Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Shades of Terror

    Dieses Buch Dostojewskijs, dessen frühere Übersetzungen meist »Die Dämonen« getitelt waren, las ich jetzt zum ersten Mal. Es ist wider Erwarten eine sehr erheiternde Lektüre.

    Der Text erschien 1871/72 zuerst in Fortsetzungen in einer Zeitschrift. Dostojewskij war zu der Zeit 50 Jahre alt. Er war als Spielsüchtiger hoch verschuldet, litt zudem an Epilepsie, lag in einem ständigen Kampf – vor allem mit sich selbst – um seinen Glauben und allgemein um Religiosität. Dabei versuchte er unentwegt, das »Russische« gegen die westliche Zivilisation und Kultur profilieren. Dennoch ist die Darstellungsweise des Romans über weite Strecken entspannt, distanziert, ironisch. Eine der Hauptfiguren, der seit Jahrzehnten von einer reichen Witwe ausgehaltene gescheiterte Schriftsteller und Dozent Stepan Trofinowitsch Werchowenskij, ist ein emotional und mental instabiler Hypochonder. Der Sohn der Witwe und Mäzenin, Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin ist eine mindestens ebenso unausgeglichene Natur, zwischen Clownerie und Verzweiflung schwankend, extrem liberal auch in seiner Lebensführung, partiell Mitwirkender in revolutionären Zirkeln. Er kämpft um seinen Gottesglauben, übrigens nicht besonders überzeugend – hier kann der selbst an seinem Glauben zweifelnde Autor offenbar nicht über seinen Schatten springen. Die dritte männliche Hauptfigur ist der Sohn Werchowenskijs, Pjotr. Er ist der Organisator einer revolutionären Terrorzelle, die durch Brandstiftung und Mord einen Aufstand der Landbevölkerung initiieren will, ein durchtriebenes, gewalttätiges Chamäleon. Er verursacht schließlich Morde und Selbstmord in den eigenen Reihen; der Kampf gegen »Verräter« hat Vorrang vor den revolutionären Zielen. Dass die revolutionäre Bewegung, der diese Terrorzelle angehört, etwas mit der »Internationale« von Marx und Engels zu tun haben soll, deutet Dostojewskij zwar an, konkretisiert das jedoch nicht und scheint in dieser Hinsicht auch nicht sonderlich beschlagen oder interessiert zu sein. Ich konnte mich bei der Lektüre der Assoziation an deutsche K-Gruppen in den 1970er Jahren nicht erwehren. Das diktatorische Durchsetzen der »richtigen Linie« um jeden Preis, das Dostojewskij schildert, prägte und beschädigte auch deren Mitglieder (auch wenn es wohl nicht bis zum Mord getrieben wurde).

    Drei Frauen stechen im Roman hervor: Die reiche aristokratische und herrschsüchtige Witwe Warwara Petrowna Stawrogina, die sich im ständigen Konflikt mit dem von ihr gepäppelten und auch bewunderten Intellektuellen Werchowenskij befindet, versucht bis zuletzt die Zügel in der Hand und die moralische Ordnung in ihrer Provinzgesellschaft aufrecht zu halten. Lisa, die schöne und kluge Tochter einer Generalswitwe, wird zum Spielball der Lügen und Intrigen, an denen aktiv Stawrogin und der junge Werchowenskij beteiligt sind. Eine von den Müttern erwünschte Heirat mit Stawrogin kann nicht zustande kommen, weil dieser sich vor Jahren bereits aus einer Laune heraus mit einer gehbehinderten und psychisch kranken Frau verheiratet hatte. Darja Pawlowna Schatowa, Tochter eines Leibeigenen und Zögling von Warwara Stawrogina, ist ebenfalls nur eine Spielfigur. Ihre von Stawrogina eingefädelte Ehe mit dem mehr als doppelt so alten Werchowenskij kommt wegen der moralischen Implikationen der Intrigen und Verwicklungen nicht zustande. Eine vierte weibliche Figur kommt erst später ins Spiel, Julija Michajlowna von Lembke, die Gattin des neuen Gouverneurs und eigentliche Fädenzieherin des politisch-gesellschaftlichen Geschehens in der Provinz, die deshalb auch von Pjotr Werchowenski in sein grausames Intrigenspiel eingebaut wird.

