Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Plattform der Erwartungen

    An Helmut Heißenbüttels literatur- und musikkritischen Texten habe ich immer bewundert, dass er sich um die Herausarbeitung von positiven Aspekten der von ihm besprochenen Werke bemühte. So wurde 1984 Paul Wührs Das falsche Buch, das bei der Kritik auf Unverständnis stieß, zum »richtigen« Buch, weil in ihm eine »Summe« von Schreib- und Lebenserfahrungen steckte. Und Hubert Fichtes ethnographisch-autobiographische Texte, die bei Erscheinen oft sehr distanziert zur Kenntnis genommen wurden (»Realismus als l’art pour l’art« – Reinhard Baumgart), bevor Fichte posthum eine Karriere als »homosexueller Popliterat« machte, waren für Heißenbüttel vor allem als beispielhafte »Selbstentblößung« interessant.

    Vor der Lektüre von Michael Seemanns Buch Die Macht der Plattformen habe ich mir fest vorgenommen, den H-Punkt (Heißenbüttel-Punkt) in ihm zu finden. Das ist mir von Anfang an sehr schwergefallen. Das Buch distanziert zunächst durch sein potthässliches Cover. Die 1927 von Paul Renner entworfene Futura weist nicht gerade darauf hin, dass brennend aktuelle Probleme des 21. Jahrhunderts behandelt werden. Ich habe einen Schreck bekommen, als ich las, dass der Autor dem Graphiker für dessen »wunderbare« Gestaltung dankt. Nun gut, jedenfalls legen die in Andeutung übereinander gestapelten dreidimensionalen Rechtecke auch hinter dem Autorennamen die Frage nahe, auf welchen Erkenntnissen anderer Seemann aufsetzt. Da das Buch auf einer Dissertation basiert, gibt es reichhaltige Quellennachweise, denen es sich nachzugehen lohnt.

    Die Plattform-Metapher ist eine der verludertsten im neuländischen Sprachgebrauch. Sogenannte Handelsplattformen, auf denen sich Käufer und Verkäufer treffen, sind begrifflich noch hinnehmbar. Eigentlich sind es Marktplätze, aber auch der Marktbegriff mit seinen metaphorischen Wucherungen ist problematisch. Dennoch wäre der Ausdruck virtueller Marktplatz teilweise durchaus treffend, weil er das Geschehen auf den Plattformen konkreter adressiert als die Plattform. Produktionsplattformen für Kraftfahrzeuge – also die gemeinsame technische Basis für Fahrzeuge von Volkswagen, Audi, Seat, Skoda und andere – erhalten zunehmend andere Bezeichnungen, bei VW ist die frühere Plattform jetzt ein »Modularer Querbaukasten«. Seemann unternimmt weitreichende definitorische Bemühungen, aber kommt letztlich zu keinem klaren Schluss, was er als Plattform bezeichnen bzw. nicht bezeichnen möchte. Zudem fehlen Begründungen dafür, warum die ins Auge gefassten SNS (Social Network Sites), Angebots- und Handelsportale etc. überhaupt als Plattformen bezeichnet werden sollten oder sogar müssen.

    Der Titel des Buchs ist ohnehin irreführend. Seemann geht es gar nicht um die Macht von Plattformen, sondern um die Macht der Unternehmen, die diese auf der einen Seite ertragreichen, auf der anderen Seite populären Gebilde gegründet haben und betreiben. Nicht der Spielsalon hat »Macht« und zieht Profit aus dem Verhalten der Spielsüchtigen, sondern dessen Betreiber. Der Plattformbegriff lenkt die Aufmerksamkeit eher auf das Geschehen zwischen Nutzern und nicht auf die Organisation des Betriebs. Insofern ist er in meinen Augen recht eigentlich überflüssig und sollte weitgehend abgeräumt werden.

