Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Family Affairs (1)

    Mary Everest Boole (1832–1916)

    Nach dem Bruder ihres Vaters wurde der Mount Everest benannt, beim Bruder ihrer Mutter in Irland lernte sie ihren Mann kennen, George Boole. Sie war an Mathematik interessiert, und der mathematische Autodidakt Boole, Sohn eines englischen Schuhmachers, der Mathematikprofessor in Cork geworden war, wurde ihr Mentor und nach dem Tod ihres Vaters ihr Ehemann. In ihrer Kindheit lebten ihre Eltern mit ihr sechs Jahre in Frankreich, um dem Homöopathen Samuel Hahnemann nahe zu sein. Sie blieb eine Anhängerin der Homöopathie, was möglicherweise den Tod ihres Mannes bewirkte. Dieser ging im November 1864 im strömenden Regen die drei Meilen zwischen ihrem Wohnhaus und dem College zu Fuß hin und zurück und zog sich dabei eine Erkältung zu. Seine Frau wickelte ihn in feuchte Tücher ein, getreu der homöopathischen Regel, dass in den Ursachen einer Erkrankung auch das Heilmittel zu suchen ist. Die Erkältung wuchs sich zu einer Lungenentzündung aus, an der George Boole am 8. Dezember 1864 starb.

    Mary Boole zog mit ihren fünf Töchtern (die jeweils im Abstand von zwei Jahren geboren worden waren) nach England zurück, arbeitete dort als Bibliothekarin, Privatlehrerin für Mathematik und Buchautorin. Sie war Gründungsmitglied der Society for Psychical Research 1882, verließ sie aber im selben Jahr wieder. Den in dieser Vereinigung verhandelten Problemen der Hypnose, Gedankenübertragung, Mediumistik und Geistererscheinungen blieb sie allerdings eng verbunden. Im Vorwort eines 1883 erschienenen Buchs, das die Botschaft der »Seelenkunde« speziell Müttern und Krankenschwestern nahebringen wollte, benennt sie die Verunsicherung, die viele westliche Intellektuelle von Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erfasste – auf der einen Seite Darwin, auf der anderen die Paraphysik.

    [Mary Boole: The Message of Psychic Science for Mothers and Nurses. London: Trubner & Co, 1883, ix]

  • Temps Noirs

    Meldung in der FAZ am 19.06.1953. Was stimmte daran? Eigentlich nur, dass Lou Bortz von Joseph D. Mazzei denunziert worden war. Mazzei war ein Krimineller und seit 1942 gelegentlicher FBI-Informant, der zwischen 1951 und 1956 in mehreren Gerichtsverfahren auftrat und immer Falschaussagen machte. So auch hier:

    On June 18, 1953, Mazzei testified before the Senate Permanent Subcommittee on Investigations, in Washington, D.C., that, at a meeting of the Civil Rights Congress on December 4, 1952, one Louis Bortz told him that he, Bortz, had been ‘selected by the Communist Party to do a job in the liquidation of Senator Joseph McCarthy.’ Mazzei further testified that the said Bortz conducted Communist Party classes in Pittsburgh to familiarize Party members with the handling of firearms and to instruct them in the construction of bombs.

    Ein Wortprotokoll des Verfahrens gegen Bortz findet sich auch. Bortz verweigerte konsequent Aussagen zu seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und zur politischen Aktivität anderer Personen.

    Lou Bortz war tatsächlich Kommunist, aber kein Bombenleger oder Attentäter. Er nahm am Spanischen Bürgerkrieg als Mitglied der Abraham Lincoln Brigade teil, deren Protagonisten und Kämpfe von Ernest Hemingway beschrieben wurden. Im 2. Weltkrieg war er einer von etwa 15.000 Kommunisten als Flugzeugmechaniker in der US-Armee aktiv, danach arbeitete er zunächst in Pittsburgh.

    Die Stahlmetropole Pittsburgh war ein Zentrum der amerikanischen Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaft AFL war hier sehr stark, und kommunistische Zellen hatten einigen Einfluss. So kann nicht verwundern, dass der Kommunistenjäger Joseph McCarthy und das FBI ein Augenmerk auf die Region richteten. Ein Film von Gordon Douglas I was a Communist for the FBI unterstützt die ideologische Aufrüstung der Amerikaner.

    Er erzählt 1951 die Geschichte eines FBI-Spitzels in der Pittsburgher kommunistischen Parteiorganisation. Bei Youtube kann er in voller Länge genossen werden. –** www.youtube.com/watch?v=R8zhmCjV71w** –

    Gleich zu Beginn erhalten die örtlichen Kommunisten hohen Besuch: »Gerhardt Eisler«.

