • Die Zukunft des Lesens?

    Christoph Engemann beobachtet und beschreibt seit vielen Jahren Besonderheiten der digitalen Medienwelt – spontan erinnere ich mich an Themen wie digitale Identität, die »Verschränkung« von Maschinen und Körpern und das von ihm in die Diskussion über digitale Netzwerke und Plattformen eingebrachte Stichwort »Graphennahme«. Bei letzterem geht es um die Datenstrukturen, die in Netzwerken jeden einzelnen Nutzer und jede einzelne Aktion als dynamische Relation aufzeichnen, um sie für die Plattform-Betreiber, also Graphen»nehmer«, kommerziell und für andere Zwecke nutzbar zu machen. Die ersten Leser aller Schreibakte auf einer Plattform sind die graphengenerierenden Maschinen. Schreibakte sind dabei jedoch nicht nur schriftliche Hervorbringungen von menschlichen Individuen, sondern auch Audio- und Videoströme, die automatisch und hinter dem Rücken der Akteure in Texte übersetzt werden – und manchmal als automatische Transkripte z. B. bei Youtube auch für Nutzer sichtbar werden.

    Das zentrale neue Schlagwort des Buchs ist die »Plattform-Oralität«. Beschrieben wird damit der Übergang vom Schreibzeug (das Dispositiv Schreibmaschine, an dem Nietzsche laborierte und alle anderen Formen aktiver Schriftlichkeit) zum Sprechzeug, also der Präferenz für akustisch-sprachliche Mitteilungen in digitalen Medien, vor allem auf Social-Media-Plattformen. Zweifellos erfasst Christoph Engemann hier den momentanen Stand der Entwicklung sehr nachvollziehbar und weist auch auf deren Dynamik hin, zu der die rasante Entwicklung der KI beigetragen hat und beiträgt.

    Das Buch will ich deshalb vor allem denen als Augenöffner empfehlen, für die »Lesen« im wesentlichen durch Buchlektüre definiert ist und die sich bislang maximal über die Differenz des Lesens von Texten auf Papier und auf Displays Gedanken machen. Ich möchte jedoch hier noch einige Anmerkungen machen. Es geht um Aspekte, deren Berücksichtigung ich erwartet habe, die jedoch im Buch nicht angesprochen werden.

    Beispielsweise kann ich die Trennung von Schreiben und Lesen und die Fokussierung nur auf den rezeptionshistorischen Schwenk von der Lektüre zum Hören nicht nachvollziehen. Veränderungen auf der Erzeugungsseite sind in diesem Kontext doch zwingend. Schreiben für das Hören in digitalen Umgebungen unterliegt anderen Organisationsroutinen als das Schreiben für einsame Leser. Viele der mit oder ohne Bildbegleitung angebotenen Vorträge im Netz entstehen auf der Basis von Skripts, die viel stärker als ein traditioneller akademischer oder propagandistischer Vortrag dramaturgisiert sind und dabei häufig Raum für improvisierte Passagen lassen. So wird Authentizität generiert – ein Aspekt, auf den Christoph Engemann durchaus eingeht, den er jedoch nicht in den Kontext der Wirkungsmöglichkeiten auditiver Medien im Verhältnis zur einsamen Lektüre stellt. Auditive Medien vermögen viel mehr als Textmedien Identifikation zu erzeugen, zum Beispiel durch das emotionsbehaftete Fluidum des Stimmklangs. Ein Buchautor oder Kommentarschreiber ist nicht im gleichen Maße abwesend-anwesend wie eine Stimme, sei es über Kopfhörer oder in einem beschallten Raum. 

    Auch das Schreiben wird in digitale und automatisierte Routinen überführt, nicht nur das »Lesen« von sprachlichen Aufzeichnungen, die mit speech-to-text-Verfahren in Texte verwandelt werden, um Maschinen eine Zuordnung von Personenprofilen zu Inhalten und Menschen eine Suche nach audiovisuellen Inhalten zu ermöglichen. Es gibt dem Hörensagen nach kaum noch PR-Texte, vor allem wohl im B2B-Sektor, die von Menschen geschrieben werden. ChatGPT und andere Bots erledigen diese Arbeiten, ebenso schreiben sie vermutlich den allergrößten Teil der akademischen Referate und Abschlussarbeiten. Wie dem auf der Rezeptionsseite begegnet wird und künftig begegnet werden könnte, finde ich als jemand, der in dieser Hinsicht nicht mehr in der Pflicht ist, durchaus spannend.

