Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Verschenkte 20 Euro

    Le Tellier wird die Mitgliedschaft in der Oulipo-Gruppe nachgesagt, deren Autoren seit 1960 vergnügliche Formexperimente machen. In Die Anomalie gibt es nur einen Hauch von Kombinatorik und eine Reihe von Anspielungen auf Jarry, Perec und andere Größen. Ansonsten ist der Text leider ein triviales, uninteressantes Konstrukt, das einige SF-Elemente und Anspielungen auf Probleme der Gegenwart (Corona, Überwachung, schräge Präsidenten-Persönlichkeiten) verbaut.

    Ich bedauere die Ausgabe von 19,99 für das E-Book. Verleitet dazu hat mich ein FAZ-Rezensent und Literaturwissenschaftler, dessen Namen ich gar nicht nochmal nachschlagen will.

    Hervé Le Tellier erhielt für den 2020 erschienenen und im laufenden Jahr 2021 spielenden Roman Die Anomalie den Prix Goncourt. Eine hohe Auszeichnung, wenn auch nur mit 10 Euro datiert. Die Story: Dasselbe Flugzeug taucht nach dem Durchqueren einer Gewitterwand zweimal wieder auf, im Abstand von drei Monaten (und ein drittes Mal nach einem halben Jahr). Von der Maschine und allen Insassen existieren jetzt Duplikate. Die amerikanischen Geheimdienste sind erregt, organisieren Befragungen und lassen Hypothesen aufstellen. Sie folgen dabei dem Protokoll Nr. 42, das einige Jahre zuvor von einer Graphentheoretikerin und einem Mathematiker für den Fall einer komplett unwahrscheinlichen Luftfahrt-Katastrophe entwickelt worden war. Die Aufklärung und spätere Zusammenführung der menschlichen Dubletten wird anhand einiger Einzelfälle beschrieben und enthält im Rahmen des Plots nur Erwartbares. Die Hypothesen zur Erklärung des Vorgangs sind ebenfalls nicht sonderlich spannend. Das Flugzeug könnte durch ein Wurmloch geflogen sein, es könnte in eine Art 3-D-Fotokopierer geraten sein (mit der Besonderheit, dass die Kopie früher aus dem Gerät herauskommt als das Original), und es könnte sich um eine Simulation handeln, die durch intelligentere Wesen (oder Menschen aus der Zukunft) aus Studienzwecken konstruiert wurde.

  • Geständnis

    Ich war wohl zwölf Jahre alt. In der Schule wurden Freiwillige für einen Bastelwettbewerb gesucht. Etwa die Hälfte der Klasse meldete sich, ich nach kurzem Zögern auch. Für die Anmeldung musste ein Formular ausgefüllt werden, die Interessenten erhielten einige Tage später in der Schule eine Papprolle mit diversen Inhalten. Darunter war ein großes Foto einer Caravelle, eines in Frankreich entwickelten Düsenflugzeugs, das unter anderem von der Scandinavian Airlines (SAS) eingesetzt wurde und wohl auch transatlantische Strecken bewältigen konnte. Außerdem lagen mehrere Schnittmusterbögen und eine Anleitung zu ihrer Nutzung bei, ferner schöne Pappe und Transparenzpapier. Die Aufgabe bestand darin, ein recht großes Pappmodell (nach meiner Erinnerung nahm es einen halben Küchentisch ein) der Caravelle zusammenzukleben. Das Flugzeug hatte an der Heckflosse das SAS-Logo, die Fluggesellschaft hatte den Wettbewerb organisiert, und die Siegermodelle sollten irgendwo in der Innenstadt ausgestellt werden.

    Ich war absolut kein talentierter Bastler, mir fehlten auch Umsicht und Geduld für die komplexe Aufgabe. Der Flugzeugrumpf geriet mir ein wenig beulig, die abgerundete Nase blieb auch nach dem zehnten Versuch eine spitze Tüte. Nach zwei, drei Nachmittagen gab ich auf und legte den Papphaufen auf einen Schrank, mit der halbherzigen Vornahme, nach einer Weile einen Versuch zur Komplettierung zu unternehmen.

    Dazu kam es natürlich nicht.