    Die Geschichte von Napster, einem damals manchmal als Tauschbörse bezeichneten Portal, das Zugang zu den Musik-Bibliotheken aller angeschlossenen Teilnehmer gewährte, zieht sich episodisch durch das Buch hindurch. Das könnte so gemeint sein, dass Napster eine Muster-Plattform bzw. ein Plattform-Muster darstellte: Ein Peer-to-Peer-Netzwerk, das einem klar definierbaren Zweck dient. Napsters Betreiber waren allerdings nicht imstande, die technischen, rechtlichen und ökonomischen Probleme zu lösen, die mit ihrer schnell wachsenden Einrichtung verbunden waren. Insofern bleibt das Beispiel bei Seemann in der Luft hängen.

    Der Anspruch Seemanns, eine »trans«disziplinäre Plattformtheorie zu entwickeln, endet, um es ganz hart zu sagen, in einem multidisziplinären Feuilleton. Schon der durch nichts begründete und höchstens einmal durch ein Luhmann-Zitat versuchsweise legitimierte Anspruch, eine allgemeine Plattformtheorie müsse zu allen vorhandenen und denkbaren Plattformen passen, sollte eine immer wieder patchworkartig und anekdotisch vorangetriebene Darstellung von allem möglichen Plattformartigen ausschließen. Daraus besteht das Buch jedoch über weite Strecken.

    An der Beschreibung des Geschehens auf den Plattformen ist – außer an der Begrifflichkeit – nicht viel auszusetzen. Plattformen ermöglichen und vereinfachen und formen »Interaktionsselektionen«. Das ist keine unerwartete Kennzeichnung, würde aber problematisch, wenn man sich die Mühe machte, jeder einzelnen der von Seemann erwähnten »Plattformen« (zum Beispiel das Sytem /360 von IBM, Uber und Twitter) in dieser Hinsicht auf den Zahn zu fühlen. Die (von Jonathan Zittrain übernommen: »Generativität«) Einflüsse von Plattformen auf Verhaltensweisen und Erwartungsstrukturen sind unbestreitbar – solche Einflüsse gingen und gehen allerdings auch von vielen Institutionen aus und erzeugen in der medialen und interpersonalen Kommunikation Vorbilder und Muster. Generativität allein medialen Einflüssen zuzusprechen, reduziert allerdings die Komplexität der Alltagskommunikation zu sehr, in der nach allen Erkenntnissen der Medienpsychologie die Face-to-face-Variante immer noch die höchste Relevanz für Entscheidungsänderungen und Verhaltensdispositionen hat.

    Die »Theorie« enthält viel verbales Bling-Bling. »Das Internet ist weniger eine Medienrevolution als eine Medienrevolutionsfabrik.« Eine Speicherung ist eine »Erwartungserwartung«. Hinzu kommen Kalauer wie »Die Welt wird zu einer Google« – die vielleicht ein Kitzel für den Doktorvater Pörksen sind, nicht aber für mich.

    Leserinnen und Leser bekommen Schnipsel aus der Mediengeschichte geboten, wie etwas über das Selbstwahlverfahren in der Telephonie oder über die Datenbank-Abfrage per SQL. Auch dabei gibt es dann abgehobene Wortkaskaden wie diesen Satz: »Diensteplattformen sind somit invertierte, automatisierte Plattformfabriken. Je mächtiger die Query-Technologien werden, desto komplexere Erwartungserwartungen lassen sich als Selektionsselektionen automatisieren.« An dieser Stelle wollte ich das Buch eigentlich schon schließen, nach erst 17% bewältigten Texts.

    Ich könnte endlos weiterklagen, über Oberflächlichkeiten, Beliebigkeiten, Stilblüten und irrelevante Abschweifungen.

    Lieber möchte ich jedoch zum »H-Punkt« kommen. Dieser ist für mich eindeutig die ausführliche Behandlung der Graph-Aneignung, von Seemann Graphnahme genannt, um verzichtbarerweise auf Carl Schmitts Landnahme (im Nomos der Erde) anzuspielen. Verzichtbar, weil »Aneignung« mir treffender erscheint als »Nahme«, da beim Nehmen das möglicherweise freiwillige Geben mitgedacht wird, bei der Aneignung jedoch der unzivile Akt des Diebstahls zumindest mit adressiert ist. Zudem kommt die Auseinandersetzung mit Schmitt über ein paar Sätze aus dem »Best of Schmitt«-Zitatenschatz nicht hinaus (sozusagen unvermeidlich: auch der Satz über den Ausnahmezustand wird hervorgekramt), obwohl sie gerade im Hinblick auf das durch die Praktiken der Plattform-Unternehmen in Bewegung geratene Verhältnis von Gewalt und Recht mehr Raum verdient hätte.

