Kategorie: Rezensionen

  • Impfen gegen die bolivianische Pest

    Der Schneesturm: Roman : Sorokin, Vladimir, Tretner, Andreas: <a class="autolink" href="https://Amazon.de">Amazon.de</a>: Bücher
    Der Schneesturm: Roman : Sorokin, Vladimir, Tretner, Andreas: Amazon.de: Bücher

    Vladimir Sorokins Roman wird von der Kritik als »Anti-Utopie« bezeichnet. Das kann und will ich nicht nachvollziehen. Der Text beschreibt eine mehrtägige Episode aus einem Land, dem anzumerken ist, dass es durch politische und ökonomische Umwälzungen mehrfach vergewaltigt wurde. Das Ergebnis ist eine Art 19. Jahrhundert mit wenigen modernen Einsprengseln. Zum Beispiel gibt es ein holographisches »Radio« im Haus eines Müllers, in dem ein Telephon nur im Sommer funktioniert. In einem Ort ist die bolivianische Pest ausgebrochen. Sie verwandelt Menschen in große Maulwürfe, die durch Bisse wiederum Menschen in Zombie-Maulwürfe verwandeln können. Ein Arzt ist unterwegs, um der nicht-infizierten Bevölkerung die zweite Impfung mit einem Vakzin gegen diese Pest zu verabreichen. Er will die Pferde seiner Postkutsche auf einer Poststation wechseln, um den 15 oder 17 Werst (1 Werst ist minimal länger als 1 km) entfernten Ort des Pest-Ausbruchs zu erreichen. Es sind keine Pferde verfügbar, daher wendet sich der Doktor an einen Fuhrmann, der über 50 winzige Pferde verfügt – später ist zu lesen, dass drei von ihnen in einer Pelzmütze Platz haben. Mit einem Schlitten, gezogen von diesen 50 »Pferdis«, machen sich die Beiden auf und kämpfen sich mehrere Tage durch dichtes Schneetreiben, unterbrochen durch mehrere Unfälle, eine Übernachtung (einschließlich einer Liebesaffäre) in einer Mühle und Erschöpfungspausen. Es gibt nicht nur Miniaturpferde, sondern auch Menschen, die nicht größer als eine 2-Liter-Schnapsflasche sind – und solche, die groß sind wie ein 6-stöckiges Haus. Am Ende bleiben die Reisenden 3 Werst vor dem Zielort erschöpft an einem Waldrand hängen und schlafen zusammen mit den Pferden unter einer Abdeckung des Schlittens ein. Als der Doktor aufwacht, ist der Fuhrmann tot, und eine Gruppe von Chinesen nimmt ihn und die Zwergpferde in einem Waggon mit, der von einem riesigen Pferd gezogen wird. Von der Pest ist nicht mehr die Rede.

    Ganz 19. Jahrhundert, kein Zombie-Roman, keine Dystopie, sondern eine Art Analyse des Alltagsbewusstseins in vielen Teilen des großen Russland: so kommt mir der Text vor.


    Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

  • In Peking mit Bei Dao

    Das Stadttor geht auf - Bücher - Hanser Literaturverlage
    Das Stadttor geht auf – Bücher – Hanser Literaturverlage

    Das Stadttor geht auf ist eine autobiographische Collage. Ihre Kapitel lauten unter anderem: Klänge, Gerüche, Möbel, Schallplatten. Später geht es um Tätigkeiten wie Angeln und um Orte wie Shanghai und verschiedene Schulen. Bei Dao (Zhao Zhenkai) wurde 1949 geboren, seine Mutter war Ärztin, sein Vater Angestellter einer Versicherung. Der Vater war Mitglied einer der 8 Blockflöten-Parteien, die in China neben der KP auch heute noch zugelassen sind. Bei Dao schreibt seit seiner Jugend vor allem Lyrik. Er bekam 2005 den Bremerhavener Jeannette-Schocken-Preis. Viel Bai Dao gibt es auf Youtube (Gedichte oft mit englischer Übersetzung, von Eliot Weinberger).