    Einige Wochen später kam der stellvertretende Schulleiter herunter auf den Übungsplatz neben dem Schulgebäude, auf dem wir im Sportunterricht gerade Hochsprung übten. Er rief mich heran und sagte, in Kürze käme Besuch, zwei Herren, die mich sprechen wollten. Sie könnten kein Deutsch, und ich wüsste wohl, wie man sich auf Englisch bedankt. Ich sagte zweimal »Thank you«, und er zog offenbar befriedigt ab. Tatsächlich kamen eine Weile später zwei Männer mit einem sehr großen Karton, steuerten den Sportlehrer an, dieser rief mich heran, und die Beiden redeten intensiv auf mich ein. Ich hatte erst seit einigen Monaten Englischunterricht und verstand kein Wort. Schließlich reichten sie mir den Karton. Ich war verwirrt, aber brachte leise ein »Thank you« heraus, woraufhin sie sich nach einem weiteren unverständlichen Wortschwall entfernten. Es waren Angestellte der Fluggesellschaft SAS, was ich an den Abzeichen an ihren Jacketts erkannt hatte.

    Der Sportlehrer war offenbar in das Komplott eingeweht. Er rief alle zusammen, um uns zu erklären, dass ich den Bastelwettbewerb gewonnen hätte und mir gerade der erste Preis übergeben worden sei. Er gratulierte mir und forderte mich auf, den Karton zu öffnen. Er enthielt ein großes Flugzeugmodell aus Blech, eine Caravelle mit SAS-Logo. Es hatte einen Elektromotor und konnte auf dem Boden herumfahren, gesteuert durch eine drahtgebundene Fernbedienung. Ich war sehr verwirrt, merkte jedoch schnell, dass sich meine Mitschüler nicht nur für das Preisgeschenk interessierten, sondern weitere Fragen hatten, die ich nun schlüssig beantworten musste. Die fertigen Pappmodelle mussten nämlich einige Wochen zuvor in der Schule abgegeben werden, und niemand hatte mich mit meinem Modell gesehen. Ich sagte, dass ich es an dem betreffenden Tag nicht der Gefahr hatte aussetzen wollen, in der Straßenbahn beschädigt zu werden und ich es daher am Nachmittag selbst zur SAS, die eine Niederlassung in der Stadt hatte, gebracht hätte.

    Zuhause erklärte ich meinen Eltern, es hätte offenbar die Auslosung eines Preises unter den eingeschriebenen Teilnehmern des Wettbewerbs gegeben, und ich hätte dieses Flugzeug gewonnen. Es machte mir übrigens keinen Spaß, es in der Wohnung herumfahren zu lassen, und ich schenkte es nach ein paar Tagen einem drei Jahre jüngeren Jungen, der bei uns im Haus wohnte.

    Das preisgekrönte Modell sah ich mir im Foyer der SAS-Niederlassung an. Es war perfekt, ich hätte so etwas nie hinbekommen. Auf einem Schild vor dem Flugzeug stand mein Name. Ich brauchte lange, um mit meiner Verblüffung fertig zu werden. Mit wem hätte ich darüber reden können? Wie hätte ich den offenkundigen Fehler der Preisjury aufklären können? Wie war der Fehler überhaupt zustande gekommen? Bis heute scheint es mir immer noch am wahrscheinlichsten, dass der eigentliche Sieger seinem Modell einen unleserlichen Zettel mit seinem Namen beigegeben hatte und durch Abgleich mit den zuvor abgegebenen Formularen dann die Wahl auf mich fiel. Einige Wochen lang befürchtete ich, dass der eigentliche Gewinner sich nach einer Inspektion des ausgestellten Modells melden und beschweren könnte und ich zu einer peinlichen Befragung durch die Schulleitung oder durch die Fluggesellschaft vorgeladen würde. Das geschah aber nicht.

    Für eine Wiedergutmachung ist es jetzt sicher zu spät. Es drängt mich jedoch dazu, vor aller Welt zu erklären: Es tut mir leid, unbekannter Bastler! Du hattest den Preis wirklich verdient.

  • Krimiserien anders gesehen

    Der permanente Blutrausch in öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen ist durchaus ein Ärgernis. Morde und deren Aufklärung emotionalisieren, »optimieren« die Reichweite, sind purer Populismus und belegen somit eine Programmstrategie, die absolut nicht dem gesetzlichen Auftrag dieser Sender entspricht.

