Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • In Peking mit Bei Dao

    Das Stadttor geht auf - Bücher - Hanser Literaturverlage
    Das Stadttor geht auf – Bücher – Hanser Literaturverlage

    Das Stadttor geht auf ist eine autobiographische Collage. Ihre Kapitel lauten unter anderem: Klänge, Gerüche, Möbel, Schallplatten. Später geht es um Tätigkeiten wie Angeln und um Orte wie Shanghai und verschiedene Schulen. Bei Dao (Zhao Zhenkai) wurde 1949 geboren, seine Mutter war Ärztin, sein Vater Angestellter einer Versicherung. Der Vater war Mitglied einer der 8 Blockflöten-Parteien, die in China neben der KP auch heute noch zugelassen sind. Bei Dao schreibt seit seiner Jugend vor allem Lyrik. Er bekam 2005 den Bremerhavener Jeannette-Schocken-Preis. Viel Bai Dao gibt es auf Youtube (Gedichte oft mit englischer Übersetzung, von Eliot Weinberger).

    Das Erzählen in Momentaufnahmen und die Sammlung von Erinnerungen, die einer Person oder einem Ort zugeordnet sind, hat große Vorteile gegenüber der chronologischen Reihung. Anmutungen von Kausalität werden ebenso vermieden wie erdie Verlockungen der episodischen Dramatisierung. Die kleinen Kapitel stehen für sich, sie sind wie Bilder aufgereiht. Das letzte und längste Kapitel ist den letzten Begegnungen mit dem Vater gewidmet, der zeitlebends ein stiller und ein wenig ängstlicher Oppositioneller war und viele Jahre Landarbeit machen musste, statt seine Karriere im Versicherungswesen fortzusetzen. Bei Dao selbst war in der 1966 beginnenden Kulturrevolution aktiv. Er berichtet unter anderem von einer beschämenden Attacke auf einen vermeintlichen Konterrevolutionär aus der Nachbarschaft, der vonihm und einigen Freunden aus seiner Wohnung gezerrt und einige Tage in einen Keller gesperrt wurde.

    Wir schoben der Reihe nach Wache, und zwar in drei Schichten. Abgesehen davon, dass wir ihm rechtzeitig Essen brachten, begleiteten wir ihn noch zur Toilette. Uns plagten die Ängste, er könnte sich aus dem Staub machen oder sich das Leben nehmen. Nach zwei Tagen waren wir ausgelaugt, wir gähnten um die Wette. Wir mussten ihn laufen lassen. (142)

    Zeitlich erstrecken sich die erzählten Passagen über die 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre. Die engen Wohnverhältnisse (6 Personen teilen sich 2 Zimmer, mehr als 10 Personen eine Küche und ein Bad) werden am Rande immer wieder erwähnt. Obwohl die Familie Bei Daos zur Elite des Landes gehörte, wird diese Situation als ganz gewöhnlich hingenommen. Der Autor, der nach langem Aufenthalt außerhalb Chinas jetzt wieder in Peking und Hongkong lebt, lässt die Beschreibungen so stehen, ohne ihnen als Kontrast etwa die heutige Wohn- und Lebenssituation in Peking hinzuzufügen. Dennoch regt das Buch zu einem Vergleich an: mit den west- und ostdeutschen Verhältnissen in derselben Zeitspanne. Peking, das 1960 schon annähernd fünf Millionen Einwohner zählte, erscheint in Bei Daos Beschreibungen annähernd als ländliche Abenteuerlandschaft, durchsetzt mit beeindruckend vielen Imbissständen, die auch schon von Kindern frequentiert werden.

    Bei Daos Eltern beschäftigten für ihn und seine beiden jüngeren Geschwister eine Kinderfrau und Köchin, genannt Tante Qiao. Diese hatte eine Halbschwester, die in einer anderen Stadt ebenfalls als Kinderfrau tätig war. Sie war Analphabetin. Der achtjährige Bei Dao schrieb für Tante Qiao Briefe an ihre Schwester. Er beherrschte erst einige hundert Schriftzeichen (und setzte für die Wörter, für die er noch kein Schriftzeichen kannte, Kreise als Stellvertreter ein). Die Antworten der Schwester musste er dann vorlesen, wobei er auf ihm unbekannte Zeichen stieß, zusätzlich auch auf Kreise. Die Texte ergaben manchmal keinen für ihn und Tante Qiao nachvollziehbaren Sinn. Er fand nach einer Weile heraus, dass die Halbschwester ebenfalls Analphabetin war und gleichfalls eine ganz junge Schreiberin beschäftigte. Die Briefe enthielten von nun an auch Anteile, in denen sich die beiden Leihfedern untereinander austauschten.


    Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. München: Hanser, 2021

  • Abich: Besser nicht antworten

    Hans Abich war ab 1961 Programmdirektor und ab 1968 Intendant von Radio Bremen, von 1973 bis 1978 Programmdirektor des Deutschen Fernsehens (heute »Das Erste«). Er war auch Filmproduzent, und die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste machte ihm zum Namensgeber eines Preises. Die Namensgebung wurde nun zurückgenommen, und auch die Historische Kommission der ARD beschäftigt sich mit Hans Abich.

    Es geht um die parteipolitische Karriere des jungen Abich im NS-Staat. Die ist seit langem ebenso bekannt wie unbeachtet.

    Die Wikipedia ist auch in diesem Fall keine empfehlenswerte Quelle. Sie tut kund: »Danach [nach dem Abi 1937] begann er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Berlin sowie der Politik und der Auslandswissenschaften an der Hochschule für Politik. 1943 absolvierte er das erste juristische Staatsexamen, 1944 arbeitete er als Referendar an einem Gericht in Salzburg.« Nicht falsch, aber relevante Tatsachen fehlen.

    Lutz Hachmeister berichtet in seinem 1998 erschienenen Buch Der Gegnerforscher, in dem es um den SS-Führer Franz Alfred Six geht, über die Funktionen Abichs. In der FAZ ist zu lesen:

    Der Medienforscher sagte, er selbst habe einmal versucht, mit Abich über seine Zeit im Propagandaministerium zu sprechen, dieser habe jedoch nicht darüber reden wollen oder können: »Er hat irgendwie versucht, das zu umgehen.«

    So ging es meinem Vater auch. Er kannte Abich als Student der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und musste ihn mehrfach um Bescheinigungen angehen, die Abich als »Beauftragter des Studentenführers« ausstellte. In den 1970er Jahren schrieb er einmal an Abich, weil er etwas über dessen Erinnerungen an Albrecht Haushofer erfahren wollte. Beide kannten ihn als Professor für Geopolitik an der Berliner Universität. Haushofer wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet, schrieb im Zuchthaus die Moabiter Sonette und wurde wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet. Aber Abich konnte oder wollte nichts dazu sagen, obwohl er sicher etwas wusste. Er antwortete mit einer belanglos-freundlichen Ansichtskarte.

  • Rundfunkethik

    MDR-Intendantin Karola Wille in einem Interview mit dem Tagesspiegel dreht die Gebetsmühle. Als Chefin einer Anstalt, die unter anderem auch journalistische Aufgaben wahrnimmt, muss sie wissen, dass zwei der drei von ihr erwähnten/zitierten Punkte unmöglich zu erfüllen sind. Das ließe sich durch seriöses Recherchieren im reichhaltigen hundertjährigen Schatz der Kommunikationsforschung seit Lippmann leicht herausfinden.

    Es gab seit 1961 zahlreiche Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichtes. Insofern ist Rundfunkfreiheit ein Grundrecht, das immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss. Diese Freiheit geht einher mit unserer Verantwortung, der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger zu dienen. Dazu gehört die konsequente Trennung von Fakten und Meinungen, das unverzerrte Darstellen der Wirklichkeit und seriös zu recherchieren.

  • Noch ohne Wehklagen

    Ithiel de Sola Pool, der im Umfeld von Lazarsfeld und Lasswell 1959 das Unternehmen Simulmatics mitgründete, das Wahlprognosen und im Vietnamkrieg strategische Berechnungen verkaufte, war 1968 mit einem Beitrag an einem Sonderheft von Science and Technology beteiligt, in dem auch J. C. R. Licklider mit zwei Ko-Autoren den bahnbrechenden Artikel ›The Computer as a Communication Device‹ veröffentlichte. Viele der Beiträger waren sich darin einig, dass dem Computer nicht als einfachem Rechenknecht, sondern als Medium die Zukunft gehören würde. Die prognostische Qualität von Pools Aussagen ist erstklassig. Die gesellschaftlichen Folgen der computergestützten Kommunikationsmöglichkeiten sah er ganz klar. Immer wieder – in den 1980ern, als das Fernsehen sein Publikum »zersplitterte«, und heutzutage, wo die sogenannten sozialen Medien dem gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich den Rest geben – wird mit den Schlagworten argumentiert, die Pool 1968 schon bereitstellte.


    Ausschnitt aus: Jill Lepore If Then. How the Simulmatics Corporation Invented the Future. New York: Liveright, 2020, 277