Seit einigen Monaten lese ich zum »Herunterkommen« neben der eigenen Arbeit (eher: vor und nach) ein Buch nach dem anderen, das thematisch nichts mit meinem Thema, die Family Affairs der Booles, Taylors und Hintons, zu tun hat. In dieser kleinen Serie blicke ich auf einen Teil dieser Lektüre zurück.
Das Buch besitze ich seit 1994, und ich habe schon drei- oder viermal versucht, es zu lesen. Nach ein paar Jahren ist vergessen, warum ich es nicht weiterlesen wollte, und ein neuer Versuch wird gestartet. Diesmal war es anders. Erst konnte ich mich an gar nichts mehr erinnern, weder an den Osloer Ich-Erzähler noch an die anderen Personen, dann fiel mir plötzlich der Plot wieder ein, so nach 60, 70 Seiten. Da war das Buch dann für mich erledigt.
Ein Mann, der ein ödes Leben als Programmierer führt, bringt Männer um, die interessantere Geschichten zu bieten haben als er. Die Morde geschehen in der gleichen Belanglosigkeit wie alles andere in seinem Alltag, einschließlich der sexuellen Beziehung zu seiner Freundin Ingeborg. Als sich die Morde häufen, die ohne jede Emotion begangen werden, bittet die Polizei den Protagonisten aufgrund seiner Fachkompetenz – strukturiertes Denken, Auswertung von Daten, Herstellung von Verknüpfungen – um Mithilfe. Na gut, nette Idee.
Das Buch endet so belanglos wie es angefangen hat. Ich habe es ab Seite 70 nur in großen Sprüngen gelesen und fand es mehr und mehr uninteressant. Weiß nicht, warum Kjaerstad oft gelobt wurde. Hoffentlich wegen anderer Bücher.
Jan Kjaerstad: Rand. Roman. Frankfurt am Main: Eichborn (Die Andere Bibliothek), 1994.
Normen Gangnus: »… mit zerrissenem Schlaf im Gesicht«
Seit einigen Monaten lese ich zum »Herunterkommen« neben der eigenen Arbeit (eher: vor und nach) ein Buch nach dem anderen, das thematisch nichts mit meinem Thema, die Family Affairs der Booles, Taylors und Hintons, zu tun hat. In dieser kleinen Serie blicke ich auf einen Teil dieser Lektüre zurück.
Die Konstruktion dieses Buchs basiert auf einem großen Irrtum. Der Autor nimmt offenbar an, es könnte für Leser interessant sein, ihnen auf dem Umweg über eine pseudo-dokumentarische Fiktion das Leben in Deutschland in den Jahren 1943 bis 1945 nahezubringen. Der erfundene Verwalter der Göringschen Raubkunstsammlung, viele Briefe und noch viel mehr Fußnoten (1229 auf 792 Seiten) mit ausschweifenden Pseudo-Belegen und pseudo-biographischen Anmerkungen – das habe ich nur hundert Seiten lang ausgehalten. Ich glaube gern, dass der Verfasser viel Spaß an seiner Arbeit hatte, aber er hat sich nicht in seine potentiellen Leser versetzt, die mit der doppelten Belanglosigkeit seines Textes zurechtkommen müssen. Das Ausmalen einer historischen Situation durch unendliche fiktive Alltagsdetails bringt eben nicht die Geschichte »zur Geltung«, wie der Klappentext verspricht, sondern lässt die Sehnsucht nach echten Tagebüchern und echten Erlebnisberichten wachsen – von denen es ja erfreulicherweise eine Menge gibt.
Normen Gangnus: »… mit zerrissenem Schlaf im Gesicht«. Die Aufzeichnungen und Briefe des Arved von Sternheim. Band 2. Die Jahre 1943–1945. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2025.
Christina von Braun & Tilo Held: Kampf ums Unbewusste
Seit einigen Monaten lese ich zum »Herunterkommen« neben der eigenen Arbeit (eher: vor und nach) ein Buch nach dem anderen, das thematisch nichts mit meinem Thema, die Family Affairs der Booles, Taylors und Hintons, zu tun hat. In dieser kleinen Serie blicke ich auf einen Teil dieser Lektüre zurück.