    Die Ordnung des Plattformbetriebs durch die Auswertung umfassender Daten aller ihrer Nutzer und deren Kommunikationen (zumindest auf einer nicht-semantischen Ebene), also die graphengesteuerte Politik dieser Plattform, ist das Thema, bei dem Seemann mich gewinnt. Auch wenn er hier viel Anekdotisches verbreitet und sich nicht die Mühe einer stärkeren Systematisierung macht, die seinen Theorie-Anspruch erfüllen würde, ist für mich das Kapitel über »Strategien der Graphnahme« das Zentrum seiner Arbeit, über das sich weiter nachzudenken lohnt.

    Die dann noch folgenden Kapitel über Plattformpolitik und die politische Ökonomie sind trotz der vielversprechenden Überschriften wieder anekdotisch basiertes medienwissenschaftliches Feuilleton im Pörksen-Style.

    Die in einem Epilog enthaltenen zehn Prognosen zur Entwicklung von Plattformpolitiken bieten keine Überraschung (Zentralisierung von Podcast-Angeboten, Kampf um die Dominanz in der Unterhaltungsbranche, ideologische Ausdifferenzierung von Plattformen, Nationalisierungsbestrebungen im Netz usw.). Eine Ausnahme bildet die zehnte Prognose: Das Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie. Dort findet sich der Satz: »Die repräsentative Demokratie braucht repräsentative Medien.« Die Öffentlichkeit und ihre Medien sind seit dem Absolutismus erfreulicherweise nicht mehr repräsentativ verfasst, und das gilt auch für die verfassten Zustände der aktuellen deutschen Republik. Bestenfalls »repräsentieren« Medien – und darauf spielt Seemann auch an – Tendenzen und Stimmungen der Bürger und Konsumenten – wobei die »privaten« Medien in Deutschland unter dem Tendenzschutz, den sie genießen, das auch dürfen und sollen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht, der soll das ganze Bild liefern, ohne eine einzelne Tendenz zu repräsentieren. Dass die inzwischen für die politische und kulturelle Kommunikation relevanten Netzmedien Unruhe in die Ordnung überschaubarer Tendenzen und Positionen bringen und fluktuierende Stimmungen abbilden, ist für massenmedial Sozialisierte schwer erträglich, wie auch am Regulierungsdiskurs der Medienpolitik zu beobachten ist. Forderungen nach »Disziplinierung der Algorithmen«, und das womöglich von Staats wegen, sind aufgetaucht und werden von Seemann (der das Schlagwort erwähnt) leider nicht zurückgewiesen.

    Fazit: Die Arbeit enthält viele wissenswerte und unterhaltsame Details, wird dem Anspruch einer »Theorie« der Plattform nicht gerecht, aber: Kapitel Fünf!

  • Waschbären und Tigermücken

    Es wird von Jahr zu Jahr schlimmmer. Vor 15 Jahren wurden die grünen Biester noch im Kölner Volksgarten bestaunt, und man fragte sich, wo sie wohl ausgebrochen waren. Sie bildeten kleine Gruppen, und ihr Geschrei hielt sich akustisch in Grenzen. Jetzt sind sie überall im südlichen Rheinland. Sie bilden Rotten von 50 Vögeln, die gemeinsam und schreiend in die Gärten einfallen umd frische Triebe von Nadelbäumen reißen. Ein ruhiges Frühstück auf der Terrasse ist im Juli nicht möglich. Feinde, vor denen sie Respekt hätten, scheint es nicht zu geben. Nicht einmal große Krähen nähern sich an, wohl weil sie um ihr Gehör fürchten. An Werktagen übertönen sie mühelos die Laubbläser von Vonovia auf der Straßenseite gegenüber. Ihre Ausbreitung hat pandemische Ausmaße; ich weiß nicht, ob ein Umzug nach Bremen genügend Sicherheit gewährt.