    Außerdem, und das scheint mir noch wichtiger zu sein, fehlt ein multimediales Format, das einen wesentlichen Teil nicht nur von Podcasts ausmacht, sondern immer schon das wesentliche Agens von Unterrichtung, also Lehren und Lernen, war: der Dialog. Die durch das Typographeum seit Ende des 15. Jahrhunderts vollzogene Abkehr von der mündlichen Unterrichtung wird durch die digitale Oralität revidiert, so könnte eine von Christoph Engemann nicht aufgestellte Behauptung lauten. 

    In einem 200.000-Zeichen-Essay können selbstverständlich nicht alle Aspekte einer komplexen historischen Entwicklung aufgespannt werden. Dennoch bin ich mit der im Schlussteil vorgenommenen Konzentration auf das Latein als sprachliche Grundlage der Gelehrsamkeit vor der Alphabetisierung breiter Schichten der Bevölkerung nicht ganz zufrieden. Es waren gerade die nicht-lateinischen Schriften, mit denen das Typographeum seine Wirkmacht entfaltete, beispielsweise die Anleitungen zur Geburtshilfe, zum Farbenmischen oder zum Bau von Destillieröfen. Gerade diese Schriften waren nicht nur nützlich zur beschleunigten Verbreitung von Wissensangeboten, sondern sie waren es auch, die im Typographeum die Ablösung der vorherigen Hegemonie des multimedialen Dialogs bei leiblicher Anwesenheit durch die monomediale Lektüre ermöglichten und erzwangen. Fortan galt nur das, was schwarz auf weiß geschrieben steht. Dass heute nun keine Bauanleitung mehr ohne Youtube-Video auskommt, kann als Schleifung der imperialen Macht des Druckwesens interpretiert werden, und somit auch als Gewinn für alle didaktischen Anliegen. Das Lernen im Dialog ist unstrittig weitaus erfolgversprechender als das einsame Lernen, und die audiovisuellen Lernangebote jenseits des öffentlich-rechtlichen Schulfernsehens sind offen für Nachfragen und Dialoge. 

    Ein zweites nicht erwähntes Feld ist die u. a. von Christian Benne (Die Erfindung des Manuskripts) untersuchte Schriftlichkeit der kaufmännischen und administrativen Prozesse, die bis ins 20. Jahrhundert hinein eine handschriftliche war und meist nicht ohne Anwesenheit der Kontrahenten ausgeübt wurde. Die Handschrift ist bei weitem nicht nur das Medium der Zertifizierung (durch Unterschrift). Benne weist darauf hin, dass die Handschrift und gedruckte Schrift nicht nur einen semiotischen Aspekt haben, sondern auch einen gegenständlichen. So war im 19. und 20. Jahrhundert geradezu eine kulturelle Aufwertung der Handschrift zu beobachten, die sich erst seit kurzem zu verflüchtigen scheint. Es galt die Norm, dass persönliche Mitteilungen, Gratulationen, Liebes- und Trennungserklärungen besser nicht in unpersönlicher Maschinenschrift übermittelt werden sollten. Auch wenn ein großer Teil dieser Kommunikationen heute als digitale Kurzmitteilungen einschließlich eingebetteter Audios und Videos stattfinden, zeigt der Boom des Marktes der Notizhefte und Schreibgeräte (Füllfederhalter!), dass das Handschriftliche noch lange kein Ende gefunden hat. Zu untersuchen wäre also die zunehmende Differenzierung der persönlichen Medien – auf beiden Seiten der Prozesskette, also der Erzeugung und der Rezeption von Mitteilungen. Ein »Audio an mich selbst« wird ein seltener Fall sein …

    Eine wunderliche Eigenschaft des Buchs sind die vielen unkorrigierten Schreibfehler. Es gibt Doppelseiten mit vier oder fünf solchen Fehlern – wie kann das sein? Hat der Autor die Rechtschreibprüfung ausgeschaltet, hat der Verlag das Korrektorat eingespart? Außerdem gibt es manchmal elend lange Satzperioden, die sicher Mark Twain erfreut hätten (such das Prädikat!), aber die Lektüre erschweren – und übrigens auch nicht gut sprechbar sind.


    Christoph Engemann: Die Zukunft des Lesens. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2025.