Wieder einmal diese Zumutung. Alltägliches Gelaber aus der Berufssphäre und aus dem Privatleben wird als Gelaber wiedergegeben, ohne jegliche Distanz, ohne jeglichen Erkenntnisgewinn. Mich interessiert allerdings ganz und gar nicht, was Bundestagsabgeordnete und -mitarbeiter 2011 gelabert haben. Auch wenn im Buch die NSU-Aufklärung, das Bundespräsidentenpaar Wulff und der Ort Bückeburg vorkommen, in dem ich mal drei Jahre wohnen und zur Schule gehen musste. Dieser Roman entspricht in Story und Stil eher den geschwätzigen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhundert, entbehrt aber deren gelegentlichen Witz. Er spielt mit der Andeutung, es könne sich um einen Schlüsselroman handeln. Aber da gibt es gar nichts, dessen Entschlüsselung interessant wäre. Bei der Lektüre steigt ein Gefühl großer Demut auf. Nicht vor diesem Autor, sondern vor Wolfgang Koeppen und seinem Treibhaus.
Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021
Das ist wirklich seltsam. Der erste Krieg ohne Kriegsberichte. Nur PR und Betroffenheitsblitze, die keinen Überblick ermöglichen. Der ukrainische Oberbefehlshaber und Präsident hat nicht ein einziges Mal die Lage dargestellt, er beschränkt sich in seinen Videos auf herausgepickte Details über militärische Erfolge und pathetische Appelle an den Westen. Es versucht offenbar auch niemand, auf der ukrainischen oder russischen Seite als embedded journalist tätig zu werden (wie zweifelhaft das als journalistische Praxis auch immer wäre). Das war in Vietnam auf beiden Seiten und im Irak zumindest auf amerikanischer noch gängig. Überhaupt tauchen die ukrainischen Streitkräfte, mindestens 250.000 Soldaten (darunter 25.000 Ausländer), dazu Paramilitärs und Amateure, in Berichten nicht auf.
Das offenkundige Maximum an journalistischer Sach- und Fachinformation bei Öffentlich-Rechtlichen ist dieser Podcast:
Talkshows diskutieren in Nebelregionen. Toll gestern Markus Lanz, der aus seinen Gästen eine Zustimmung zum polnischen MIG-Angebot herauskitzelte und die möglichen Folgen kleinreden ließ, und noch während der Laufzeit der Sendung (aber ein paar Stunden nach ihrer Aufnahme) kam das Dementi der USA mit dem berechtigten Hinweis auf die unabsehbaren geopolitischen (also militärischen) Folgen.
Nur weil man von überall mit kleinem Equipment in Echtzeit berichten kann – solange die Netze nicht nachhaltig gestört werden –, tut man es. Sogenannte „Einordnung“ findet nicht statt, höchstens eine in den bei uns geltenden Moral-Kodex, wenn es um Opfer geht. – Abgesehen davon wird „Einordnung“ und Kommentierung immer weniger getrennt.
Rundfunkgremien? Programmbeobachtung und -diskussion?
Als ich amüsiert über die Abzocke der Mineralölindustrie diese Preisanzeigen fotografierte, kam mir ein älteres Ehepaar entgegen. »Nächste Woche kostet der Liter 5 Euro«, sagte er. »Oder gar nichts mehr«, sagte sie.
László Krashahorkai hat einen »Gegenwartsroman« geschrieben, der in Deutschland, genauer: in Thüringen, spielt. Sein Protagonist arbeitet als Gebäudereiniger, entfernt Graffiti, und hat sich mit einem VHS-Lehrer angefreundet, der ihm Erkenntnisse über die Quantenmechanik zu vermitteln versucht, mit denen der Protagonist, Herscht, wiederum die Kanzlerin Merkel konfrontieren möchte. Der Chef der Gebäudereinigertruppe ist ein Neonazi, der allerdings die Komponistenfamilie Bach über alles stellt. In einem einzigen Satz, der sich über 400 Seiten hinzieht – dann gibt es tatsächlich einen Punkt – verplaudert der Erzähler windungsreich und detailreich Alltagsereignisse und -aktionen, in denen sich durchaus manche deutsche Verhältnisse spiegeln und wiederfinden lassen. Der Plauderton und die sprunghafte Verknüpfung von Themen und Ereignissen erinnert an Olli Dittrichs Comedy-Figur Dittsche. Die Übersetzung aus dem Ungarischen ist erstaunlich, sie macht sich als solche an keiner Stelle bemerkbar. Das Buch ist am ehesten genießbar und zu bewältigen, wenn man es vorliest oder wie in Zeiten vor dem Buchdruck leise brabbelnd für sich selbst intoniert. Es lebt aus dem Fluss der beschriebenen Details und der kleinräumigen Wendungen. Ich habe nach einem Viertel des Textes aufgegeben, weil ich mich bis dahin nicht für die Figuren und ihre Verknüpfungen zu interessieren vermochte. Dass sich Herscht gegen Ende des Buchs zu einem haltlosen Gewalttäter entwickelt, ist mir egal. Die formale Erzählidee Krasznahorkais ist ziemlich einfach, aber schwierig zu realisieren, und dass er sie über Hunderte von Seiten durchhält, ist ein sportlicher Erfolg. Aber die Idee ist nicht neu, das Buch löst über diese Form der Prosa keine Auseinandersetzung aus, und die Story hat dies – in der Welt der Rezensionen – auch nicht getan.