  • Es sind nicht einmal Thesen

    Die FAZ bringt einen Text von drei Mitarbeitern der im Juni veröffentlichen Stellungnahme einer interdisziplinären Leopoldina-Arbeitsgruppe »Digitalisierung und Demokratie«. Ein Informatiker, ein Medienwissenschaftler und eine Ethikerin formulieren drei »Thesen« genannte Forderungen, wie mit der Entwicklung globaler Online-Plattformen umgegangen werden sollte.

    Auffällig dabei ist das häufig verwendete »Wir«. Hierbei handelt es sich nicht um die Autoren der Stellungnahme, sondern um die virtuellen Regulatoren einer »plattformisierten« Medienlandschaft, deren Weiterentwicklung nicht dem Markt überlassen werden soll. Kennzeichnend für die Studie und auch den FAZ-Beitrag ist zudem, dass die algorithmische Angebotslogik der Plattformen als »Kuratierung« bezeichnet wird, womit den Plattformbetreibern eine Art redaktioneller Eigenleistung zugesprochen wird und nicht nur eine technische Dienstleistung. In den USA gibt es seit Jahren, auch wieder angefacht durch Trump, die Diskussion über Section 230, eine Bestimmung des Telekommunikationsgesetzes, das den Plattformen bislang Immunität in Bezug auf rechtsverletzende Inhalte gewährt, die auf ihnen veröffentlicht werden. Ein Protecting Americans from Dangerous Algorithms Act soll diese Bestimmung ergänzen und die algorithmische Verstärkung aufhetzender und radikalisierender Inhalte unter Strafe stellen.

    Die deutsche Medienregulierung hat hierfür noch keine expliziten Bestimmungen. Der Medienstaatsvertrag verpflichtet »Medienintermediäre« zur Transparenz im Hinblick auf inhaltliche Auswahlentscheidungen. Bei Urheberrechtsverletzungen auf Plattformen müssen die Betreiber illegales Handeln ihrer Nutzer unterbinden, sind jedoch nicht selbst verantwortlich haftbar für Rechtswidrigkeiten. Die medienwissenschaftlich äußerst fragliche und unzureichend belegte demokratiegefährdende Verstärkung von »Hetzreden« durch Algorithmen von Social Network Sites sowie die aus kommerziellen Gründen eingeschränkte Vielfalt von Informationsquellen (bzw. erwünschten Inhalten), mit denen ihre Nutzer in Kontakt gelangen können, wird seit einigen Jahren von regulierungswütigen Juristen (z. B. Dörr und Schwartmann) angeführt, um ein neues Regulierungsfeld für die Landesmedienanstalten oder weitere Instanzen zu öffnen.

    Die Autoren fordern nichts weniger als die Mitgestaltung der Geschäftsmodelle von Plattformanbietern »auf demokratischer Basis«. Warum Youtube und Instagram nicht gleich verstaatlichen? Ferner sollen neue Formen des Journalismus gefördert werden – von wem und wie?

    »Drittens sollten wir anders als bisher über Fragen der Medienkompetenz nachdenken.« Das ist ebenso wie die beiden vorherigen Punkte keine These. Und alles ist schief an diesem Satz. Wie denken »wir« denn jetzt über Fragen der Medienkompetenz nach? Wer sind »wir« eigentlich (siehe die Vermutung oben: der virtuelle Gesamtregulator)? Wie soll dieses »anders« aussehen? Digitale Medien sind nicht mehr nur »Mittel der Information und Kommunikation« – warum wird nicht auch die überwiegende Nutzungsform erwähnt, nämlich Unterhaltung? –, sondern sammeln nun auch Daten. »Ein breiteres Verständnis von digitaler Medienkompetenz umfasst also nicht nur Kompetenzen im Umgang mit Medien, sondern auch Kenntnisse über ihre algorithmischen Funktionsweisen sowie die zugrunde liegenden Geschäftsmodelle. Es ist entscheidend, solche Kompetenzen alters- und kontextgerecht von der Kita an über Schule und Studium, in Aus- und Weiterbildung zu vermitteln.« Auf Kitas kommt also wohl die Anforderung zu, neben dem Chinesischunterricht für Vierjährige nun auch noch das Curriculum in SEO zu bewältigen.

