Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Rundfunkethik

    MDR-Intendantin Karola Wille in einem Interview mit dem Tagesspiegel dreht die Gebetsmühle. Als Chefin einer Anstalt, die unter anderem auch journalistische Aufgaben wahrnimmt, muss sie wissen, dass zwei der drei von ihr erwähnten/zitierten Punkte unmöglich zu erfüllen sind. Das ließe sich durch seriöses Recherchieren im reichhaltigen hundertjährigen Schatz der Kommunikationsforschung seit Lippmann leicht herausfinden.

    Es gab seit 1961 zahlreiche Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichtes. Insofern ist Rundfunkfreiheit ein Grundrecht, das immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss. Diese Freiheit geht einher mit unserer Verantwortung, der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger zu dienen. Dazu gehört die konsequente Trennung von Fakten und Meinungen, das unverzerrte Darstellen der Wirklichkeit und seriös zu recherchieren.

  • Noch ohne Wehklagen

    Ithiel de Sola Pool, der im Umfeld von Lazarsfeld und Lasswell 1959 das Unternehmen Simulmatics mitgründete, das Wahlprognosen und im Vietnamkrieg strategische Berechnungen verkaufte, war 1968 mit einem Beitrag an einem Sonderheft von Science and Technology beteiligt, in dem auch J. C. R. Licklider mit zwei Ko-Autoren den bahnbrechenden Artikel ›The Computer as a Communication Device‹ veröffentlichte. Viele der Beiträger waren sich darin einig, dass dem Computer nicht als einfachem Rechenknecht, sondern als Medium die Zukunft gehören würde. Die prognostische Qualität von Pools Aussagen ist erstklassig. Die gesellschaftlichen Folgen der computergestützten Kommunikationsmöglichkeiten sah er ganz klar. Immer wieder – in den 1980ern, als das Fernsehen sein Publikum »zersplitterte«, und heutzutage, wo die sogenannten sozialen Medien dem gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich den Rest geben – wird mit den Schlagworten argumentiert, die Pool 1968 schon bereitstellte.


    Ausschnitt aus: Jill Lepore If Then. How the Simulmatics Corporation Invented the Future. New York: Liveright, 2020, 277

  • Boulevard-Literaturwissenschaft

    »Zeitgenössisch«

    Die deutsche Literaturwissenschaft ist seit den Diskursturbulenzen in den 1980er Jahren ebenso wie der Literaturmarkt still und heimlich wieder zu den Standards des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgekehrt – content over form, platter Realismus, Warten auf den »großen Roman«, dazu Agonie der Literaturkritik und ihre Ersetzung durch »literarisches Leben«.

    Kennzeichnend dafür ist die offenbar ernstgemeinte Problematisierung der Gegenwarts-Adäquatheit literarischer Prosa. Fehlt ihr diese Eigenschaft, wenn sie in den 1990er Jahren nicht die Vereinigung von BRD und DDR thematisiert und heute nicht die Covid-19-Pandemie? Gibt es keine anderen Kriterien für Gegenwärtigkeit als solche Bezüge zur politischen und kulturellen Umwelt der Schreibenden? Die im Zitat von Johannes Franzen angeführten »historischen Marker« lassen sich bestimmt für quantitative Inhaltsanalysen codieren, sind aber noch lange keine Belege für die Gegenwärtigkeit von Texten oder der Geistesverfassung von Autorinnen und Autoren. Die aktuelle Bearbeitung irgendeines sprachlichen Materials – das aus der Mündlichkeit, aus Dokumenten, aus der Phantasie oder aus purer Berechnung entsprungen sein mag – liefert weitaus mehr Optionen zur Bestimmung der Zeitgenossenschaft als Franzen offenbar wahrhaben will. Der Gedanke, dass die Umwelt selbst, quasi ein Wurmloch durchquerend und die Dimension wechselnd, durch ihre nunmehrige Anwesenheit im Text dessen Gegenwärtigkeit zertifiziert, ist hochgradig mystizistisch. Prosa, in der nichtrauchende Smartphone-User figurieren, die sich vor virengeschwängerten Aerosolen durch FFP2-Masken schützen und im Gespräch Erinnerungen über einstürzende Doppeltürme austauschen – ist weiter von der Gegenwart entfernt, als sie selbst wahrhaben möchte. Und eine Literaturwissenschaft, die nach solchen »Markern« sucht, hat schon abgedankt.