Von den 730 Seiten hat Christina von Braun 498 geschrieben, ihr Mann Tilo Held 137, und 93 Seiten sind Anmerkungen und Register. Die ersten 200 Seiten sind sehr erhellend. In ihnen wird beschrieben, wie in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts das Unbewusste an die Stelle Gottes rückte – und welche Ausgestaltungen das Unbewusste vor Freud und dann durch ihn und seine Zeitgenossen erlebte. Sie erfindet ein Gegensatzpaar – Glauben vs. Vertrauen –, deren Elemente sie wahlweise verschiedenen theoretischen Ausformungen zuordnet. Das funktioniert weitgehend gut mit dem Glauben, aber nach meinem Eindruck oft gar nicht gut mit dem Vertrauen.
Durch die historischen Kapitel bin ich CvB gern gefolgt, mit kleinen Einwänden zu ihren Äußerungen über den Film. Zum Beispiel unterstellt sie Sergei Eisenstein (mit Alexander Etkind, der eine Geschichte der Psychoanalyse in Russland geschrieben hat), er habe die Werke von Sigmund Freud gelesen, nur um sein Filmpublikum perfekt manipulieren zu können. Zu guter Letzt stellt sie Eisenstein auch noch auf eine Stufe mit Leni Riefenstahl. Einige Blicke in die Eisenstein-Biographie von Oksana Bulgakowa hätten genügt, um etwas über Eisensteins Vortrag am Berliner Psychoanalytischen Institut über die »Ausdrucksbewegung« zu erfahren. Er hielt den Vortrag im Oktober 1929 auf Einladung des Institutsdirektors Hanns Sachs. In seiner Theorie der Ausdrucksbewegung geht es ihm um den Konflikt zwischen Triebäußerung und der hemmenden Kraft des Willens und nicht um Massenagitation.
Interessant sind einige Aspekte der Nachkriegszeit, in der die Psychoanalyse sich in einzelne Provinzen teilte: In den USA wurde sie der Medizin zugeschlagen und erfuhr eine Art Christianisierung, in Frankreich verband sie sich mit der Sprachphilosophie und dem Strukturalismus. In Deutschland trat sie die vorher vorhandenen sozial- und kulturkritischen Perspektiven an die Geisteswissenschaften ab.
Im sechsten Kapitel, das den Massenmedien gewidmet ist, wird es dann ziemlich schlimm. »Medien vernetzen nicht nur auf bewusster Ebene, sie formatieren auch das individuelle und kollektive Unbewusste.« So heißt es auf Seite 356, und eine Begründung dafür ist offenbar unnötig. Dass die technischen Medien an der Formung von Gedanken »mitarbeiten«, ist seit Nietzsches Bonmot über sein »Schreibzeug« eine gängige Vermutung. In welcher Weise allerdings Medien auf das Unbewusste einwirken können, wüsste man dann doch gern.
Gustave Le Bon hält CvB, der von Nazis gern gelesen und zitiert wurde, nach wie vor für aktuell: »Le Bons Aktualität verdankt sich nicht nur der Tatsache, dass er die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorausahnte (gegebenenfalls auch modellieren half), sie bietet auch einen Schlüssel zum Verständnis heutiger Verhältnisse (…) Die Masse, so schrieb Le Bon, sei unfähig, ›Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen‹. Das sind Aussagen, die sich auch auf viele aktuelle Situationen und technische Neuerungen übertragen lassen.« (380)
Auch mit ihrer Definition der KI vergreift sie sich: »Es handelt sich um ein in Software geladenes neuronales Netzwerk, für das die Biologie Modell stand, das jedoch nicht über die Lernfähigkeit unserer neuronalen Systeme verfügt.« (412) Die Nobelpreise 2024 an Geoffrey Hinton und John Hopfield (Physik) sowie Demis Hassabis (Chemie) gingen gerade an Wissenschaftler, die mit ihren Systemen die Lernfähigkeit künstlicher neuronaler Systeme (Deep Learning) demonstriert haben. Und nicht umsonst warnt Geoffrey Hinton davor, dass KI-Systeme schon in wenigen Jahren »besser« sein können als Menschen und wir daher unsere Beziehung zu diesen Systemen neu ordnen müssten.
Den Teil von Tilo Held habe ich dann nicht mehr gelesen. Zur Typographie: Ich mag ja die Syntax Serif von Hans Eduard Meier, aber hätte eine etwas geringere Punktgröße gewählt. Nur durchschnittlich 1.650 Zeichen pro Seite machen das Buch zwar dick, aber wirklich lesefreundlich sind die Seiten nicht.
Christina von Braun und Tilo Held: Kampf ums Unbewusste. Eine Gesellschaft auf der Couch. Berlin: Aufbau, 2025.