    Das Fazit des Beitrags setzt sich kühn über die schlechte digitale Wirklichkeit hinweg und fordert einfach eine andere. Der Plan besteht darin, eine alternative Medienwelt unmittelbar aus dem regulatorischen Normenhimmel abzuleiten: »Wir müssen unser Mediensystem vor dem Hintergrund einer durchdringenden Digitalisierung neu erfinden. Und neu erfinden heißt erst einmal, offen an die Frage heranzugehen, wie ein Mediensystem in einer demokratischen, digitalen Gesellschaft aussehen sollte, um dann im zweiten Schritt die Frage zu stellen, wie man dahin gelangen kann.«

  • Ist die digitale Transformation neoliberal?

    Der WDR-Rundfunkrat (entsandt vom Filmbüro NW und der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm) Robert Krieg hat in den Blättern für deutsche und Internationale Politik zu Plänen des WDR und zum Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks insgesamt Stellung genommen. Ihm unterlaufen dabei eine Reihe von Konfusionen, die bei der weiteren Diskussion des Rundfunkauftrags nicht weiterhelfen.

    1. Die Einrichtung und die für alle Haushalte verpflichtende Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks basiert auf dem Auftrag, der Allgemeinheit Medieninhalte bereitzustellen, deren Art und Inhalt sich nicht an den Gesetzen des Marktes orientiert. Verfassungsrichter haben mehrfach festgelegt, dass schwerpunktmäßig Information, Bildung, Beratung, Kultur und Beiträge zur Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil angemessen sind, produziert werden sollen. Dass diese Medien »Teil der vierten Gewalt« und somit »eine unverzichtbare Säule des demokratischen Rechtsstaats« sein sollen oder sind, ist verfassungsrechtlich nicht formuliert. Die »vierte Gewalt« ist auch nicht einmal rechtsphilosophisches Feuilleton, sondern eine anmaßende Selbstbeschreibung der journalistischen Profession. Sinnvoller und verfassungstreuer ist die von Hans Wagner vorgeschlagene Formel, die Medien seien idealerweise der »Gesprächsanwalt« der Allgemeinheit. Das Konzept der »vierten Gewalt« sprengt das verfassungsrechtliche System der Gewaltenteilung, da für sie keine andere Kontrollinstanz vorgesehen wäre. Bedenklicher an Kriegs Satz ist jedoch, dass allein schon die Institution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für den demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar sein soll – und nicht die Funktion seiner journalistisch-redaktionellen Anteile, sofern sie denn erfüllt wird.