    Das Erzählen in Momentaufnahmen und die Sammlung von Erinnerungen, die einer Person oder einem Ort zugeordnet sind, hat große Vorteile gegenüber der chronologischen Reihung. Anmutungen von Kausalität werden ebenso vermieden wie erdie Verlockungen der episodischen Dramatisierung. Die kleinen Kapitel stehen für sich, sie sind wie Bilder aufgereiht. Das letzte und längste Kapitel ist den letzten Begegnungen mit dem Vater gewidmet, der zeitlebends ein stiller und ein wenig ängstlicher Oppositioneller war und viele Jahre Landarbeit machen musste, statt seine Karriere im Versicherungswesen fortzusetzen. Bei Dao selbst war in der 1966 beginnenden Kulturrevolution aktiv. Er berichtet unter anderem von einer beschämenden Attacke auf einen vermeintlichen Konterrevolutionär aus der Nachbarschaft, der vonihm und einigen Freunden aus seiner Wohnung gezerrt und einige Tage in einen Keller gesperrt wurde.

    Wir schoben der Reihe nach Wache, und zwar in drei Schichten. Abgesehen davon, dass wir ihm rechtzeitig Essen brachten, begleiteten wir ihn noch zur Toilette. Uns plagten die Ängste, er könnte sich aus dem Staub machen oder sich das Leben nehmen. Nach zwei Tagen waren wir ausgelaugt, wir gähnten um die Wette. Wir mussten ihn laufen lassen. (142)

    Zeitlich erstrecken sich die erzählten Passagen über die 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre. Die engen Wohnverhältnisse (6 Personen teilen sich 2 Zimmer, mehr als 10 Personen eine Küche und ein Bad) werden am Rande immer wieder erwähnt. Obwohl die Familie Bei Daos zur Elite des Landes gehörte, wird diese Situation als ganz gewöhnlich hingenommen. Der Autor, der nach langem Aufenthalt außerhalb Chinas jetzt wieder in Peking und Hongkong lebt, lässt die Beschreibungen so stehen, ohne ihnen als Kontrast etwa die heutige Wohn- und Lebenssituation in Peking hinzuzufügen. Dennoch regt das Buch zu einem Vergleich an: mit den west- und ostdeutschen Verhältnissen in derselben Zeitspanne. Peking, das 1960 schon annähernd fünf Millionen Einwohner zählte, erscheint in Bei Daos Beschreibungen annähernd als ländliche Abenteuerlandschaft, durchsetzt mit beeindruckend vielen Imbissständen, die auch schon von Kindern frequentiert werden.

    Bei Daos Eltern beschäftigten für ihn und seine beiden jüngeren Geschwister eine Kinderfrau und Köchin, genannt Tante Qiao. Diese hatte eine Halbschwester, die in einer anderen Stadt ebenfalls als Kinderfrau tätig war. Sie war Analphabetin. Der achtjährige Bei Dao schrieb für Tante Qiao Briefe an ihre Schwester. Er beherrschte erst einige hundert Schriftzeichen (und setzte für die Wörter, für die er noch kein Schriftzeichen kannte, Kreise als Stellvertreter ein). Die Antworten der Schwester musste er dann vorlesen, wobei er auf ihm unbekannte Zeichen stieß, zusätzlich auch auf Kreise. Die Texte ergaben manchmal keinen für ihn und Tante Qiao nachvollziehbaren Sinn. Er fand nach einer Weile heraus, dass die Halbschwester ebenfalls Analphabetin war und gleichfalls eine ganz junge Schreiberin beschäftigte. Die Briefe enthielten von nun an auch Anteile, in denen sich die beiden Leihfedern untereinander austauschten.


    Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. München: Hanser, 2021

  • Noch ohne Wehklagen

    Ithiel de Sola Pool, der im Umfeld von Lazarsfeld und Lasswell 1959 das Unternehmen Simulmatics mitgründete, das Wahlprognosen und im Vietnamkrieg strategische Berechnungen verkaufte, war 1968 mit einem Beitrag an einem Sonderheft von Science and Technology beteiligt, in dem auch J. C. R. Licklider mit zwei Ko-Autoren den bahnbrechenden Artikel ›The Computer as a Communication Device‹ veröffentlichte. Viele der Beiträger waren sich darin einig, dass dem Computer nicht als einfachem Rechenknecht, sondern als Medium die Zukunft gehören würde. Die prognostische Qualität von Pools Aussagen ist erstklassig. Die gesellschaftlichen Folgen der computergestützten Kommunikationsmöglichkeiten sah er ganz klar. Immer wieder – in den 1980ern, als das Fernsehen sein Publikum »zersplitterte«, und heutzutage, wo die sogenannten sozialen Medien dem gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich den Rest geben – wird mit den Schlagworten argumentiert, die Pool 1968 schon bereitstellte.


