Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Selbstentmachtung der Rundfunkaufsicht

    Die Gremienvorsitzendenkonferenz der ARD, in der die Vorsitzenden der Rundfunkräte zusammenkommen, hat eine Erklärung zum Entwurf des Medienstaatsvertrags abgegeben, die ein erstaunliches Bild der selbstgewollten Unterwürfigkeit abgibt. Die Rundfunkräte wollen nicht – wie es der Entwurf vorsieht – die Definition von Qualitätsanforderungen selbst übernehmen, sondern ziehen eine »kooperative Aufsicht« vor, bei der die Unternehmensleitungen die Qualitätsanforderungen für ihre Arbeitsweise und Produkte selbst formulieren, wie bisher.

    Hier zu lesen, S. 2:

    https://www.daserste.de/ard/die-ard/GvK-Stellungnahme-im-Konsultationsverfahren-zum-MAeStV-E-100.pdf

    Abgesehen davon, dass die Aufsicht nicht nur die Inhalte, sondern auch ihr Zustandekommen, also z. B. die redaktionellen Organisationsformen und Strukturen der Anstalt generell betreffen muss, ist diese Selbstentmächtigung das genaue Gegenteil dessen, was Beitragszahler von den Rundfunkräten erwarten können.

    Die Begründung, wenn die Gremien die Qualitätsanforderungen von Produktionen, die sie nachher dann auch wieder zu prüfen hätten, selbst in der Hand hätten, sei das eine ex-ante-Kontrolle, die dem Rundfunkrecht bislang fremd ist, verzerrt die Verhältnisse eindeutig. Vermutlich soll hier sogar mit der Vorstellung von Vorzensur gespielt werden – die den Gremien selbstverständlich nicht zusteht. Es geht aber gar nicht um die Einflussnahme auf das Programm, sondern auf die Bedingungen, unter denen es produziert wird und die Standards, die dabei einzuhalten sind. Die Rundfunkräte sollen – so sieht es die vielfach höchstrichterlich bestätigte Rundfunkverfassung vor – die Erfüllung des Gemeinwohlauftrags und somit auch die Rechtfertigung des Rundfunkbeitrags sichern. Nirgends stand bisher geschrieben, dass das im Rahmen einer passiven und maximal wohlwollend-kritischen Hinnahme jeglicher Vorgaben der Unternehmensleitungen zu geschehen hätte. Es geht schlicht um die Formulierung klarer und vor allem auch prüfbarer Benchmarks für die Tätigkeit von gemeinschaftsfinanzierten Unternehmen und damit auch um die Ermöglichung einer breiten Debatte über deren Leistungen.

    Was für ein unsäglicher und devoter Begriff: »kooperative Aufsicht«. Es ist ein wenig so, als würden Parlamente freiwillig ihre gesetzgeberische Funktion aufgeben und eine Regelung vorschlagen, bei der sie nur noch bereits erfolgte Verordnungen der Regierungen nachträglich wohlwollend abnicken. Kennen wir irgendwoher.

  • Immer Simpeleien, immer Theater

    Was ist autobiographisches Erzählen? Nach der strengen Norm Käte Hamburgers gehören Autobiographien nicht in das Reich der Erzählung. Sie unterscheidet Autobiographien jedoch von Ich-Erzählungen, die in ihren Augen durchaus in das Reich der Dichtung gehören. Um eine solche Ich-Erzählung handelt es sich bei Natalia Ginzburgs Familienlexikon, das 1961 in zwei Monaten geschrieben wurde und im Original 1963 erschien. Die erste deutsche Übersetzung ersetzte Alice Vollenweider im Verlag Klaus Wagenbach durch einen Text, der Ginzburg eine ganz eigene Stimme gibt.

    Die Autorin wählt für die Darstellung der dieses Buch bildenden kürzeren und längeren Szenen eine beschreibende Perspektive auf Handlungen dritter Personen – Mutter, Vater, Geschwister, Hausangestellte, Freunde und Bekannte. Das Ich ist durchaus in diesen Szenen präsent, aber keineswegs im Vordergrund und auch nicht in der Form eines in diese Ich-Gestalt hineinmontierte Reflexion (wie innerer Monolog oder ›erlebte Rede‹).

    Erzählt wird in nicht kontinuierlich montierten Stücken die Geschichte der Familie des Anatomieprofessors Giuseppe Levi, des Vaters der Ich-Erzählerin. Die Familie verkehrt mit vielen jüdischen und intellektuellen Freunden, die in den 1930er Jahren Verbindungen zum antifaschistischen Widerstand in Italien haben. Unter den Freunden und Bekannten befinden sich Camillo und Adriano Olivetti (Schwager der Erzählerin), spätere wichtige sozialistische Politiker oder Cesare Pavese, die bei den Levis häufig zu Gast sind. Sie werden mit der gleichen beiläufigen Aufmerksamkeit bedacht wie die Hausangestellte Natalina oder der vom Vater über Jahrzehnte bevorzugte Schneider.