Seit einigen Monaten lese ich zum »Herunterkommen« neben der eigenen Arbeit (eher: vor und nach) ein Buch nach dem anderen, das thematisch nichts mit meinem Thema, die Family Affairs der Booles, Taylors und Hintons, zu tun hat. In dieser kleinen Serie blicke ich auf einen Teil dieser Lektüre zurück.
Maryam Aras: Dinosaurierkind
Zwei Generationen iranischer Emigranten, die Tochter entdeckt ihren Vater in einem Film über die Proteste gegen den Schah-Besuch 1967. Der Vater lebt seit 1964 in Deutschland, er war ein Anhänger des Ministerpräsidenten Mossadegh, der 1953 aus dem Amt geputscht wurde. Vom britischen und amerikanischen Geheimdienst organisiert, brachte das iranische Militär den Schah an die Macht. Die Folge war die komplette quotenmäßige Kontrolle der iranischen Ölförderung durch amerikanische und europäische Konzerne. Mit ständigen Zeitsprüngen erzählt die Autorin das Leben ihres Vaters in Tehran und in Köln, über den langen Web seiner Einbürgerung und sein Studium in Deutschland – immer wieder gemischt mit Szenen aus dem Iran selbst, die Situation nach der islamischen Revolution der Ajatollahs 1979 und die Opposition auch gegen dieses neue Regime. Verwoben mit all diesen Geschichten und Berichten ist die eigene Biographie der 1982 in Deutschland geborenen Autorin, ihre Suche nach ihren familiären und kulturellen Wurzeln. Der Vater bringt an vielen Stellen des Buchs (eingerückt, kursiv) Anmerkungen und Korrekturen ein. Eine gelungene Montage, auch sehr informativ, und dem Vater, einem der »Dinosaurier« der ersten Generation der Iran-Emigration, kommt man beim Lesen sehr nahe.
so heißt ein Kapitel in Alexander Teskes Buch Inside tagesschau.
Teske berichtet aus dem Maschinenraum der Nachrichtenproduktion, er war selbst sechs Jahre lang Redakteur bei ARD aktuell. Hinter jeder Nachricht, die von der Tagesschau gebracht wird – und hinter jeder, die nicht gebracht wird – stehen Entscheidungen, die innerbetrieblichen Gefühlslagen entsprechen und ganz offenkundig nichts mit der Relevanz eines Geschehens für das deutsche Publikum zu tun haben. Zitat der stellvertretenden Planungschefin: »Mich interessieren die vielen Toten auf Sulawesi gar nicht. Bestell lieber ein Stück zu Kavanaugh«.
Es muss sicher berücksichtigt werden, dass das Buch ein Produkt persönlicher Enttäuschungen ist und nicht von wissenschaftlicher Neugier – wie beispielsweise die ethnographische Studie Inside the TV Newsroom, die Tine Hassall Thomsen 2018 veröffentlichte. Die geschilderten Details sollten allerdings ausreichen, um die öffentlich-rechtlichen Unternehmensleitungen und Aufsichtsgremien aufzurütteln. Die eklatante Schieflage der Auslandsberichterstattung ist dabei nur eins der heiklen Themen, aber offenbar ein Korrelat der strukturellen Probleme des Tagesschau-Journalismus, wie ihn Teske darstellt.
Relevanz ist, was zum Kapuzenpulli passt
Mit vielen anekdotischen Beispielen schildert der Autor das Trauerspiel der zufälligen, von den jeweiligen Marotten und Stimmungslagen von Redakteuren und Chefs vom Dienst abhängigen Auswahlentscheidungen der Tagesschau-Beiträge. Allerdings: Nicht alles ist zufällig. In Hamburg-Lokstedt scheint das Motto zu gelten: Dem Adel verpflichtet. Vor allem die britischen Royals, aber auch andere Königsfamilien können mit ausführlicher Berücksichtigung auf Premiumplätzen rechnen, auch wenn bei ihnen gar nichts geschehen ist, außer dass wieder ein Jahr seit einer Krönung um ist.
Teske erwähnt die »Haltungs«-Logik, die im täglichen Arbeitsablauf hinter vielen Entscheidungen der Chefs vom Dienst steht. Das gezielte Ausblenden von Details (zum Beispiel die Nationalität des Täters oder Opfers einer Gewalttat) und die Verweigerung einer zweiten Perspektive – bzw. überhaupt einer Perspektive, wenn ein Bericht die Autorität über ein Ereignis beansprucht – sind Wesenszüge der Tagesschau-Nachrichten. Sie sind schon oft von außen beobachtet und kritisiert worden, und nun eben von einem Insider, der berichtet, dass er seinen Widerspruch häufig, aber meist vergebens, artikuliert hat.