    2. Um die Erfüllung des Auftrags geht es Krieg hauptsächlich. Die mit der Einführung des Privatrundfunks auf das öffentlich-rechtliche System hinübergesickerte Orientierung an der Quote geißelt er mit Recht: »Der ÖRR bildet die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur in seinen Programmen ab, er ist zugleich ein Teil davon. Der marktliberale Geist, der die westlichen Demokratien heute beherrscht, hat auch vor dem ÖRR nicht Halt gemacht. Beim allgemeinen Bestreben, die Gesetze der Marktwirtschaft auf alle Bereiche des Lebens auszudehnen, ist den Programmverantwortlichen die Quote das Instrument der Wahl zur Durchsetzung dieses Prozesses innerhalb der öffentlich-rechtlichen Medien.« Auch der von ihm zitierten Beobachtung, dass die Orientierung am linearen und am non-linearen Angebot sich tendenziell immer weniger auf Generationen verteilen lässt, ist zuzustimmen. Seine Polemik gegen den angeblichen Plan, linear nur noch leicht konsumierbare Unterhaltungsmusik und Neuigkeiten zu verbreiten und alle »nachhaltigen« Inhalte von vornherein als non-lineare Angebote zu produzieren, geht allerdings ins Leere, da ihr ein wichtiger Maßstab fehlt. Die Erreichbarkeit aller interessierten Mediennutzer ist virtuell im non-linearen Bereich weitaus größer als im linearen – räumlich und zeitlich. Auch die technische Qualität – wichtig bei der Rezeption von E-Musik, Features und Hörspielen – kann im Online-Angebot weitaus besser sein als in den gesendeten Fassungen. Streaming-Anbieter glänzen mit »Lossless«-Qualität, die tatsächlich der einer CD entspricht. Dass lineare Radioprogramme nach der Verlagerung von Kulturprogrammen ins Non-Lineare ausschließlich »Easy Listening« anbieten, ist vielleicht nicht unwahrscheinlich, aber absolut nicht zwingend. Eine Live-Mischung aus moderierter, redaktionell ausgewählter Musik mit regionaler und allgemeiner Information ist aller Voraussicht nach das erfolgversprechendste Residuum des linearen Hörfunks. Mit diesen Komponenten kann er möglicherweise auch längerfristig gegen Streaming-Anbieter bestehen.Dass »Content-Formate«, die vielfältige Interessengruppen berücksichtigen, »nicht mehr die Gesamtgesellschaft erreichen sollen«, kann nicht zutreffen, da die Angebote ja für alle zugänglich sind. Verglichen mit der tatsächlichen Reichweite von linearen Kulturwellen, deren inhaltliche Komponenten jeweils nur kleine Zielgruppen-Segmente erreichen, ist das Reichweiten-Potential von Audiotheken deutlich größer. Ein wenig Ermutigung der Zielgruppen zum Umstieg und zur Erkundung dieser Angebotsformen gehört ebenso zu den Voraussetzungen wie tatsächlich attraktive und gut funktionierende Mediatheken. Das in diesem Zusammenhang von Krieg erwähnte Targeting von Mikro-Zielgruppen ist fehlplatziert, Targeting bezieht sich auf die Ausrichtung von Werbeschaltungen auf Publika, die mit bestimmten Inhalten getriggert werden. Die Kategorisierung und Rubrizierung von Inhalten in Bibliotheken und Mediatheken ist kein Targeting.

    3. Die Berücksichtigung vieler Teilinteressen in einem Online-Angebot kann – da alles für alle nebeneinander zugänglich ist – nicht als Schwenk vom gesellschaftspolitischen zu einem plattformkapitalistischen Denken (Krieg gefällt hier eine Formulierung von Felix Stephan aus der Süddeutschen Zeitung) denunziert werden. Unter Voraussetzung sinnvoll funktionierender und attraktiver Online-Umgebungen gibt es dort sehr viel mehr Möglichkeiten, durch Hinweise und Verknüpfungen Interessenten mit Inhalten zusammenzubringen. Die datenschutzkonforme Sammlung von Nutzer- und Nutzungsdaten zur Unterstützung solcher Hinweise muss dabei zu keinen Einengungen (im Sinne der Verstärkung des Immergleichen) führen, sondern kann für Anbieter und Nutzer bereichernd sein.

    4. Krieg nennt die Gefahr, dass die existierenden und geplanten zentralisierten Newsrooms hierarchisierte Entscheidungen ermöglichen. Dies ist tatsächlich unter anderem durch medienethnographische Studien gut belegt. Weiterhin liegt die Gefahr nahe, dass die in die Newsrooms einfließenden Nutzungsdaten die Produktion von Inhalten nicht vielfaltsfördernd, sondern nur quotenfördernd beeinflussen. Beide Gefahren können nur durch andersartige unternehmensinterne Organisations- und Verantwortungsstrukturen und ihre Kontrolle durch die Aufsichtsgremien eingedämmt oder ausgeschlossen werden. Zentralisierte Bereiche mit einer keineswegs allkompetenten Leitungsperson vertragen sich nicht mit dem Anspruch, unabhängigen Journalismus zu betreiben und auch intern »Pressefreiheit« zu gewährleisten – worin sich öffentlich-rechtliche Anstalten und der privatwirtschaftliche Tendenzbetrieb von Presse und Rundfunk unterscheiden (sollten). Krieg übersieht bei seiner Argumentation seine eigene aufsichtsführende Rolle. Die hierarchische Organisation der Newsrooms wurde von den Gremien durchgewinkt, und die in ihnen angewandten Algorithmen beruhen auf Organisationsentscheidungen, denen Gremien auch widersprechen können.

