Kategorie: Glossen

  • Geständnis

    Ich war wohl zwölf Jahre alt. In der Schule wurden Freiwillige für einen Bastelwettbewerb gesucht. Etwa die Hälfte der Klasse meldete sich, ich nach kurzem Zögern auch. Für die Anmeldung musste ein Formular ausgefüllt werden, die Interessenten erhielten einige Tage später in der Schule eine Papprolle mit diversen Inhalten. Darunter war ein großes Foto einer Caravelle, eines in Frankreich entwickelten Düsenflugzeugs, das unter anderem von der Scandinavian Airlines (SAS) eingesetzt wurde und wohl auch transatlantische Strecken bewältigen konnte. Außerdem lagen mehrere Schnittmusterbögen und eine Anleitung zu ihrer Nutzung bei, ferner schöne Pappe und Transparenzpapier. Die Aufgabe bestand darin, ein recht großes Pappmodell (nach meiner Erinnerung nahm es einen halben Küchentisch ein) der Caravelle zusammenzukleben. Das Flugzeug hatte an der Heckflosse das SAS-Logo, die Fluggesellschaft hatte den Wettbewerb organisiert, und die Siegermodelle sollten irgendwo in der Innenstadt ausgestellt werden.

    Ich war absolut kein talentierter Bastler, mir fehlten auch Umsicht und Geduld für die komplexe Aufgabe. Der Flugzeugrumpf geriet mir ein wenig beulig, die abgerundete Nase blieb auch nach dem zehnten Versuch eine spitze Tüte. Nach zwei, drei Nachmittagen gab ich auf und legte den Papphaufen auf einen Schrank, mit der halbherzigen Vornahme, nach einer Weile einen Versuch zur Komplettierung zu unternehmen.

    Dazu kam es natürlich nicht.

    Einige Wochen später kam der stellvertretende Schulleiter herunter auf den Übungsplatz neben dem Schulgebäude, auf dem wir im Sportunterricht gerade Hochsprung übten. Er rief mich heran und sagte, in Kürze käme Besuch, zwei Herren, die mich sprechen wollten. Sie könnten kein Deutsch, und ich wüsste wohl, wie man sich auf Englisch bedankt. Ich sagte zweimal »Thank you«, und er zog offenbar befriedigt ab. Tatsächlich kamen eine Weile später zwei Männer mit einem sehr großen Karton, steuerten den Sportlehrer an, dieser rief mich heran, und die Beiden redeten intensiv auf mich ein. Ich hatte erst seit einigen Monaten Englischunterricht und verstand kein Wort. Schließlich reichten sie mir den Karton. Ich war verwirrt, aber brachte leise ein »Thank you« heraus, woraufhin sie sich nach einem weiteren unverständlichen Wortschwall entfernten. Es waren Angestellte der Fluggesellschaft SAS, was ich an den Abzeichen an ihren Jacketts erkannt hatte.

    Der Sportlehrer war offenbar in das Komplott eingeweht. Er rief alle zusammen, um uns zu erklären, dass ich den Bastelwettbewerb gewonnen hätte und mir gerade der erste Preis übergeben worden sei. Er gratulierte mir und forderte mich auf, den Karton zu öffnen. Er enthielt ein großes Flugzeugmodell aus Blech, eine Caravelle mit SAS-Logo. Es hatte einen Elektromotor und konnte auf dem Boden herumfahren, gesteuert durch eine drahtgebundene Fernbedienung. Ich war sehr verwirrt, merkte jedoch schnell, dass sich meine Mitschüler nicht nur für das Preisgeschenk interessierten, sondern weitere Fragen hatten, die ich nun schlüssig beantworten musste. Die fertigen Pappmodelle mussten nämlich einige Wochen zuvor in der Schule abgegeben werden, und niemand hatte mich mit meinem Modell gesehen. Ich sagte, dass ich es an dem betreffenden Tag nicht der Gefahr hatte aussetzen wollen, in der Straßenbahn beschädigt zu werden und ich es daher am Nachmittag selbst zur SAS, die eine Niederlassung in der Stadt hatte, gebracht hätte.