    Aber man kann diese Videos auch anders sehen. Die amerikanische Autorin Jenny Offill mag europäische Krimiserien:

    Ich finde es unendlich interessant, mir das Innere der Wohnungen und Arbeitsplätze von Menschen in anderen Ländern anzuschauen. Von mir aus könnte man den Teil mit den Morden weglassen und mir stattdessen Menschen zeigen, die frühstücken und Lebensmittel einkaufen, und ich fände das genauso interessant.

    Das ist der Schlüssel für das gelegentliche Vergnügen, das mir die Serie Barnaby bereitet, in der stilvoll eingerichtete englische Landhäuser für mich die Hauptrolle spielen.

    [Zitat aus der FAS 08.08.2021]

  • Rolf Hosfeld ist tot

    Rolf war mein Freund seit 1969, als er in die Bockenheimer Landstraße 111 einzog. Wir schrieben gemeinsam Referate (Germanistik) und Stellungnahmen gegen die Anmaßung studentischer »Arbeiterpolitik«. Dreißig Jahre später tingelten wir mit Konzepten für historische TV-Dokumentationen und Kulturzeitschriften durch die Förderlandschaften Berlins und Sachsen-Anhalts. Dazwischen und danach trafen wir uns bei Rotwein und Zigaretten, zunehmend nur noch seinen. Er rauchte, was das Zeug hielt. Es hielt nur bis jetzt.

  • Plattform der Erwartungen

    An Helmut Heißenbüttels literatur- und musikkritischen Texten habe ich immer bewundert, dass er sich um die Herausarbeitung von positiven Aspekten der von ihm besprochenen Werke bemühte. So wurde 1984 Paul Wührs Das falsche Buch, das bei der Kritik auf Unverständnis stieß, zum »richtigen« Buch, weil in ihm eine »Summe« von Schreib- und Lebenserfahrungen steckte. Und Hubert Fichtes ethnographisch-autobiographische Texte, die bei Erscheinen oft sehr distanziert zur Kenntnis genommen wurden (»Realismus als l’art pour l’art« – Reinhard Baumgart), bevor Fichte posthum eine Karriere als »homosexueller Popliterat« machte, waren für Heißenbüttel vor allem als beispielhafte »Selbstentblößung« interessant.

    Vor der Lektüre von Michael Seemanns Buch Die Macht der Plattformen habe ich mir fest vorgenommen, den H-Punkt (Heißenbüttel-Punkt) in ihm zu finden. Das ist mir von Anfang an sehr schwergefallen. Das Buch distanziert zunächst durch sein potthässliches Cover. Die 1927 von Paul Renner entworfene Futura weist nicht gerade darauf hin, dass brennend aktuelle Probleme des 21. Jahrhunderts behandelt werden. Ich habe einen Schreck bekommen, als ich las, dass der Autor dem Graphiker für dessen »wunderbare« Gestaltung dankt. Nun gut, jedenfalls legen die in Andeutung übereinander gestapelten dreidimensionalen Rechtecke auch hinter dem Autorennamen die Frage nahe, auf welchen Erkenntnissen anderer Seemann aufsetzt. Da das Buch auf einer Dissertation basiert, gibt es reichhaltige Quellennachweise, denen es sich nachzugehen lohnt.

    Die Plattform-Metapher ist eine der verludertsten im neuländischen Sprachgebrauch. Sogenannte Handelsplattformen, auf denen sich Käufer und Verkäufer treffen, sind begrifflich noch hinnehmbar. Eigentlich sind es Marktplätze, aber auch der Marktbegriff mit seinen metaphorischen Wucherungen ist problematisch. Dennoch wäre der Ausdruck virtueller Marktplatz teilweise durchaus treffend, weil er das Geschehen auf den Plattformen konkreter adressiert als die Plattform. Produktionsplattformen für Kraftfahrzeuge – also die gemeinsame technische Basis für Fahrzeuge von Volkswagen, Audi, Seat, Skoda und andere – erhalten zunehmend andere Bezeichnungen, bei VW ist die frühere Plattform jetzt ein »Modularer Querbaukasten«. Seemann unternimmt weitreichende definitorische Bemühungen, aber kommt letztlich zu keinem klaren Schluss, was er als Plattform bezeichnen bzw. nicht bezeichnen möchte. Zudem fehlen Begründungen dafür, warum die ins Auge gefassten SNS (Social Network Sites), Angebots- und Handelsportale etc. überhaupt als Plattformen bezeichnet werden sollten oder sogar müssen.

