Kategorie: Rezensionen

  • Weggelesen (8)

    Das blinde Licht

    Das Buch des in Chile lebenden Autors wird im Klappentext als Roman bezeichnet, aber es ist keiner. Es sind vier unabhängige biographische Essays mit teilweise fiktionalen Ausschmückungen.

    Das erste, Preußischblau, handelt von Drogen. Den Amphetaminen, mit denen Soldaten den Zweiten Weltkrieg durchstanden – Pervitin wurde in großen Mengen konsumiert, wie der Briefwechsel des Soldaten Heinrich Böll belegt.
    Dem Zyankali, mit dem hunderte Nazitäter ihr eigenes Ableben besorgten. Von Zyankali schwenkt Labatut auf das Cyanid, das in Zyklon A und B enthalten ist, und auch im Preußischblau, das Anfang des 19. Jahrhunderts in der Werkstatt des Schweizer Farbenherstellers Jacob Diesbach erfunden wurde. Beteiligt war ein junger Alchemist, Johann Conrad Dippel. Ein anderer Chemiker, der an Farben arbeitete, Carl Wilhelm Scheele, entdeckte unabsichtlich nebenbei das Arsen. Dieser »geduldige Mörder« tötete viele Menschen, und Alan Turing präparierte dabei einer Legende gemäß einen Apfel, in den er dann biss. Die Giftgase im Ersten Weltkrieg und das dort eingesetzte Chlorgas sind mit dem Namen des jüdischen Chemieprofessors Fritz Haber verbunden. Dieser hatte vorher Stickstoffdünger entwickelt, mit dem sich die Düngemittelknappheit bekämpfen ließ. Eine der vielen Anekdoten, die das ganze Buch durchziehen, ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf englische Banden, die im kolonisierten Ägypten insgesamt drei Millionen Skelette ausgruben, um sie zu zermahlen und so als Dünger anzubieten. Die Skelette wurden nach Hull verschifft und in Knochenmühlen in Yorkshire verarbeitet. In Nordamerika wurden angeblich etwa dreißig Millionen Bisonschädel ausgebuddelt, die ebenso in Fabriken zu Düngemitteln und Farben verarbeitet wurden.

    Das zweite Essay, Schwarzschilds Singularität, handelt vom Astronomen und Mathematiker Karl Schwarzschild, der schon vor Einstein die Hypothese von der Krümmung des Raums und der Zeit aufgestellt hatte. Wie er schwerkrank in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs an seiner Idee arbeitete, breitet Labatut auf konkret-anekdotischer Ebene aus.
    Der dritte Teil heißt Das Herz im Herzen und handelt vom japanischen Mathematiker Shinichi Mochizuki, der die abc-Vermutung gelöst zu haben behauptete. Leider ist Labatut offenbar nicht imstande, diese Vermutung zu erklären und schwenkt dann schnell zum Leben von Alexander Grothendieck, der zwischen 1958 und 1973 viele in der Mathematik heiß diskutierte Thesen und Lösungen entwickelte, die Labatut ebenfalls allesamt nicht erklären kann. Stattdessen erfahren die Leser etliche Details aus der aufregenden Hippie-Existenz Grothendiecks.

    Der weitaus längste Teil des Buchs heißt Wenn wir aufhören, die Welt zu verstehen und handelt von den Physikern Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Louis De Broglie und ihrem Umfeld. Es geht um die Diskussion der Teilchen- und Wellennatur der subatomaren Welt und ihre Zusammenführung in der Kopenhagener Deutung. Im Teig der Anekdoten befinden sich kurze Beschreibungen dessen, worum es den Beteiligten sachlich eigentlich ging. Die fiktionalen Anteile – eine ausführlich ausgewalzte Horror-Epiphanie Heisenbergs ist darunter – sind langweilig. Erheiternd ist ein Zitat aus einem Brief von Einstein über Heisenberg: »Ein wahres Hexeneinmaleins mit unendlichen Determinanten (Matrizen) anstelle der cartesischen Koordinaten. Höchst geistreich und so kompliziert, dass sie gegen den Beweis der Unrichtigkeit hinlänglich geschützt ist.«

    Ich werde demnächst das Buch Helgoland von Carlo Rovelli probieren. Auf Helgoland hat Heisenberg 1925 fieberhaft an seinen Berechnungen/Matrizen gearbeitet, und ich hoffe einfach, dass Rovelli es versteht, mich als Leser für die physikalischen Erkenntnisse zu interessieren. Labatut hat das nicht vermocht, zumal er kaum etwas über sie schreibt.

    -——
    Benjamín Labatut: Das blinde Licht. Irrfahrten der Wissenschaft. Berlin: Suhrkamp, 2020.

  • Weggelesen (7)

    Volker Reinhardt: Der nach den Sternen griff

    Giordano Bruno ist eine höchst aktuelle Figur. Seine letzten acht Lebensjahre – von nur 52 – verbrachte er in Gefängnissen der katholischen Inquisition in Venedig und Rom. Am 17. Februar 1600 wurde er als Ketzer verbrannt. Er war einer der besten Kenner der antiken Philosophen und der christlichen theologischen Tradition. Auf seinen Reisen, die im Prinzip alle Fluchten waren, kam er von Nola bzw. Neapel über Rom und Venedig, Genf, Toulouse, Paris, London, Oxford, Marburg, Wittenberg, Prag, Helmstedt und einige andere Orte zurück nach Venedig. Den christlichen Glauben hatte er längst verloren, und überall wurde er deshalb ausgegrenzt und bedroht. Dennoch verstand er es immer wieder, Mäzene zu finden, die ihm sein Leben und die Publikation seiner Bücher finanzierten. In diesen ging es um die Bestätigung und Erweiterung des kopernikanischen Weltbildes, um Grundfragen der Naturerkenntnis, um die Gedächtniskunst und andere grundlegende Probleme, deren Bearbeitung unter dem dogmatischen Druck der christlichen Theologie seit der Spätantike unterbrochen war.

    Volker Reinhardt zeichnet Brunos Leben und Arbeiten chronologisch nach und setzt keine expliziten Gewichtungen. Allerdings kommen die aufrührerischen Werke, die der »Nolaner« in England schrieb, stärker zur Geltung als beispielsweise seine Arbeiten zur Gedächtniskunst (was ich ein wenig bedaure). Die Antitheologie, also »die Polemik gegen Christus, den stümperhaften Magier, der mit seiner Ankündigung, dass das Ende der Welt bevorsteht, die Natur herabwürdigt, mit seiner Erlösungsbotschaft das Wesen des Menschen verzerrt und eine dessen Wesen unangemessene, perverse Moral lehrt« ist allerdings ebenso spannend wie Brunos Kosmologie. In seiner Sicht hat der unendliche Gott auch unendlich viele Universen geschaffen, in denen es auch überall intelligente Lebensformen gibt, die wir nicht kennen. Warum er in seine Weltbeschreibung auch ein mystisches Element aufnimmt, bleibt unklar. Dass zwischen den Universen Seelenwanderungen stattfinden, wird jedenfalls die christlichen Theologen erregt haben.

    Ein Blick hinüber nach Amerika, wo eine Politik auflebt, die starke inquisitorische Züge aufweist und nicht nur Menschen jenseits der Normativitäten des neunzehnten Jahrhunderts verachtet und verfolgt, sondern auch die Erkenntnisse von Natur- und Sozialwissenschaften an den Pranger stellt, belegt, weshalb der mutige Ketzer Giordano Bruno nicht vergessen werden darf.


    Volker Reinhardt: Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno. Ein ketzerisches Leben. München: C. H. Beck, 2024.

  • Weggelesen (6)

    Jan Kjaerstad: Rand

    Das Buch besitze ich seit 1994, und ich habe schon drei- oder viermal versucht, es zu lesen. Nach ein paar Jahren ist vergessen, warum ich es nicht weiterlesen wollte, und ein neuer Versuch wird gestartet. Diesmal war es anders. Erst konnte ich mich an gar nichts mehr erinnern, weder an den Osloer Ich-Erzähler noch an die anderen Personen, dann fiel mir plötzlich der Plot wieder ein, so nach 60, 70 Seiten. Da war das Buch dann für mich erledigt.

    Ein Mann, der ein ödes Leben als Programmierer führt, bringt Männer um, die interessantere Geschichten zu bieten haben als er. Die Morde geschehen in der gleichen Belanglosigkeit wie alles andere in seinem Alltag, einschließlich der sexuellen Beziehung zu seiner Freundin Ingeborg. Als sich die Morde häufen, die ohne jede Emotion begangen werden, bittet die Polizei den Protagonisten aufgrund seiner Fachkompetenz – strukturiertes Denken, Auswertung von Daten, Herstellung von Verknüpfungen – um Mithilfe. Na gut, nette Idee.

    Das Buch endet so belanglos wie es angefangen hat. Ich habe es ab Seite 70 nur in großen Sprüngen gelesen und fand es mehr und mehr uninteressant. Weiß nicht, warum Kjaerstad oft gelobt wurde. Hoffentlich wegen anderer Bücher.


    Jan Kjaerstad: Rand. Roman. Frankfurt am Main: Eichborn (Die Andere Bibliothek), 1994.

  • Weggelesen (5)

    Normen Gangnus: »… mit zerrissenem Schlaf im Gesicht«

    Die Konstruktion dieses Buchs basiert auf einem großen Irrtum. Der Autor nimmt offenbar an, es könnte für Leser interessant sein, ihnen auf dem Umweg über eine pseudo-dokumentarische Fiktion das Leben in Deutschland in den Jahren 1943 bis 1945 nahezubringen. Der erfundene Verwalter der Göringschen Raubkunstsammlung, viele Briefe und noch viel mehr Fußnoten (1229 auf 792 Seiten) mit ausschweifenden Pseudo-Belegen und pseudo-biographischen Anmerkungen – das habe ich nur hundert Seiten lang ausgehalten. Ich glaube gern, dass der Verfasser viel Spaß an seiner Arbeit hatte, aber er hat sich nicht in seine potentiellen Leser versetzt, die mit der doppelten Belanglosigkeit seines Textes zurechtkommen müssen. Das Ausmalen einer historischen Situation durch unendliche fiktive Alltagsdetails bringt eben nicht die Geschichte »zur Geltung«, wie der Klappentext verspricht, sondern lässt die Sehnsucht nach echten Tagebüchern und echten Erlebnisberichten wachsen – von denen es ja erfreulicherweise eine Menge gibt.


    Normen Gangnus: »… mit zerrissenem Schlaf im Gesicht«. Die Aufzeichnungen und Briefe des Arved von Sternheim. Band 2. Die Jahre 1943–1945. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2025.

  • Weggelesen (3)

    Christina von Braun & Tilo Held: Kampf ums Unbewusste

    Von den 730 Seiten hat Christina von Braun 498 geschrieben, ihr Mann Tilo Held 137, und 93 Seiten sind Anmerkungen und Register.
    Die ersten 200 Seiten sind sehr erhellend. In ihnen wird beschrieben, wie in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts das Unbewusste an die Stelle Gottes rückte – und welche Ausgestaltungen das Unbewusste vor Freud und dann durch ihn und seine Zeitgenossen erlebte. Sie erfindet ein Gegensatzpaar – Glauben vs. Vertrauen –, deren Elemente sie wahlweise verschiedenen theoretischen Ausformungen zuordnet. Das funktioniert weitgehend gut mit dem Glauben, aber nach meinem Eindruck oft gar nicht gut mit dem Vertrauen.