    Artikelauszug: Johannes Franzen Autonomie, bloß wie? Es ist schwierig, keinen Zeitroman zu schreiben FAZ 15.09.2021

  • Dreimal Robbe-Grillet

    Die Radiergummis ist ein äußerst sachlich, distanziert und detailliert erzählter Kriminalroman. Vor dem Hintergrund einer nicht näher beleuchteten Verschwörung, bei der systemwichtige Persönlichkeiten aus dem Weg geräumt werden sollen, findet in einer nordfranzösischen Stadt ein nicht gelingendes Attentat auf einen Wissenschaftler statt, der sich daraufhin für tot erklären und somit aus dem Verkehr ziehen lässt. Ein Sonderermittler kommt in die Stadt und verbringt einen Tag mit intensiven Aufklärungsarbeiten, um dann schließlich den noch einmal in seine Wohnung zurückgekehrten Wissenschaftler zu erschießen, den er für den Attentäter des Vortags hält. Beeindruckend ist die durchgehaltene distanzierte Erzählweise, die jeder Figur ihr jeweils aktuelles Wissen zugesteht und Handlungen nur aufgrund dieses Wissens, nicht etwaiger anderer Motive in Bewegung setzt. Wurde 1969 verfilmt und kam 1972 in die Kinos: Les Gommes/Ein Tag zuviel, R: Lucien Deroisy und René Micha.

    Ein gefundenes Fressen für die akademische Diskussion über den Nouveau Roman bzw. das nunmehr mit anmaßender Geste erklärte Ende des alten war La Jalousie. Dass es zu dieser Geste kam, ist verständlich im Kontrast zur übermäßig psychologisierenden Erzählweise der Tendenzliteratur von Camus und Sartre. Das kleine Buch macht aber auch deutlich, warum es so leicht war, diese Diskussionsbeiträge von Butor, Sarraute und eben Robbe-Grillet zu ignorieren und einfach Romane in der Tradition des 19. Jahrhunderts weiter zu schreiben, und das bis heute. Reizvoll an dem Text ist die Erzählperspektive. Der all-anwesende Erzähler bleibt quasi aus dem Text ausgeschnitten, er ist ein Beobachter, der selbst dann von ko-präsenten Personen ignoriert wird, wenn ein Glas oder ein Gedeck für ihn auf dem Tisch stehen. Diese Überspitzung der Ich-Perspektive, in der das Ich gelöscht ist, eignet sich vorzüglich zur Vermittlung der unausgesprochenen Emotion, die den Bericht trägt. Die beiden Hauptfiguren sind A…, offenbar die Partnerin des abwesenden Erzählers, und Franck, ihr gemeinsamer Freund. Deren Bewegungen zueinander und ihre zumeist vollkommen belanglosen Dialoge sind eingebettet in ausufernd detaillierte Beschreibungen von Örtlichkeiten in mikro-geographischer Präzision, die selbst die Anordnung von Gläsern auf dem Terrassentisch oder die Winkel der abgespreizten Arme eines auf dem Bett liegenden Körpers erfasst. Das Geschehen des Romans ist offenbar irgendwo in Afrika angesiedelt. Wenn man sich immer wieder die Absicht Robbe-Grillets, die aggressive Erledigung von Psychologie, politischer Relevanz und ganz allgemein »Bedeutung«, vor Augen führt, erhält der eigentlich staubtrockene Text durch die Arbeit der Lektüre komische Züge und ist letztlich unterhaltsam.

