Kategorie: Rezensionen

  • Die Zukunft des Lesens?

    Christoph Engemann beobachtet und beschreibt seit vielen Jahren Besonderheiten der digitalen Medienwelt – spontan erinnere ich mich an Themen wie digitale Identität, die »Verschränkung« von Maschinen und Körpern und das von ihm in die Diskussion über digitale Netzwerke und Plattformen eingebrachte Stichwort »Graphennahme«. Bei letzterem geht es um die Datenstrukturen, die in Netzwerken jeden einzelnen Nutzer und jede einzelne Aktion als dynamische Relation aufzeichnen, um sie für die Plattform-Betreiber, also Graphen»nehmer«, kommerziell und für andere Zwecke nutzbar zu machen. Die ersten Leser aller Schreibakte auf einer Plattform sind die graphengenerierenden Maschinen. Schreibakte sind dabei jedoch nicht nur schriftliche Hervorbringungen von menschlichen Individuen, sondern auch Audio- und Videoströme, die automatisch und hinter dem Rücken der Akteure in Texte übersetzt werden – und manchmal als automatische Transkripte z. B. bei Youtube auch für Nutzer sichtbar werden.

    Das zentrale neue Schlagwort des Buchs ist die »Plattform-Oralität«. Beschrieben wird damit der Übergang vom Schreibzeug (das Dispositiv Schreibmaschine, an dem Nietzsche laborierte und alle anderen Formen aktiver Schriftlichkeit) zum Sprechzeug, also der Präferenz für akustisch-sprachliche Mitteilungen in digitalen Medien, vor allem auf Social-Media-Plattformen. Zweifellos erfasst Christoph Engemann hier den momentanen Stand der Entwicklung sehr nachvollziehbar und weist auch auf deren Dynamik hin, zu der die rasante Entwicklung der KI beigetragen hat und beiträgt.

    Das Buch will ich deshalb vor allem denen als Augenöffner empfehlen, für die »Lesen« im wesentlichen durch Buchlektüre definiert ist und die sich bislang maximal über die Differenz des Lesens von Texten auf Papier und auf Displays Gedanken machen. Ich möchte jedoch hier noch einige Anmerkungen machen. Es geht um Aspekte, deren Berücksichtigung ich erwartet habe, die jedoch im Buch nicht angesprochen werden.

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  • Antikonstruktivistischer Terror

    Der Plot ist nicht sonderlich verwickelt. Eine querschnittgelähmte junge Frau, die viel im Rollstuhl herumfährt, gerät in Wien in eine philosophische Guerilla-Gruppe. Zur Gruppe gehören:

    • Bernward, ein ehemaliger Philosophiedozent,
    • eine schon ältere Frau, die auch Philosophie studiert hat, vor Jahrzehnten mit der deutschen RAF sympathisierte, sich mit Sprengstoff auskennt und jetzt »Chirurgin« genannt wird,
    • Paul, ein ehemaliger Student des Dozenten,
    • Brigitte, eine Unternehmertochter.

    Die Gruppe, die sich den Namen Aletheia (Wahrheit) gegeben hat, will die verlorene Wahrheitsorientierung in der Gesellschaft wiederherstellen. Über das Buch verstreut sind nummerierte Absätze aus einem Manifest. In diesem wird die in der kontinentalen Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts – im Einklang mit den Erkenntnissen der Neurophysiologie – stattgefundene Infragestellung einer objektiven, verbindlichen und für alle gültigen Wahrheit attackiert.

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  • Fretten

    Das Buch erschien zuerst 2022. Fretten bedeutet sich mühen, sich abplagen. Ein bisschen trifft das auch auf die Lektüre zu. Helena Adler, die 2024 starb, mutet Leserinnen und Lesern zu, mit einem Roman zurecht zu kommen, der eigentlich keiner ist. Es gibt keinen durchgängigen narrativen Bogen, keinen Plot. Erzählerin ist eine junge Frau, die aus der Provinz stammt und deutlich macht, dass sie ihr noch angehört. Es geht später auch um Mutterschaft, um ein krankes Kind, um Todesgedanken.

    Es gibt 21 Kapitel, die jeweils so wie ein mehr oder weniger bekanntes Bild aus der Kunstgeschichte betitelt sind, also z. B. Night Hawks, Twenty Marilyns, Der Ursprung der Welt. Die Kapitel sind recht kurz und sozusagen erzählende Bilder. Sie nehmen allerdings fast nie die Motive der durch die Titel herbeizitierten Kunstwerke auf, berühren sie manchmal kurz und oberflächlich, entsprechen allerdings auch manchmal den Stimmungen der bildlichen Darstellungen.

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  • Unmöglicher Abschied

    In den Wochen, in denen ich mich vor allem mit den Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz beschäftigt habe, für die 2024 vier Männer Nobelpreise erhielten (2 x Chemie, 2 x Physik), habe ich nebenbei auch das Buch von Han Kang gelesen, die 2024 den Nobelpreis für Literatur erhielt.

    Dieses Buch verdient einen Warnhinweis. Es ist voller Grausamkeiten, die zunächst eine subtile Form haben, wie die präzisen Beschreibungen von körperlichen Schwächezuständen und der postoperativen Behandlung zweier replantierter Finger. Damit das Zusammenwachsen gelingen kann, müssen die Wunden immer wieder geöffnet werden. Wenn das eine Metapher zur Teilung Koreas sein soll, wie ein Rezensent meinte, müsste sie aber andersherum aufgezogen werden: Erst wenn das Zusammenwachsen gelungen ist, können die Wunden heilen.

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  • Weggelesen (10)

    Sasa Stanišić: Möchte die Witwe …

    Seit einigen Monaten lese ich zum »Herunterkommen« neben der eigenen Arbeit (eher: vor und nach) ein Buch nach dem anderen, das thematisch nichts mit meinem Thema, den Family Affairs der Booles, Taylors und Hintons, zu tun hat. Hier der vorläufig letzte Teil des kurzen Rückblicks.

    Das Buch besteht aus einer Art Reigen von Erzählungen. Sie sollen in der angebotenen Reihenfolge gelesen werden, teilt der Autor auf einer Vorspannseite mit. Ich halte das nicht für nötig, auch wenn ich die lenkende Absicht verstehe: das Personal früherer Erzählungen kommt auch in späteren wieder vor. Die Schreibweise ist zumindest in einigen Geschichten knapp, lakonisch, distanziert. Das ist mir durchaus sympathisch. Die Geschichten selbst und ihr Personal interessieren mich allerdings nicht. Es handelt sich überwiegend um Geplauder, dem ein Fokus fehlt. Selbst Stanišićs Spiel mit Erzählstrukturen bleibt fade. In einer auf Helgoland spielenden Geschichte tritt der Erzähler ab und an in den Vordergrund, bietet binnenerzählerische Varianten an, die dann so banal wie ihre Umgebung bleiben. Ich wollte immer schon etwas von diesem Autor lesen und bin jetzt verunsichert: Ist dies ein Nebenwerk oder ist er das?

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    Sasa Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. München: Literaturverlag Luchterhand in der Penguin Random House Verlagsgruppe, 2024.