    Dieser hat direkte Verbindungen mit Moskau und liefert die Instruktionen zur Vorbereitung gewaltsamer Unruhen und fordert erhöhte Wachsamkeit auch in Bezug auf Disziplin und Verlässlichkeit in den eigenen Reihen. Der Film-Gerhardt hat nicht nur biographisch, sondern auch physiognomisch eine auffällige Ähnlichkeit mit Gerhart Eisler. Er war der Bruder des Komponisten Hanns Eisler, KPD- und Komintern-Funktionär. Unter dem Schutz der spanischen Republik leitete er von 1937 bis 1939 den Deutschen Freiheitsssender 29,8, der auf Kurzwelle ein antifaschistisches Programm für Hörer in Deutschland sendete. Zu hören waren dort unter anderem Bertolt Brecht, Albert Einstein und Ernest Hemingway. Nach der Niederschlagung der spanischen Republik und zwei Jahren in einem französischen Internierungslager gelangte 1941 Eisler in die USA, war dort als Journalist aktiv und arbeitete tatsächlich auch für den sowjetischen Geheimdienst GPU.

    [Eisler im Film von 1951]

    [Der wirkliche Eisler 1949]

    Eisler war 1946 von seiner Schwester Elfriede (sich sich Ruth Fischer nannte) als Atomspion Moskaus denunziert worden, kam nach einer Verurteilung gegen Kaution frei und konnte 1949 als blinder Passagier auf einem Frachtschiff nach Europa entkommen. In der DDR wurde er für die politische Lenkung von Presse und Rundfunk zuständig, ab 1956 erst stellvertretender Leiter, ab 1962 bis zu seinem Tod 1968 Leiter des Rundfunks der DDR. Er hielt seine Hand über die Gründung und den Betrieb des innovativen und beliebten Jugendradios DT 64, in dessen Tradition die heutigen öffentlich-rechtlichen Wellen Fritz (RBB) und Sputnik (MDR) stehen.

  • Nur Trümmer, keine Heimkehr

    Günther Anders: Tagesnotizen. Aufzeichnungen 1941–1979,
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 117

    Günther Anders kommt am 18. Juni 1953 zum ersten Mal nach 20-jährigem Exil wieder nach Berlin. Weder an diesem Tag noch an einem der folgenden berichtet er über das Geschehen, mit dem wir den »17. Juni« verbinden. Die Panzer in der Leipziger Straße, die bei Demonstrationen Totgeschossenen kommen nicht vor. Staunend beobachtet er, dass ein Mann in Schöneberg ungeniert und ungeschützt sein Bedürfnis auf offener Straße verrichtet.

    Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen.

  • Fridolin Freundlich

    Zwei Meldungen heute:

    Der Egmont-Verlag arbeitet die Texte von Dr. Erika Fuchs in den Carl-Barks-Geschichten (Disneys Lustige Taschenbücher) um. Aus:

    Der Weise Rabe, der Häuptling der Zwergindianer, bittet das Bleichgesicht, die Friedenspfeife zu rauchen und zu sagen, was es begehrt.

    wird

    Der Weise Rabe, der Häuptling des Stammes bittet den anderen Anführer, die Friedenspfeife zu rauchen und zu sagen, was es (sic!) begehrt.

    Ausführlich dargestellt und kommentiert von Achim Hölter in der [FAZ](

    https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021–06–17/3e6715717b5c40e35f59e1f40a8b660c?GEPC=s9).

    Die andere:

    Bild aus der Times.

    Die Royal Scottish Opera zog ihre Inszenierung von John Adams’ Nixon in China aus einem Wettbewerb zurück, weil es Kritik auf Twitter am »Yellowfacing« einiger Darsteller gab. Nixon wird in Edinburgh von einem schwarzen Sänger, Eric Green, dargestellt.

    Ach so, und »Fridolin Freudenfett« heißt jetzt Fridolin Freundlich.

  • Herbst der Presse

    … und der auf Belegen basierenden Argumentation zum Medienwandel. David Koopmann, Verlagsvorstand des Bremer Weser-Kuriers, empört sich in der heutigen FAZ über die Nachrichtenangebote von Radio Bremen im Internet. Der Text- und Fotoanteil gegenüber Audio und Video sei zu groß, das bedrohe das auf Abos und Verkäufen basierende Geschäftsmodell der Tageszeitungen.

    Tatsächliche Effekte der Website und Apps von butenunbinnen.de (denn um diese geht es ihm wohl) kann Koopmann nicht benennen. Der Rückgang der Zeitungsauflagen seit den 1990er Jahren hat mehrere Ursachen, darunter einige von den Zeitungsverlagen selbst beigesteuerte. Die Erkenntnis, dass Journalismus sich Verbreitungsplattformen im Netz suchen muss, kam vielen Verlegern sehr spät und wurde über Jahre oft sehr dilettantisch umgesetzt. Das belegt auch Koopmanns Satz von heute. Schon vor 25 Jahren war absehbar, dass sich die Marktsituation für journalistische Angebote unaufhaltsam verändert. Wer erst das erst jetzt bemerkt und Nachrichten in öffentlich-rechtlichen Apps für das Zeitungssterben verantwortlich macht, sitzt offenbar im falschen Sessel.

    Ich warte auf die Studie, die erfragt, wieviele Menschen in Bremen (und Umland) die kostenpflichtigen digitalen Angebote des Weser-Kurier nicht wahrnehmen, weil sie sich bereits durch butenunbinnen.de ausreichend informiert fühlen.