Kategorie: Rezensionen

  • Weggelesen (3)

    Christina von Braun & Tilo Held: Kampf ums Unbewusste

    Von den 730 Seiten hat Christina von Braun 498 geschrieben, ihr Mann Tilo Held 137, und 93 Seiten sind Anmerkungen und Register.
    Die ersten 200 Seiten sind sehr erhellend. In ihnen wird beschrieben, wie in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts das Unbewusste an die Stelle Gottes rückte – und welche Ausgestaltungen das Unbewusste vor Freud und dann durch ihn und seine Zeitgenossen erlebte. Sie erfindet ein Gegensatzpaar – Glauben vs. Vertrauen –, deren Elemente sie wahlweise verschiedenen theoretischen Ausformungen zuordnet. Das funktioniert weitgehend gut mit dem Glauben, aber nach meinem Eindruck oft gar nicht gut mit dem Vertrauen.

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  • Weggelesen (1)

    Maryam Aras: Dinosaurierkind

    Zwei Generationen iranischer Emigranten, die Tochter entdeckt ihren Vater in einem Film über die Proteste gegen den Schah-Besuch 1967. Der Vater lebt seit 1964 in Deutschland, er war ein Anhänger des Ministerpräsidenten Mossadegh, der 1953 aus dem Amt geputscht wurde. Vom britischen und amerikanischen Geheimdienst organisiert, brachte das iranische Militär den Schah an die Macht. Die Folge war die komplette quotenmäßige Kontrolle der iranischen Ölförderung durch amerikanische und europäische Konzerne. Mit ständigen Zeitsprüngen erzählt die Autorin das Leben ihres Vaters in Tehran und in Köln, über den langen Web seiner Einbürgerung und sein Studium in Deutschland – immer wieder gemischt mit Szenen aus dem Iran selbst, die Situation nach der islamischen Revolution der Ajatollahs 1979 und die Opposition auch gegen dieses neue Regime. Verwoben mit all diesen Geschichten und Berichten ist die eigene Biographie der 1982 in Deutschland geborenen Autorin, ihre Suche nach ihren familiären und kulturellen Wurzeln. Der Vater bringt an vielen Stellen des Buchs (eingerückt, kursiv) Anmerkungen und Korrekturen ein. Eine gelungene Montage, auch sehr informativ, und dem Vater, einem der »Dinosaurier« der ersten Generation der Iran-Emigration, kommt man beim Lesen sehr nahe.


    Maryam Aras: Dinosaurierkind. Berlin: Claassen, 2025.

  • Inside Tagesschau

    Ungleich verteilt: Die Auslandsberichterstattung

    so heißt ein Kapitel in Alexander Teskes Buch Inside tagesschau.

    Teske berichtet aus dem Maschinenraum der Nachrichtenproduktion, er war selbst sechs Jahre lang Redakteur bei ARD aktuell. Hinter jeder Nachricht, die von der Tagesschau gebracht wird – und hinter jeder, die nicht gebracht wird – stehen Entscheidungen, die innerbetrieblichen Gefühlslagen entsprechen und ganz offenkundig nichts mit der Relevanz eines Geschehens für das deutsche Publikum zu tun haben. Zitat der stellvertretenden Planungschefin: »Mich interessieren die vielen Toten auf Sulawesi gar nicht. Bestell lieber ein Stück zu Kavanaugh«.

    Es muss sicher berücksichtigt werden, dass das Buch ein Produkt persönlicher Enttäuschungen ist und nicht von wissenschaftlicher Neugier – wie beispielsweise die ethnographische Studie Inside the TV Newsroom, die Tine Hassall Thomsen 2018 veröffentlichte. Die geschilderten Details sollten allerdings ausreichen, um die öffentlich-rechtlichen Unternehmensleitungen und Aufsichtsgremien aufzurütteln. Die eklatante Schieflage der Auslandsberichterstattung ist dabei nur eins der heiklen Themen, aber offenbar ein Korrelat der strukturellen Probleme des Tagesschau-Journalismus, wie ihn Teske darstellt.

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  • Zauberberg, zweiter Versuch

    Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, daß der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. (Daniel Kehlmann)

    Mag sein, dass das für den Roman zutrifft, auch wenn mir die Verteilung des Stoffes nicht völlig einleuchtet. Für mich trifft es allerdings absolut nicht zu. Mich machen hunderte von Seiten an moribunden Beobachtungen und Überlegungen nur beklommen. Andererseits kann die Phase unmittelbar vor 1914 mit einem gewissen Recht als präfinal bezeichnet werden, wie das letzte Stadium einer Krankheit, und die Atmosphäre in Davos steht für die Situation ganz Europas, das ohne klaren Verstand auf das Völkerschlachten zu taumelt.

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  • Nicht mein Bioskop

    Nach 350 Seiten habe ich aufgegeben. Ich verstehe, nicht, warum so viele Rezensenten sich »gefesselt« und fasziniert geben von der ausschweifenden Erzählung Clemens Meyers. Mich hat die Mischung von Geschichte und Geschichten nicht gebannt, obwohl ich immer wieder versucht habe, einige der Erzählschichten interessant zu finden – die Partisanenaktionen gegen die deutsche Wehrmacht, die Figur Lex Barkers (mit der Silberplatte im Schädel), die leider immer etwas unklaren Karl »Dr.« May-Anspielungen, die politischen Nachkriegswirren in Jugoslawien usw. Ich wollte regelrecht, dass sich Meyer als ein neuer Pynchon entpuppt. Da half letztlich aber auch die Entdeckung von Anspielungen auf Jünger, Malaparte und andere Autoren nicht. Angesichts meiner Kapitulation vor den letzten zwei Dritteln des Buchs wäre es nicht gerecht, Clemens Meyer dafür verantwortlich zu machen, dass mich der Wust seines zusammenrecherchierten Materials und die daraus gezogene Thematik nicht interessiert hat. Ich ziehe mich mit Bedauern zurück.


    Clemens Meyer: Die Projektoren. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2024.