    5. Die sinnvollen und notwendigen Pläne zur Verlagerung der Angebotsschwerpunkte des Hörfunks in den non-linearen Bereich identifiziert Krieg umstandslos mit Marktradikalismus und sieht schlimme Folgen voraus: »Über kurz oder lang dürfte sich die Bevölkerung fragen, warum sie noch für ein vorgeblich das Allgemeinwohl fördernde Gemeinschaftsprojekt seinen Beitrag zahlen soll, wenn dieses doch längst in Einzelteile parzelliert wurde. Dann wird man doch gleich besser Abonnent einzelner ›Content‹-Kanäle wie bei anderen Streaming-Diensten auch.« Die Angebote des Rundfunks sind seit einigen Jahrzehnten schon parzelliert, und immer schon gab es Stimmen, die sagten: Ich möchte meinen Rundfunkbeitrag nur für arte, 3sat, den Deutschlandfunk und WDR3 zahlen. Die Harmonisierung von Einzelinteressen und virtuellem Gesamtinteresse ist in sinnvoll organisierten Portalen (das muss ich immer wieder betonen, gemeint sind nicht die Media- und Audiotheken in ihrem derzeitigen Zustand) weitaus leichter und umfassender zu realisieren als in den zahlenmäßig und durch ihre Zeitgebundenheit beschränkten linearen Angeboten.

    6. Die keineswegs nur von Krieg beobachtete und beklagte Tendenz zur Boulevardisierung öffentlich-rechtlicher Angebote kann man – wie Krieg – nur mit einem Habermas-Zitat geißeln, wenn man sich der Ironie bewusst ist, dass dieses 1962 entstand, als es in Deutschland ausschließlich öffentlich-rechtlichen Rundfunk gab. Wenn die Anrufung von Habermas, der die Ersetzung von Realitätsgerechtigkeit durch Konsumreife beklagt und den öffentlichen Gebrauch der Vernunft einfordert, zu etwas taugen kann, dann also zu einer kritischen Reflexion dessen, was Radio und Fernsehen als Mediengattungen überhaupt zur Vernunftbildung beitragen können. Für viele Medienwissenschaftler waren und sind sie primär Unterhaltungsmedien. Die Volkshochschul-Komponenten im deutschen Rundfunk der zwanziger sowie fünfziger bis siebziger Jahre waren immer schwer integrierbare Fremdkörper, für die zeitgemäße Formatierungen gefunden werden mussten. Diese gibt es, sie bewähren sich auch täglich, linear und auf Abruf, worüber ein Blick auf die Programmangebote des Deutschlandradios sofort belehrt. Krieg will das lineare Hörfunkprogramm weiterhin mit der Aufgabe belasten, Bildung zu vermitteln. Bildung ist jedoch als kommunikationsfreie Veranstaltung kaum vorstellbar. Die unidirektionale Verkündigung per Predigt oder Vortrag oder auch per Feature erzeugt bestenfalls Identifikation mit einer angebotenen Position, fördert aber nicht Reflexion und Wissen, die idealerweise im Dialog, auch verbunden mit Einspruch und Gegenrede, entstehen.