    Ganz anders Die Wiederholung. Es gibt keine Objektivitätsbehauptung, es geht nicht um die Erzeugung von Authentizität, es gibt keinen Plot – oder nur Andeutungen von vielen Plots. Der Roman, dessen Geschehen im Berlin des Jahres 1949 angesiedelt ist – aber außer der Prozedur eines Sektorenübertritts nichts von der Atmosphäre der Stadt wiedergibt – spielt mit Identitäten, Zeitabläufen, Zitaten aus Literatur und Film. Es ist mühsam, das alles auseinanderzuklamüsern; vor allem macht es auch gar keinen Spaß. Zumindest mir fehlt derzeit der Antrieb, der mir eventuell einen interessierten Blick auf den Text ermöglichen könnte. Statt dessen finde ich viele Details nur öde (mit Ausnahme der sich durch das Buch hindurchziehenden Erschöpfung des/eines Protagonisten) und sogar einigermaßen widerlich. Robbe-Grillet lebt seine schon in den früheren Büchern angedeuteten sexuellen Phantasien nun expliziter aus, in deren Mittelpunkt immer 14- bis 16-jährige Mädchen stehen. Eine 16-jährige Hure »… flüsterte ganz freimütig, wenn er wünsche, sie im Stehen zu vergewaltigen, könne sie unverzüglich ihr Höschen ausziehen«, woraufhin ihr der Protagonist einen Kristalldolch in den Genitalbereich rammt. Die Übersetzung von Andrea Spingler tut möglicherweise ein Weiteres zur Einschränkung eines möglichen Lesevergnügens.


    Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953/2016), Die Jalousie oder Die Eifersucht (1957/1959) Die Wiederholung (2001/2002)

  • Ohne Heim und ohne Fahrt

    Wolfgang Schömels Buch, das von Klett-Cotta nicht verlegt wurde (obwohl nichts dagegen spräche, auch wenn eine Vertriebsabteilung höchstens ein finanzielles Break-even erwartet), kann bei Amazon erworben oder direkt gelesen werden. Der Roman hat zwei Erzählebenen. Recht stark ist die Kindheitsgeschichte aus den 1950er Jahren, die einen grausamen, psychisch verkapselten Vater fokussiert. Recht öde und aus trivialen Versatzstücken konstruiert ist die Gegenwartsebene. Die Hauptfigur ist ein Professor kurz vor dem Ruhestand, der über die psychischen und sozialen Folgen von Kinderlosigkeit forscht. Dass er selbst einen vierzigjährigen Sohn hat, erfährt er – tada! – gegen Ende des Buchs. Seine Beziehungen zu Frauen sind auf Sex und Narzissmus basiert und haben nie funktioniert (eine frühere Ehefrau hat partout eins seiner Bücher nicht gelesen). Rettung bringt jetzt eine brasilianische Studentin und Prostituierte, die seinetwegen von ihrem Beruf ablässt und eine Karriere als Kulturwissenschaftlerin aufnimmt. Die berufliche Sphäre des Professors ist äußerst dürftig gezeichnet: Frontalunterricht in Vorlesungen und ein universitäres Arbeitszimmer als einsame Klause. Das entspricht dem tatsächlichen Betrieb einer heutigen Universität so gar nicht, in der es Institute und permanente Kommunikation gibt (die man mögen mag oder nicht).

    Durch das Buch geistern Andeutungen einer von islamischen und kulturalistischen Kräften zersetzten Bundesrepublik, in der Terrorakte und Massenselbstmorde auf der Tagesordnung stehen. In Innenräumen sind Evidenzmonitore installiert, die unter anderem nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr registrieren. An Universitäten macht sich eine Art Gender-FBI breit. Diese Seitenblicke bleiben ohne Bezug zur Story und daher belanglos. An Houellebecq mag dabei denken, wer will.

    Die Erzählung lässt ihre Leser im Unklaren darüber, ob der Protagonist die Heilung seiner Alternsangst in der Transzendenz oder im Sex findet. Diese, seinen eigenen Selbstbehauptungswillen betreffende Frage verlagert er in einem Epilog auf die ganz große Bühne des »Selbstbehauptungswillens unserer Kultur«. Außer ihm selbst sind dort aber keine weiteren Protagonisten anzutreffen.

    Tidbits:

    [•] Das Buch sei ein Massenmedium, heißt es in Schömels Buch. Das findet in der Wissenschaft keine Unterstützung – nur Presse (seit Ende des 19. Jahrhunderts), Radio und Fernsehen sind anerkannte Massenmedien.

    [•] Das Phonogeräte von Körting gab es in den 1950ern und 1960ern exklusiv bei Neckermann, nicht bei Quelle.


    Wolfgang Schömel: Heimfahrt. Amazon 2018