    Ausschnitt aus: Jill Lepore If Then. How the Simulmatics Corporation Invented the Future. New York: Liveright, 2020, 277

  • Dreimal Robbe-Grillet

    Die Radiergummis ist ein äußerst sachlich, distanziert und detailliert erzählter Kriminalroman. Vor dem Hintergrund einer nicht näher beleuchteten Verschwörung, bei der systemwichtige Persönlichkeiten aus dem Weg geräumt werden sollen, findet in einer nordfranzösischen Stadt ein nicht gelingendes Attentat auf einen Wissenschaftler statt, der sich daraufhin für tot erklären und somit aus dem Verkehr ziehen lässt. Ein Sonderermittler kommt in die Stadt und verbringt einen Tag mit intensiven Aufklärungsarbeiten, um dann schließlich den noch einmal in seine Wohnung zurückgekehrten Wissenschaftler zu erschießen, den er für den Attentäter des Vortags hält. Beeindruckend ist die durchgehaltene distanzierte Erzählweise, die jeder Figur ihr jeweils aktuelles Wissen zugesteht und Handlungen nur aufgrund dieses Wissens, nicht etwaiger anderer Motive in Bewegung setzt. Wurde 1969 verfilmt und kam 1972 in die Kinos: Les Gommes/Ein Tag zuviel, R: Lucien Deroisy und René Micha.

    Ein gefundenes Fressen für die akademische Diskussion über den Nouveau Roman bzw. das nunmehr mit anmaßender Geste erklärte Ende des alten war La Jalousie. Dass es zu dieser Geste kam, ist verständlich im Kontrast zur übermäßig psychologisierenden Erzählweise der Tendenzliteratur von Camus und Sartre. Das kleine Buch macht aber auch deutlich, warum es so leicht war, diese Diskussionsbeiträge von Butor, Sarraute und eben Robbe-Grillet zu ignorieren und einfach Romane in der Tradition des 19. Jahrhunderts weiter zu schreiben, und das bis heute. Reizvoll an dem Text ist die Erzählperspektive. Der all-anwesende Erzähler bleibt quasi aus dem Text ausgeschnitten, er ist ein Beobachter, der selbst dann von ko-präsenten Personen ignoriert wird, wenn ein Glas oder ein Gedeck für ihn auf dem Tisch stehen. Diese Überspitzung der Ich-Perspektive, in der das Ich gelöscht ist, eignet sich vorzüglich zur Vermittlung der unausgesprochenen Emotion, die den Bericht trägt. Die beiden Hauptfiguren sind A…, offenbar die Partnerin des abwesenden Erzählers, und Franck, ihr gemeinsamer Freund. Deren Bewegungen zueinander und ihre zumeist vollkommen belanglosen Dialoge sind eingebettet in ausufernd detaillierte Beschreibungen von Örtlichkeiten in mikro-geographischer Präzision, die selbst die Anordnung von Gläsern auf dem Terrassentisch oder die Winkel der abgespreizten Arme eines auf dem Bett liegenden Körpers erfasst. Das Geschehen des Romans ist offenbar irgendwo in Afrika angesiedelt. Wenn man sich immer wieder die Absicht Robbe-Grillets, die aggressive Erledigung von Psychologie, politischer Relevanz und ganz allgemein »Bedeutung«, vor Augen führt, erhält der eigentlich staubtrockene Text durch die Arbeit der Lektüre komische Züge und ist letztlich unterhaltsam.