    Zuhause erklärte ich meinen Eltern, es hätte offenbar die Auslosung eines Preises unter den eingeschriebenen Teilnehmern des Wettbewerbs gegeben, und ich hätte dieses Flugzeug gewonnen. Es machte mir übrigens keinen Spaß, es in der Wohnung herumfahren zu lassen, und ich schenkte es nach ein paar Tagen einem drei Jahre jüngeren Jungen, der bei uns im Haus wohnte.

    Das preisgekrönte Modell sah ich mir im Foyer der SAS-Niederlassung an. Es war perfekt, ich hätte so etwas nie hinbekommen. Auf einem Schild vor dem Flugzeug stand mein Name. Ich brauchte lange, um mit meiner Verblüffung fertig zu werden. Mit wem hätte ich darüber reden können? Wie hätte ich den offenkundigen Fehler der Preisjury aufklären können? Wie war der Fehler überhaupt zustande gekommen? Bis heute scheint es mir immer noch am wahrscheinlichsten, dass der eigentliche Sieger seinem Modell einen unleserlichen Zettel mit seinem Namen beigegeben hatte und durch Abgleich mit den zuvor abgegebenen Formularen dann die Wahl auf mich fiel. Einige Wochen lang befürchtete ich, dass der eigentliche Gewinner sich nach einer Inspektion des ausgestellten Modells melden und beschweren könnte und ich zu einer peinlichen Befragung durch die Schulleitung oder durch die Fluggesellschaft vorgeladen würde. Das geschah aber nicht.

    Für eine Wiedergutmachung ist es jetzt sicher zu spät. Es drängt mich jedoch dazu, vor aller Welt zu erklären: Es tut mir leid, unbekannter Bastler! Du hattest den Preis wirklich verdient.

  • Waschbären und Tigermücken

    Es wird von Jahr zu Jahr schlimmmer. Vor 15 Jahren wurden die grünen Biester noch im Kölner Volksgarten bestaunt, und man fragte sich, wo sie wohl ausgebrochen waren. Sie bildeten kleine Gruppen, und ihr Geschrei hielt sich akustisch in Grenzen. Jetzt sind sie überall im südlichen Rheinland. Sie bilden Rotten von 50 Vögeln, die gemeinsam und schreiend in die Gärten einfallen umd frische Triebe von Nadelbäumen reißen. Ein ruhiges Frühstück auf der Terrasse ist im Juli nicht möglich. Feinde, vor denen sie Respekt hätten, scheint es nicht zu geben. Nicht einmal große Krähen nähern sich an, wohl weil sie um ihr Gehör fürchten. An Werktagen übertönen sie mühelos die Laubbläser von Vonovia auf der Straßenseite gegenüber. Ihre Ausbreitung hat pandemische Ausmaße; ich weiß nicht, ob ein Umzug nach Bremen genügend Sicherheit gewährt.

  • Gattungspoesie

    Aus dem Artikel Wrestling-Matcharten in der deutschen Wikipedia.

    Als Referenz unverzichtbar ist diese lexikalische Seite.

    Zum Einstieg in eine weiterführende Diskussion des Wrestling als dramatischer Form geeignet:

    Das Wrestling scheint eindeutig eine »geschlossene« Form des Dramas zu sein.

  • Herbst der Verbrenner

    … und der deutschen Sprache.

    Ich liebe, dass wir immer in Bewegung bleiben

    heißt es in einem Audi-TV-Clip. In einigen Jahren gibt es nur noch E-Autos, und das Kauderwelsch wird niemandem mehr auffallen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten schlecht übersetzte Synchrontexte von amerikanischen Serien. Gestern abend (Seriendeutsch: »Letzte Nacht«) versuchte jemand die Erzeugung von Öko-Benzin zu erklären: »Oben wirfst du Mais rein, und unten kommt dann Gas raus.«

  • Nur Trümmer, keine Heimkehr

    Günther Anders: Tagesnotizen. Aufzeichnungen 1941–1979,
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 117

    Günther Anders kommt am 18. Juni 1953 zum ersten Mal nach 20-jährigem Exil wieder nach Berlin. Weder an diesem Tag noch an einem der folgenden berichtet er über das Geschehen, mit dem wir den »17. Juni« verbinden. Die Panzer in der Leipziger Straße, die bei Demonstrationen Totgeschossenen kommen nicht vor. Staunend beobachtet er, dass ein Mann in Schöneberg ungeniert und ungeschützt sein Bedürfnis auf offener Straße verrichtet.

    Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen.