Kategorie: Rezensionen

  • Marx-Dämmerung

    Das Programm des Buchs ist von Vornherein klar: »Es soll seinen Beitrag zur Rekonstruktion der Kritischen Theorie leisten, die ihrerseits immer schon eine Rekonstruktion des Historischen Materialismus auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit gewesen ist« (9). Dass dann ein Drittel des Buchs ein Marx-Seminar ist, das mich an die frühen Siebziger erinnert, wundert mich trotzdem. Georg Lukács, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin gaben ihre frühen neukantianischen Perspektiven auf und setzten sich – auch – mit den Spannungen zwischen der Produktivkraftentwicklung und den herrschenden Produktionsverhältnissen auseinander. Eine Nachzeichnung dieses Wandels anhand der Schriften dieser und anderer Autoren findet leider nicht statt. Stattdessen steht der mehr oder weniger vollständige Zuwendung an die marxistische Geschichtsauffassung im Vordergrund. Voller analysiert im letzten Drittel des Buchs exemplarisch das Marxismus-Verständnis von Georg Lukács, des weitgehend vergessenen Alfred Seidel und von Alfred Sohn-Rethel. Sie waren Randfiguren der »Frankfurter Schule«, wurden von Adorno und anderen durchaus rezipiert und geschätzt, aber hatten keinen nachhaltigen Einfluss auf die Arbeiten des von Max Horkheimer geleiteten Instituts. Horkheimer, Adorno und andere, auch der frühe Habermas, haben fast selbstverständlich an historisch-materialistische Erklärungen angeknüpft. Daran erinnert das Buch. Eine Interpretationshilfe beispielsweise der Negativen Dialektik geht daraus nicht hervor. Und auch nicht, warum und wie heutige Soziologen und Kulturwissenschaftler die historischen Entwicklungsstränge der Kritischen Theorie für aktuelle Fragestellungen produktiv machen können. Der Hinweis darauf, dass der Historische Materialismus seit einiger Zeit wieder Zuspruch findet, genügt (mir) nicht.


    Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie. Matthes & Seitz Berlin, 2022.

  • Im Exil versunken

    Kurz und knapp: Nach einem Viertel des Buchs habe ich es weggelegt. Ulrike Draesner hat sich in die Lebenswelt von Kurt Schwitters von 1936 bis zu seinem Tod 1948 hineingedacht und zelebriert eine Teilnahme an seinem Alltag, nebst Frau, Sohn, Schwiegertochter, Geliebter. In diesee Anverwandlung breitet sie atemlos uninteressante Details aus. Des kranken Schwitters’ Überleben im norwegischen und englischen Exil ist für mich kein Stoff, den ich 450 Seiten lang durchhalte. Die drei Merzbauten werden ständig erwähnt, bekommen jedoch im Text nie eine konkrete Gestalt.

    Wegen der expressiven Schreibweise vielleicht ein gutes Buch zum Vorlesen. Beim Selberlesen scheitere ich, weil ich das Gefühl habe, dass mir etwas aufgedrängt wird, was ich so nicht wissen will und genießen kann.


    Ulrike Draesner: Schwitters. Roman. München: Penguin, 2020.

  • Helden, gewürdigt

    Ulrike Draesners Essaysammlung aus dem Jahr 2013 habe ich gelesen, um einen neuen Einstieg in ihr Schwitters-Buch zu finden, das ich im letzten Jahr schon angefangen hatte, dann aber unterbrach, weil ich mitten in einer anderen Arbeit mit vielen Lektürezwängen steckte. Es ist jetzt wieder auf meinem Plan, wie auch Draesners neuestes Buch Die Verwandelten. Diese beiden letztgenannten Texte sind als »Romane« gekennzeichnet, aber ich bin vorsichtig.

    Heimliche Helden enthält Zweitveröffentlichungen von Lektüren und Würdigungen, die zum Teil als Nachworte geschrieben wurden. Qualität und Dichte sind recht unterschiedlich. Sehr angesprochen haben mich vier Arbeiten: über die Fab Four der Nibelungensaga, über Johann Peter Hebel, über den Insektenforscher Jean-Henri Fabre und über Tania Blixen. Die anderen enthalten weniger Substanz, und die über Hans Joachim Schädlich, Gerd-Peter Eigner und Gerhard Falkner lesen sich ein wenig wie Gefälligkeitsarbeiten. Der über Heinrich von Kleist ist als Begleitmusik zu Wolf Kittlers Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie akzeptabel, aber erinnert nur daran, auf jeden Fall auch dieses 1987 erschienene Werk Kittlers zur Kenntnis zu nehmen.

    Bei den genannten vier Texten macht es (mir) große Freude, die Lektüre Draesners mit- und nachzuvollziehen, die immer mit Reflexion verknüpft ist. Ihre Interpretationen ermöglichen eine Teilhabe an den Erzählungen der Nibelungen, an der Arbeit von Hebel und Fabre und am Schicksal der vielfach gescheiterten autofiktionalen Autorin Blixen, die nicht verstand, was sie erlebt hatte (und beschrieb). Der Ton ist oft heiter-entspannt, aber die Beobachtungen Draesners sind sehr genau und fokussieren wichtige und interessante Punkte ihrer Gegenstände – ohne je dabei zu behaupten, es seien die wesentlichen. Ich finde, das macht gute Essays aus.


    Ulrike Draesner: Heimliche Helden. Essays. München: Luchterhand Literaturverlag, 2013.

  • Arbeit am Index


    Hartmut Geerken: Kant. Spenge: Klaus Ramm, 1998.

  • Claus Bremer

    Die Wirtschaft, die meistbietende versucht, uns zu ihrem Vorteil einzureden, dass Kirche Kirche ist und Berg Berg – dass doppeltgemoppelt wird, – Soldat = Soldat, Panzer = Panzer, Krieg = Krieg. Wenn ich die Gleichungen mit Lesende = Lesende fortsetze, ist der Blödsinn umrissen. Sehen wir uns den Soldaten näher an, lesen wir ihn: — Hier wird Liebe befohlen, mit Gewalt für Liebe gesorgt. Der Soldat als Mittel seiner Abschaffung. Entsprechend der einzelne Panzer, der als Waffe benutzt wird, die die Nichtbenutzung von Waffen erkämpft. Der Panzer = das Kampfverbot. Das Kampfverbot = der Panzer. Der Panzer als Denkmal seiner Abschaffung. (…) Sich selbst entwaffnende Gewalt. Gewalt, die sich nach Anwendung aufhebt (was ihren Ein-für-allemal-Sieg voraussetzt). [60f.]


    Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Ein Essay. Zürich: orte-Verlag, 1983