    Der Titel des Buchs ist ohnehin irreführend. Seemann geht es gar nicht um die Macht von Plattformen, sondern um die Macht der Unternehmen, die diese auf der einen Seite ertragreichen, auf der anderen Seite populären Gebilde gegründet haben und betreiben. Nicht der Spielsalon hat »Macht« und zieht Profit aus dem Verhalten der Spielsüchtigen, sondern dessen Betreiber. Der Plattformbegriff lenkt die Aufmerksamkeit eher auf das Geschehen zwischen Nutzern und nicht auf die Organisation des Betriebs. Insofern ist er in meinen Augen recht eigentlich überflüssig und sollte weitgehend abgeräumt werden.

    Die Geschichte von Napster, einem damals manchmal als Tauschbörse bezeichneten Portal, das Zugang zu den Musik-Bibliotheken aller angeschlossenen Teilnehmer gewährte, zieht sich episodisch durch das Buch hindurch. Das könnte so gemeint sein, dass Napster eine Muster-Plattform bzw. ein Plattform-Muster darstellte: Ein Peer-to-Peer-Netzwerk, das einem klar definierbaren Zweck dient. Napsters Betreiber waren allerdings nicht imstande, die technischen, rechtlichen und ökonomischen Probleme zu lösen, die mit ihrer schnell wachsenden Einrichtung verbunden waren. Insofern bleibt das Beispiel bei Seemann in der Luft hängen.

    Der Anspruch Seemanns, eine »trans«disziplinäre Plattformtheorie zu entwickeln, endet, um es ganz hart zu sagen, in einem multidisziplinären Feuilleton. Schon der durch nichts begründete und höchstens einmal durch ein Luhmann-Zitat versuchsweise legitimierte Anspruch, eine allgemeine Plattformtheorie müsse zu allen vorhandenen und denkbaren Plattformen passen, sollte eine immer wieder patchworkartig und anekdotisch vorangetriebene Darstellung von allem möglichen Plattformartigen ausschließen. Daraus besteht das Buch jedoch über weite Strecken.

    An der Beschreibung des Geschehens auf den Plattformen ist – außer an der Begrifflichkeit – nicht viel auszusetzen. Plattformen ermöglichen und vereinfachen und formen »Interaktionsselektionen«. Das ist keine unerwartete Kennzeichnung, würde aber problematisch, wenn man sich die Mühe machte, jeder einzelnen der von Seemann erwähnten »Plattformen« (zum Beispiel das Sytem /360 von IBM, Uber und Twitter) in dieser Hinsicht auf den Zahn zu fühlen. Die (von Jonathan Zittrain übernommen: »Generativität«) Einflüsse von Plattformen auf Verhaltensweisen und Erwartungsstrukturen sind unbestreitbar – solche Einflüsse gingen und gehen allerdings auch von vielen Institutionen aus und erzeugen in der medialen und interpersonalen Kommunikation Vorbilder und Muster. Generativität allein medialen Einflüssen zuzusprechen, reduziert allerdings die Komplexität der Alltagskommunikation zu sehr, in der nach allen Erkenntnissen der Medienpsychologie die Face-to-face-Variante immer noch die höchste Relevanz für Entscheidungsänderungen und Verhaltensdispositionen hat.

    Die »Theorie« enthält viel verbales Bling-Bling. »Das Internet ist weniger eine Medienrevolution als eine Medienrevolutionsfabrik.« Eine Speicherung ist eine »Erwartungserwartung«. Hinzu kommen Kalauer wie »Die Welt wird zu einer Google« – die vielleicht ein Kitzel für den Doktorvater Pörksen sind, nicht aber für mich.