László Krasnahorkai: Herscht 07769. Frankfurt a. M.: Fischer, 2021
Wo soll man eigentlich anfangen mit der Analyse des postsowjetischen Elends? Das zaristische Russland, die Revolutionen von 1917, der Bolschewismus, die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts und des Zweiten Weltkriegs, das immer noch eiskalte Tauwetter – all das sind mögliche Einstiegssituationen für eine klärende Darstellung. Swetlana Alexijewitsch wählt für ihre umfangreiche Montage vieler Monologe von Einwohnern der ehemaligen UdSSR ein anderes Datum, das immer wieder fokussiert wird. Es handelt sich dabei um den Putsch einiger hoher Partei- und Armeefunktionäre gegen Gorbatschow im August 1991. Er sollte unter anderem den Erhalt der Sowjetunion bewirken, die nach seiner Niederschlagung dann unwiderruflich zerfiel. Am 19. August 1991 war im sowjetischen Fernsehen ununterbrochen eine Ballett-Aufführung von Schwanensee mit der Musik von Tschaikowski zu sehen – ein Detail, an das sich viele Menschen noch Jahre später erinnern. Alexijewitsch sprach zwischen 1991 und 2012 mit vielen Menschen, deren Stimmen in ihrem Buch archiviert sind. Darunter sind Parteiveteranen, die noch auf einen großen Teil der Stalin-Ära zurückblicken konnten, und ganz junge Menschen, die keine eigene Erinnerung an die Sowjetunion haben, sondern in Russland, Belarus, in der Ukraine oder Aserbaidschan aufgewachsen sind. Die 1948 geborene belarusische Autorin, die 2015 den Literaturnobelpreis erhielt, macht in ihren Projekten ihre eigene Stimme nicht geltend, sondern lässt ausschließlich ihre Interviewpartner sprechen.
Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen vor allem bei den älteren Stimmen. Antisowjetische Einstellungen kommen nicht vor, obwohl es immer den Wunsch nach einem besseren, einem guten Leben gab. Dieser Wunsch hatte und hat auch bei den Jüngeren offenbar die Priorität gegenüber der Forderung nach mehr Freiheit und Demokratie. Die Erfahrung des ersten postsowjetischen Jahrzehnts war ernüchternd. Die Realisierung von Freiheit erschien als Rehabilitierung des Kleinbürgertums. Der Kapitalismus, der nun paradoxerweise, entgegen der Abfolge der Gesellschaftsformationen in der marxistischen Lehre, aufgebaut werden sollte, ist ebenso eine Verzerrung der Modellvorstellungen einer funktionierenden Marktwirtschaft wie der überwundene Sozialismus eine Verzerrung der Ideen seiner theoretischen Ahnen war. Die Abkehr von den zuvor gelehrten Ideen ist zunächst mit Erleichterung verbunden: »Niemand sprach mehr von einer Idee, ale redeten von Krediten.« Zudem handelt es sich um einen Kapitalismus aus zweiter Hand, und auch die Ideen der westlichen Demokratie, des unbeschränkten Konsums und der individuellen Freiheit werden in kürzester Zeit verschlissen. Die Perestroika wird nicht als Prozess der Selbstwirksamkeit des Sowjetvolkes erlebt, sondern als Tat eines einzigen Manns, Michail Gorbatschow.
Ich habe 2015 schon einmal versucht, das Buch zu lesen, das mir eine belorusische Studentin empfohlen hatte. Es gelang mir nicht spontan, einen Bezug zu den Biographien und Berichten aufzubauen. Jetzt ist das anders. Das Lektüreerlebnis ist von vielen kleinen Schocks begleitet, es geht oft um konkrete Gewalt an Personen, um Ausgrenzung, Feindseligkeit und Hass (zum Beispiel beim Zusammentreffen von Armeniern und Aserbaidschanern). Gewalt war und ist in den postsowjetischen Ländern viel prominenter auf der Tagesordnung als im friedlichen Westeuropa.
»Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet.«