    Ganz anders Die Wiederholung. Es gibt keine Objektivitätsbehauptung, es geht nicht um die Erzeugung von Authentizität, es gibt keinen Plot – oder nur Andeutungen von vielen Plots. Der Roman, dessen Geschehen im Berlin des Jahres 1949 angesiedelt ist – aber außer der Prozedur eines Sektorenübertritts nichts von der Atmosphäre der Stadt wiedergibt – spielt mit Identitäten, Zeitabläufen, Zitaten aus Literatur und Film. Es ist mühsam, das alles auseinanderzuklamüsern; vor allem macht es auch gar keinen Spaß. Zumindest mir fehlt derzeit der Antrieb, der mir eventuell einen interessierten Blick auf den Text ermöglichen könnte. Statt dessen finde ich viele Details nur öde (mit Ausnahme der sich durch das Buch hindurchziehenden Erschöpfung des/eines Protagonisten) und sogar einigermaßen widerlich. Robbe-Grillet lebt seine schon in den früheren Büchern angedeuteten sexuellen Phantasien nun expliziter aus, in deren Mittelpunkt immer 14- bis 16-jährige Mädchen stehen. Eine 16-jährige Hure »… flüsterte ganz freimütig, wenn er wünsche, sie im Stehen zu vergewaltigen, könne sie unverzüglich ihr Höschen ausziehen«, woraufhin ihr der Protagonist einen Kristalldolch in den Genitalbereich rammt. Die Übersetzung von Andrea Spingler tut möglicherweise ein Weiteres zur Einschränkung eines möglichen Lesevergnügens.


    Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953/2016), Die Jalousie oder Die Eifersucht (1957/1959) Die Wiederholung (2001/2002)

  • Ohne Heim und ohne Fahrt

    Wolfgang Schömels Buch, das von Klett-Cotta nicht verlegt wurde (obwohl nichts dagegen spräche, auch wenn eine Vertriebsabteilung höchstens ein finanzielles Break-even erwartet), kann bei Amazon erworben oder direkt gelesen werden. Der Roman hat zwei Erzählebenen. Recht stark ist die Kindheitsgeschichte aus den 1950er Jahren, die einen grausamen, psychisch verkapselten Vater fokussiert. Recht öde und aus trivialen Versatzstücken konstruiert ist die Gegenwartsebene. Die Hauptfigur ist ein Professor kurz vor dem Ruhestand, der über die psychischen und sozialen Folgen von Kinderlosigkeit forscht. Dass er selbst einen vierzigjährigen Sohn hat, erfährt er – tada! – gegen Ende des Buchs. Seine Beziehungen zu Frauen sind auf Sex und Narzissmus basiert und haben nie funktioniert (eine frühere Ehefrau hat partout eins seiner Bücher nicht gelesen). Rettung bringt jetzt eine brasilianische Studentin und Prostituierte, die seinetwegen von ihrem Beruf ablässt und eine Karriere als Kulturwissenschaftlerin aufnimmt. Die berufliche Sphäre des Professors ist äußerst dürftig gezeichnet: Frontalunterricht in Vorlesungen und ein universitäres Arbeitszimmer als einsame Klause. Das entspricht dem tatsächlichen Betrieb einer heutigen Universität so gar nicht, in der es Institute und permanente Kommunikation gibt (die man mögen mag oder nicht).

    Durch das Buch geistern Andeutungen einer von islamischen und kulturalistischen Kräften zersetzten Bundesrepublik, in der Terrorakte und Massenselbstmorde auf der Tagesordnung stehen. In Innenräumen sind Evidenzmonitore installiert, die unter anderem nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr registrieren. An Universitäten macht sich eine Art Gender-FBI breit. Diese Seitenblicke bleiben ohne Bezug zur Story und daher belanglos. An Houellebecq mag dabei denken, wer will.

    Die Erzählung lässt ihre Leser im Unklaren darüber, ob der Protagonist die Heilung seiner Alternsangst in der Transzendenz oder im Sex findet. Diese, seinen eigenen Selbstbehauptungswillen betreffende Frage verlagert er in einem Epilog auf die ganz große Bühne des »Selbstbehauptungswillens unserer Kultur«. Außer ihm selbst sind dort aber keine weiteren Protagonisten anzutreffen.

    Tidbits:

    [•] Das Buch sei ein Massenmedium, heißt es in Schömels Buch. Das findet in der Wissenschaft keine Unterstützung – nur Presse (seit Ende des 19. Jahrhunderts), Radio und Fernsehen sind anerkannte Massenmedien.

    [•] Das Phonogeräte von Körting gab es in den 1950ern und 1960ern exklusiv bei Neckermann, nicht bei Quelle.


    Wolfgang Schömel: Heimfahrt. Amazon 2018