Einseitigkeit gibt es bei der Tagesschau nicht einfach in Form der manchmal unterstellten Linkslastigkeit – für deren Existenz auch Teske durchaus Beispiele anführt. Er fokussiert hier besonders den ARD-Faktenfinder, der seinem Namen in keiner Weise gerecht wird, denn er sucht oder untermauert nicht Fakten für die eigenen Sendungen, sondern verbreitet ideologische Gegenpropaganda – gegen Russland, gegen die AfD usw. Als ganz besonders einseitig und blind zeichnet das Buch die systematische Ausblendung ostdeutscher Perspektiven in den Nachrichten. Die Vernachlässigung des Ostens – sozusagen Deutschlands Globaler Süden – ist zahlenmäßig leicht belegbar. Sie trägt dazu bei, dass im Westen Deutschlands wenig Verständnis für die Positionsunterschiede der Bürgerinnen in Ost- und Westdeutschland aufkommt, wenn es zum Beispiel um Krieg und Frieden (Ukraine) geht. Programmatisch einseitig ist und bleibt ohnehin auch die Darstellung und Kommentierung der Stellung Deutschlands zum Ukrainekrieg.
Die dreiköpfige Chefredaktion bildet in Bezug auf die Lenkung der Tagesschau im Sinne des staatsvertraglichen Auftrags eine Leerstelle. Die Organisation von Sondersendungen, von prestigeträchtigen Kommentaren und des Programms von tagesschau 24 (eines Fernsehsenders, dessen Abschaltung niemand bemerken würde) ist offenbar eher ihre Domäne. Hinzu kommt die Bespielung von Social-Media-Plattformen mit Junk News, die vermutlich als alters- und mediengerecht gedacht werden.
Keine Gegenvorschläge
Alexander Teske macht keine expliziten Vorschläge dazu, wie die Tagesschau denn anders organisiert und produziert werden sollte. Die derzeitige Organisation, mit den schichtweise wechselnden Chefs vom Dienst als den jeweils Entscheidungsgewaltigen (während die Chefredakteure nur Hintergrundfiguren sind), mit dem Bestellsystem für Beiträge, die von Teams der Landesrundfunkanstalten zu erbringen sind und der quotenorientierten Perspektivenarmut, ist jedoch offenbar einer der Verursacher des täglichen systematischen Chaos bei ARD-aktuell. Die journalistische Qualität ist nicht so schlecht, weil die Beteiligten nicht besser könnten, sondern weil offenbar die gesamte Organisation die Reflexion der eigenen Arbeit im Lichte des öffentlich-rechtlichen Auftrags verweigert. Wie die Tagesschau nicht nur in der öffentlich-rechtlichen Eigen-PR, sondern tatsächlich zu einem bedeutenden Faktor der Meinungsbildung werden könnte, bleibt daher für uns Leser die offene Frage des Buchs.
Dass der Autor sich gegen eine »moderative« Form der TV-Nachrichten wendet, weil sie ein Beispiel für deren zunehmende Boulevardisierung sei, möchte ich ausdrücklich nicht unterstützen. Eine vorgetragene Nachricht, die den Erzählton vermeidet und lehrbuchmäßig die journalistischen W-Fragen abklappert, lässt sich erfahrungsgemäß schlechter memorieren und in eigene Kommunikationen übersetzen als eine narrativ aufgebaute. Wie oft haben wir uns vor dem Bildschirm schon gefragt: Wo ist das passiert – wie heißt der – usw., weil das alles im ersten Satz vorkam, als wir uns noch gar nicht auf den Beginn eines neuen Beitrags in der Tagesschau eingestellt hatten. Ein narrativer, kontextualisierender Einstieg, der dann Schritt für Schritt in ein Ereignis einführt, ist aus psychologischer Sicht dazu weit besser geeignet. Und: Mit Boulevardisierung hat ein narrativer Meldungsaufbau absolut nichts zu tun. Verständlichkeit und Memorierbarkeit sind keine boulevardesken Faktoren, sondern die Voraussetzung für die doch so erwünschte »Anschlusskommunikation« über die Nachrichten.
Alexander Teske: inside tagesschau. Zwischen Nachrichten und Meinungsmache. München: Langen-Müller Verlag, 2025.