    Durch die historischen Kapitel bin ich CvB gern gefolgt, mit kleinen Einwänden zu ihren Äußerungen über den Film. Zum Beispiel unterstellt sie Sergei Eisenstein (mit Alexander Etkind, der eine Geschichte der Psychoanalyse in Russland geschrieben hat), er habe die Werke von Sigmund Freud gelesen, nur um sein Filmpublikum perfekt manipulieren zu können. Zu guter Letzt stellt sie Eisenstein auch noch auf eine Stufe mit Leni Riefenstahl. Einige Blicke in die Eisenstein-Biographie von Oksana Bulgakowa hätten genügt, um etwas über Eisensteins Vortrag am Berliner Psychoanalytischen Institut über die »Ausdrucksbewegung« zu erfahren. Er hielt den Vortrag im Oktober 1929 auf Einladung des Institutsdirektors Hanns Sachs. In seiner Theorie der Ausdrucksbewegung geht es ihm um den Konflikt zwischen Triebäußerung und der hemmenden Kraft des Willens und nicht um Massenagitation.

    Interessant sind einige Aspekte der Nachkriegszeit, in der die Psychoanalyse sich in einzelne Provinzen teilte: In den USA wurde sie der Medizin zugeschlagen und erfuhr eine Art Christianisierung, in Frankreich verband sie sich mit der Sprachphilosophie und dem Strukturalismus. In Deutschland trat sie die vorher vorhandenen sozial- und kulturkritischen Perspektiven an die Geisteswissenschaften ab.

    Im sechsten Kapitel, das den Massenmedien gewidmet ist, wird es dann ziemlich schlimm. »Medien vernetzen nicht nur auf bewusster Ebene, sie formatieren auch das individuelle und kollektive Unbewusste.« So heißt es auf Seite 356, und eine Begründung dafür ist offenbar unnötig. Dass die technischen Medien an der Formung von Gedanken »mitarbeiten«, ist seit Nietzsches Bonmot über sein »Schreibzeug« eine gängige Vermutung. In welcher Weise allerdings Medien auf das Unbewusste einwirken können, wüsste man dann doch gern.

    Gustave Le Bon hält CvB, der von Nazis gern gelesen und zitiert wurde, nach wie vor für aktuell: »Le Bons Aktualität verdankt sich nicht nur der Tatsache, dass er die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorausahnte (gegebenenfalls auch modellieren half), sie bietet auch einen Schlüssel zum Verständnis heutiger Verhältnisse (…) Die Masse, so schrieb Le Bon, sei unfähig, ›Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen‹. Das sind Aussagen, die sich auch auf viele aktuelle Situationen und technische Neuerungen übertragen lassen.« (380)

    Auch mit ihrer Definition der KI vergreift sie sich: »Es handelt sich um ein in Software geladenes neuronales Netzwerk, für das die Biologie Modell stand, das jedoch nicht über die Lernfähigkeit unserer neuronalen Systeme verfügt.« (412) Die Nobelpreise 2024 an Geoffrey Hinton und John Hopfield (Physik) sowie Demis Hassabis (Chemie) gingen gerade an Wissenschaftler, die mit ihren Systemen die Lernfähigkeit künstlicher neuronaler Systeme (Deep Learning) demonstriert haben. Und nicht umsonst warnt Geoffrey Hinton davor, dass KI-Systeme schon in wenigen Jahren »besser« sein können als Menschen und wir daher unsere Beziehung zu diesen Systemen neu ordnen müssten.

    Den Teil von Tilo Held habe ich dann nicht mehr gelesen. Zur Typographie: Ich mag ja die Syntax Serif von Hans Eduard Meier, aber hätte eine etwas geringere Punktgröße gewählt. Nur durchschnittlich 1.650 Zeichen pro Seite machen das Buch zwar dick, aber wirklich lesefreundlich sind die Seiten nicht.


    Christina von Braun und Tilo Held: Kampf ums Unbewusste. Eine Gesellschaft auf der Couch. Berlin: Aufbau, 2025.