    Der Roman ist ein schönes Beispiel für eine inkonsequente Erzählerposition. Hauptsächlich gibt es einen Ich-Erzähler, ein Freund des alten Werchowenski, der bei ihm täglich ein- und ausgeht. Er figuriert intra-diegetisch, greift also selbst hier und da in das erzählte Geschehen ein und gibt den Lesern gelegentlich auch Hinweise auf seine Erzählerrolle, indem er bei manchen Informationen explizit »vorgreift« oder sie in der Erzählordnung »verschiebt«. Es gibt aber auch einen Erzähler in der dritten Person, der in erlebter Rede allwissend darstellt, was der bei dem bestreffenden Geschehen nicht anwesende Chronist nicht miterlebt haben kann. Den Wechsel zwischen intra- und extra-diegetischem Erzähler vollzieht Dostojewskij ganz flüssig und fast unauffällig. Eine Identifikation mit irgendeiner der Romanfiguren ist schlechthin nicht möglich.

    Etwas enttäuschend sind die Schlusspassagen. Die meisten Hauptfiguren werden durch verschiedene Todesarten kurzerhand abgeräumt. Ihr Bleiben wäre angesichts der kriminellen und moralisch unerträglichen Vorfälle schlecht begründbar gewesen. Unerträglich, so deutet Dostojewskij zumindest an, sind ohnehin die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Jahre in Russland. Die Witwe Stawrogina setzt allerdings aufs Überleben, bloß nicht in ihrer Heimat, sie emigriert mit ihrer Pflegetochter in die Schweiz.

    Die Übersetzung von Swetlana Geier verwendet ein modernes Deutsch und ermöglicht – ohne »glatt« zu wirken – das Eintauchen in den Strom des dargestellten Geschehens bei gleichzeitiger Distanz.


    Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Frankfurt am Main: Fischer, 2021.

  • Zwei Perspektiven

    I

    Perspektive Sofie. Sofie macht ein Praktikum im literarischen Lektorat eines Verlages. Nach kurzer Zeit ergibt sich eine enge Verbindung zu Gunnar, dem Programmleiter der Belletristik. Sie gehen jeden Donnerstagnachmittag in ein Lokal und trinken zusammen eine Flasche Wein. Die Beziehung geht nicht über dieses Ritual hinaus, wird jedoch von den Verlagskollegen anders interpretiert. Sofie geht in ihrer Arbeit auf, wird im Lektorat eingestellt und bald verantwortlich für die Reihe Andromeda. Gunnar wird krank, er ist 65 Jahre alt, gibt seinen Posten auf. Für Sofie wird ihre Arbeit unter einer neuen Chefin schwieriger. Sie hat eine Beziehung mit einem Sachbuchkollegen. Gunnar stirbt. Sofie nimmt Kontakt zu dem Programmleiter eines anderen Verlages auf, den sie über Gunnar kennengelernt hatte.

    II

    Perspektive Gunnar. Gunnar erzählt seine ganze Lebensgeschichte. Muttersohn, Philosophiestudent, im Verlag Aufstieg vom Büroboten zum Programmleiter. Am besten, neben seiner jahrzehntelangen erfolgreichen Arbeit, gefielen ihm die Gespräche mit Sofie – die in diesem Teil von ihm als »Du« adressiert wird.

    Nette Unterhaltungslektüre, vor allem für die Praktikantengeneration.


    Therese Bohman: Andromeda. München: Europa Verlag, 2023.