    Leserinnen und Leser bekommen Schnipsel aus der Mediengeschichte geboten, wie etwas über das Selbstwahlverfahren in der Telephonie oder über die Datenbank-Abfrage per SQL. Auch dabei gibt es dann abgehobene Wortkaskaden wie diesen Satz: »Diensteplattformen sind somit invertierte, automatisierte Plattformfabriken. Je mächtiger die Query-Technologien werden, desto komplexere Erwartungserwartungen lassen sich als Selektionsselektionen automatisieren.« An dieser Stelle wollte ich das Buch eigentlich schon schließen, nach erst 17% bewältigten Texts.

    Ich könnte endlos weiterklagen, über Oberflächlichkeiten, Beliebigkeiten, Stilblüten und irrelevante Abschweifungen.

    Lieber möchte ich jedoch zum »H-Punkt« kommen. Dieser ist für mich eindeutig die ausführliche Behandlung der Graph-Aneignung, von Seemann Graphnahme genannt, um verzichtbarerweise auf Carl Schmitts Landnahme (im Nomos der Erde) anzuspielen. Verzichtbar, weil »Aneignung« mir treffender erscheint als »Nahme«, da beim Nehmen das möglicherweise freiwillige Geben mitgedacht wird, bei der Aneignung jedoch der unzivile Akt des Diebstahls zumindest mit adressiert ist. Zudem kommt die Auseinandersetzung mit Schmitt über ein paar Sätze aus dem »Best of Schmitt«-Zitatenschatz nicht hinaus (sozusagen unvermeidlich: auch der Satz über den Ausnahmezustand wird hervorgekramt), obwohl sie gerade im Hinblick auf das durch die Praktiken der Plattform-Unternehmen in Bewegung geratene Verhältnis von Gewalt und Recht mehr Raum verdient hätte.

    Die Ordnung des Plattformbetriebs durch die Auswertung umfassender Daten aller ihrer Nutzer und deren Kommunikationen (zumindest auf einer nicht-semantischen Ebene), also die graphengesteuerte Politik dieser Plattform, ist das Thema, bei dem Seemann mich gewinnt. Auch wenn er hier viel Anekdotisches verbreitet und sich nicht die Mühe einer stärkeren Systematisierung macht, die seinen Theorie-Anspruch erfüllen würde, ist für mich das Kapitel über »Strategien der Graphnahme« das Zentrum seiner Arbeit, über das sich weiter nachzudenken lohnt.

    Die dann noch folgenden Kapitel über Plattformpolitik und die politische Ökonomie sind trotz der vielversprechenden Überschriften wieder anekdotisch basiertes medienwissenschaftliches Feuilleton im Pörksen-Style.

    Die in einem Epilog enthaltenen zehn Prognosen zur Entwicklung von Plattformpolitiken bieten keine Überraschung (Zentralisierung von Podcast-Angeboten, Kampf um die Dominanz in der Unterhaltungsbranche, ideologische Ausdifferenzierung von Plattformen, Nationalisierungsbestrebungen im Netz usw.). Eine Ausnahme bildet die zehnte Prognose: Das Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie. Dort findet sich der Satz: »Die repräsentative Demokratie braucht repräsentative Medien.« Die Öffentlichkeit und ihre Medien sind seit dem Absolutismus erfreulicherweise nicht mehr repräsentativ verfasst, und das gilt auch für die verfassten Zustände der aktuellen deutschen Republik. Bestenfalls »repräsentieren« Medien – und darauf spielt Seemann auch an – Tendenzen und Stimmungen der Bürger und Konsumenten – wobei die »privaten« Medien in Deutschland unter dem Tendenzschutz, den sie genießen, das auch dürfen und sollen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht, der soll das ganze Bild liefern, ohne eine einzelne Tendenz zu repräsentieren. Dass die inzwischen für die politische und kulturelle Kommunikation relevanten Netzmedien Unruhe in die Ordnung überschaubarer Tendenzen und Positionen bringen und fluktuierende Stimmungen abbilden, ist für massenmedial Sozialisierte schwer erträglich, wie auch am Regulierungsdiskurs der Medienpolitik zu beobachten ist. Forderungen nach »Disziplinierung der Algorithmen«, und das womöglich von Staats wegen, sind aufgetaucht und werden von Seemann (der das Schlagwort erwähnt) leider nicht zurückgewiesen.

    Fazit: Die Arbeit enthält viele wissenswerte und unterhaltsame Details, wird dem Anspruch einer »Theorie« der Plattform nicht gerecht, aber: Kapitel Fünf!