    Der Chronotopos der Erzählung ist das Familienleben, wie es sich in der langjährigen Turiner Wohnung und an anderen Orten abspielt. Die zeitlichen Umstände – Faschismus, Verfolgung, Widerstand –, mit denen das Personal der Erinnerungsbilder Berührung hat, üben eine zentrifugale Wirkung auf die Familienbande aus.

    Das lexikalische Band der Familie bleibt in Form vieler ritueller Aussprüche, Gedichtfetzen und teilweise absurder Chrakterisierungen von Personen (vor allem durch Vater und Mutter) durchgängig erhalten. Es wird aber deutlich, dass es nach Jahrzehnten keinen Zusammenhalt mehr stiften kann. »Diese Sätze sind … Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt«, schreibt Alice Vollenweider im Nachwort.

    Die zerstreuten Erzählbilder täuschen keine linear-kausalen Beziehungen vor und erzeugen auf diese Weise einen authentischen Eindruck, den dramaturgisch inszenierte autobiographische Schemaliteratur mit ihren Wende- und Höhepunkten nie erreicht.


    Natalia Ginzburg: Familienlexikon. Berlin: Wagenbach, 2020

  • Impfen gegen die bolivianische Pest

    Der Schneesturm: Roman : Sorokin, Vladimir, Tretner, Andreas: <a class="autolink" href="https://Amazon.de">Amazon.de</a>: Bücher
    Der Schneesturm: Roman : Sorokin, Vladimir, Tretner, Andreas: Amazon.de: Bücher

    Vladimir Sorokins Roman wird von der Kritik als »Anti-Utopie« bezeichnet. Das kann und will ich nicht nachvollziehen. Der Text beschreibt eine mehrtägige Episode aus einem Land, dem anzumerken ist, dass es durch politische und ökonomische Umwälzungen mehrfach vergewaltigt wurde. Das Ergebnis ist eine Art 19. Jahrhundert mit wenigen modernen Einsprengseln. Zum Beispiel gibt es ein holographisches »Radio« im Haus eines Müllers, in dem ein Telephon nur im Sommer funktioniert. In einem Ort ist die bolivianische Pest ausgebrochen. Sie verwandelt Menschen in große Maulwürfe, die durch Bisse wiederum Menschen in Zombie-Maulwürfe verwandeln können. Ein Arzt ist unterwegs, um der nicht-infizierten Bevölkerung die zweite Impfung mit einem Vakzin gegen diese Pest zu verabreichen. Er will die Pferde seiner Postkutsche auf einer Poststation wechseln, um den 15 oder 17 Werst (1 Werst ist minimal länger als 1 km) entfernten Ort des Pest-Ausbruchs zu erreichen. Es sind keine Pferde verfügbar, daher wendet sich der Doktor an einen Fuhrmann, der über 50 winzige Pferde verfügt – später ist zu lesen, dass drei von ihnen in einer Pelzmütze Platz haben. Mit einem Schlitten, gezogen von diesen 50 »Pferdis«, machen sich die Beiden auf und kämpfen sich mehrere Tage durch dichtes Schneetreiben, unterbrochen durch mehrere Unfälle, eine Übernachtung (einschließlich einer Liebesaffäre) in einer Mühle und Erschöpfungspausen. Es gibt nicht nur Miniaturpferde, sondern auch Menschen, die nicht größer als eine 2-Liter-Schnapsflasche sind – und solche, die groß sind wie ein 6-stöckiges Haus. Am Ende bleiben die Reisenden 3 Werst vor dem Zielort erschöpft an einem Waldrand hängen und schlafen zusammen mit den Pferden unter einer Abdeckung des Schlittens ein. Als der Doktor aufwacht, ist der Fuhrmann tot, und eine Gruppe von Chinesen nimmt ihn und die Zwergpferde in einem Waggon mit, der von einem riesigen Pferd gezogen wird. Von der Pest ist nicht mehr die Rede.

    Ganz 19. Jahrhundert, kein Zombie-Roman, keine Dystopie, sondern eine Art Analyse des Alltagsbewusstseins in vielen Teilen des großen Russland: so kommt mir der Text vor.


    Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

  • In Peking mit Bei Dao

    Das Stadttor geht auf - Bücher - Hanser Literaturverlage
    Das Stadttor geht auf – Bücher – Hanser Literaturverlage

    Das Stadttor geht auf ist eine autobiographische Collage. Ihre Kapitel lauten unter anderem: Klänge, Gerüche, Möbel, Schallplatten. Später geht es um Tätigkeiten wie Angeln und um Orte wie Shanghai und verschiedene Schulen. Bei Dao (Zhao Zhenkai) wurde 1949 geboren, seine Mutter war Ärztin, sein Vater Angestellter einer Versicherung. Der Vater war Mitglied einer der 8 Blockflöten-Parteien, die in China neben der KP auch heute noch zugelassen sind. Bei Dao schreibt seit seiner Jugend vor allem Lyrik. Er bekam 2005 den Bremerhavener Jeannette-Schocken-Preis. Viel Bai Dao gibt es auf Youtube (Gedichte oft mit englischer Übersetzung, von Eliot Weinberger).

    Das Erzählen in Momentaufnahmen und die Sammlung von Erinnerungen, die einer Person oder einem Ort zugeordnet sind, hat große Vorteile gegenüber der chronologischen Reihung. Anmutungen von Kausalität werden ebenso vermieden wie erdie Verlockungen der episodischen Dramatisierung. Die kleinen Kapitel stehen für sich, sie sind wie Bilder aufgereiht. Das letzte und längste Kapitel ist den letzten Begegnungen mit dem Vater gewidmet, der zeitlebends ein stiller und ein wenig ängstlicher Oppositioneller war und viele Jahre Landarbeit machen musste, statt seine Karriere im Versicherungswesen fortzusetzen. Bei Dao selbst war in der 1966 beginnenden Kulturrevolution aktiv. Er berichtet unter anderem von einer beschämenden Attacke auf einen vermeintlichen Konterrevolutionär aus der Nachbarschaft, der vonihm und einigen Freunden aus seiner Wohnung gezerrt und einige Tage in einen Keller gesperrt wurde.

    Wir schoben der Reihe nach Wache, und zwar in drei Schichten. Abgesehen davon, dass wir ihm rechtzeitig Essen brachten, begleiteten wir ihn noch zur Toilette. Uns plagten die Ängste, er könnte sich aus dem Staub machen oder sich das Leben nehmen. Nach zwei Tagen waren wir ausgelaugt, wir gähnten um die Wette. Wir mussten ihn laufen lassen. (142)

    Zeitlich erstrecken sich die erzählten Passagen über die 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre. Die engen Wohnverhältnisse (6 Personen teilen sich 2 Zimmer, mehr als 10 Personen eine Küche und ein Bad) werden am Rande immer wieder erwähnt. Obwohl die Familie Bei Daos zur Elite des Landes gehörte, wird diese Situation als ganz gewöhnlich hingenommen. Der Autor, der nach langem Aufenthalt außerhalb Chinas jetzt wieder in Peking und Hongkong lebt, lässt die Beschreibungen so stehen, ohne ihnen als Kontrast etwa die heutige Wohn- und Lebenssituation in Peking hinzuzufügen. Dennoch regt das Buch zu einem Vergleich an: mit den west- und ostdeutschen Verhältnissen in derselben Zeitspanne. Peking, das 1960 schon annähernd fünf Millionen Einwohner zählte, erscheint in Bei Daos Beschreibungen annähernd als ländliche Abenteuerlandschaft, durchsetzt mit beeindruckend vielen Imbissständen, die auch schon von Kindern frequentiert werden.

    Bei Daos Eltern beschäftigten für ihn und seine beiden jüngeren Geschwister eine Kinderfrau und Köchin, genannt Tante Qiao. Diese hatte eine Halbschwester, die in einer anderen Stadt ebenfalls als Kinderfrau tätig war. Sie war Analphabetin. Der achtjährige Bei Dao schrieb für Tante Qiao Briefe an ihre Schwester. Er beherrschte erst einige hundert Schriftzeichen (und setzte für die Wörter, für die er noch kein Schriftzeichen kannte, Kreise als Stellvertreter ein). Die Antworten der Schwester musste er dann vorlesen, wobei er auf ihm unbekannte Zeichen stieß, zusätzlich auch auf Kreise. Die Texte ergaben manchmal keinen für ihn und Tante Qiao nachvollziehbaren Sinn. Er fand nach einer Weile heraus, dass die Halbschwester ebenfalls Analphabetin war und gleichfalls eine ganz junge Schreiberin beschäftigte. Die Briefe enthielten von nun an auch Anteile, in denen sich die beiden Leihfedern untereinander austauschten.


    Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. München: Hanser, 2021