    7. Der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung wird in den westlichen Industrieländern seit etwa fünfzig Jahren beobachtet. Der Beitrag von Medien daran ist nicht ermittelbar. Gewöhnlich geben sich Beobachter mit der Aussage zufrieden, die Medien »folgten« diesem Trend. Das ist auch plausibel, weil es zumindest bei kommerziellen Medien unwahrscheinlich ist, dass sie funktionierende Geschäftsmodelle ohne Not zerstören, nur weil aufgrund paralleler technischer Entwicklungen die Zersplitterung vorheriger Vollprogramme möglich wird. Die Fragmentierung der Lebensstile, Interessen und Befindlichkeiten drückt sich in der Differenzierung von Publika und deren Ansprache durch Medienangebote auf eine gewisse und sicher immer nur unvollkommene Weise aus. Eine Umkehrung der Fragmentierung ist eine illusionäre Bemühung. Sie taucht als Sehnsucht in vielen medienpolitischen Sonntagsreden auf, auch in den von Krieg zitierten Leitlinien der ARD. Das sinnvoll geordnete Nebeneinander von vielfältigen und von allen erreichbaren Online-Angeboten ist die einzig mögliche Antwort auf den Medienwandel. Sich dem mit rückwärtsgewandten Argumenten entgegenzustemmen ist vergebliche Liebesmüh.

    8. »Der gefährliche Trend zum neoliberalen Gestrigen beim Umbau des WDR-Programms, der den ›Content‹ als bloße Ware begreift, ist nicht unaufhaltsam. Als Aufsichtsorgan haben wir es in der Hand, den ÖRR daran zu hindern.« Sollte Krieg damit meinen, dass der Umbau des Programms mit der Untererfüllung von Bestandteilen des Rundfunkauftrags wie Information, Bildung, Beratung, Kultur verbunden ist oder zu werden droht, sollten er und der WDR-Rundfunkrat tatsächlich massiv einschreiten. Das Abschmettern einer Initiative von Rundfunkräten um Ralf Schnell, Gerhart Baum und Oliver Keymis zeigte allerdings, dass dieses Aufsichtsgremium lieber »Bettvorleger« der Unternehmensleitung bleiben will, wie es René Martens im Altpapier formulierte.


  • UMTS-Ende

    Der Mobilfunkstandard UMTS, dritte Generation nach dem analogen Netz und GSM (incl. GPRS und EDGE) wurde ab 2000 in Deutschland möglich, als die Lizenzen für das Netz für fast 100 Mrd. DM versteigert wurden. Der damalige Bundesfinanzminister Hans Eichel nannte UMTS daher »Unerwartete Mehreinnahmen zur Tilgung von Staatsschulden«. Mit der allmählichen Ausbreitung des Standards ab 2004 entstanden auch Fragen nach dem Nutzen einer Technik, die unter besten Bedingungen maximale Übertragungsraten von 384 KBit/s ermöglichte. Jahrelang wurde gemunkelt, dass Telekommunikationsunternehmen an einer »Killerapplikation« arbeiteten, die den Einsatz von UMTS für alle einsichtig und attraktiv machen sollten. Nichts geschah. Schließlich wurden Erweiterungen entwickelt – HSPA und HSPA+ –, die weitaus höhere Datenraten ermöglichten (7 bis 21 oder sogar 42 MBit/s) und ab 2010 freigeschaltet wurden.

    Da fast gleichzeitig mit der Verbreitung der UMTS-Erweiterungen, nämlich 2011, bereits die nächste Mobilfunkgeneration LTE eingeführt wurde, war das Ende von UMTS bereits absehbar, bevor die mit dem Standard verbundenen Erwartungen je eingelöst wurden. Die seit 2007 in schneller Folge auf den Markt geworfenen Smartphone-Generationen machten offenkundig, dass die »Killerapplikation«, auf die gewartet wurde, schlicht die Ermöglichung von Web und E-Mail auf dem Handy war. Das 2008 eingeführte zweite iPhone (3G) konnte Daten mit der zehnfachen UMTS-Rate übertragen, das iPhone 5 (2012) unterstützte dann bereits LTE, bevor dieser Standard in ganz Deutschland verfügbar war.

    UMTS war als Entwicklungsschritt der Mobilfunktechnik vielleicht unumgehbar, aber letztlich wenig brauchbar. Die zweite und vierte Generation der Funktechnik – GSM und LTE – tragen die Nutzlast, 5G ist im Ausbau. Nun wird UMTS in Deutschland abgeschaltet.