  • Geliebte Erinnerung

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    Rao Pingru, 1922–2020, stammte aus einer Intellektuellenfamilie in Zentralchina. Nach dem Schulbesuch trat er in die Kuomintang-Armee ein und kämpfte gegen die japanischen Besatzer. An Bürgerkriegshandlungen zwischen 1945 und 1949 nahm er nicht mehr teil.

    Nach seiner Heirat mit Meitang 1948 (sie starb 2008) – eine seit langem von den Elternpaaren arrangierte Ehe – lebten beide zunächst an verschiedenen Orten in Hotels oder bei Verwandten, bis Pingru in den 1950er Jahren über seinen »Dreizehnten Onkel« einen Job in Shanghai vermittelt bekam: Buchhalter eines Krankenhauses und gleichzeitig Lektor in einem medizinischen Fachverlag. Beides – die Lebensweise und die nach wie vor funktionierenden Verwandtschaftsverhältnisse – erstaunt, weil es nicht dem Bild entspricht, das ich von der durch die Kommunistische Partei zunehmend formierte Gesellschaft hatte. Schon einige Jahre später allerdings schlug die Partei zu und erschütterte das Familienleben Pingrus: 1958 bis 1979 musste er fern von der Familie in einem Umerziehungslager arbeiten. Der Grund war hauptsächlich seine Position als Kompaniechef in der Kuomintang-Armee. Kurze Besuche in Shanghai waren ihm erlaubt, ansonsten waren Meitang und er auf Briefe (und Telegramme) angewiesen, in denen es oft um Geld und Nahrungsmittel ging.

    Briefe von Pingru an Meitang füllen den letzten – unbebilderten – Teil des Buchs.

    Das Buch enthält hunderte Tuschezeichnungen des Autors, der erst im hohen Alter, mit 87 Jahren, zu malen begann. Die Illustrationen sind ganz nah an den Text angelehnt, in vielen Passagen ähnelt die Darstellung einer Graphic Novel. Aber der Text ist kein Roman, nicht fiktional, sondern eine Autobiographie, dem Vermächtnis von Meitang gewidmet. Der Duktus der Bilder ist nur scheinbar naiv, einige Rezensenten bemerken eine Anlehnung an die Darstellungsweise von Jean-Jacques Sempé.

    Die politischen und gesellschaftlichen Verschiebungen zwischen 1922 und 2013 (da erschien das Buch in China) spielen nur eine äußerst marginale Rolle im Buch. Ich habe den Namen Mao Zedong nicht darin gesehen, nur einmal den von Deng Xiaoping. Pingru erzählt fast ausschließlich vom persönlichen Leben, von der Familie – und vom Essen.

    Rao Pingru: Unsere Geschichte. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2023.

  • Nicht Figur, eher Medium

    Mit einiger Verwunderung hat die Kritik den neuen Roman von Zadie Smith aufgenommen und zu etikettieren versucht. Ein »historischer Roman«, gar ein »viktorianischer« soll es sein. Der auf tatsächlichen Ereignissen und Figuren basierende Roman handelt in der Tat in der viktorianischen Ära, im wesentlichen Ende der 1830er bis Anfang der 1870er Jahre. Insofern schon historisch, und die Autorin hat ausgiebig Quellen studiert, um große Teile des Stoffs in der Realgeschichte zu verankern. Auch sprachlich bleibt sie ganz nah bei ihren Protagonisten und leistet sich keine Modernismen. »Viktorianisch« kann der Roman allerdings nicht genannt werden, denn weder Dickens, Thackeray, Disraeli oder Eliot hätten eine ähnliche Thematik gewählt wie Smith.

    Es gibt im Buch drei ineinander verschachtelte Erzählstränge, die zudem nicht chronologisch verlaufen, sondern häufig die Zeiten wechseln. Die früher angesiedelten Szenen klären schrittweise über die Verhältnisse auf der obersten Zeitebene auf.

    Die Hauptfigur und sozusagen das Medium des Romans ist Eliza Touchet. Sie hat als handelnde Person, als Beobachterin und als Zuhörerin Teil an allen drei Handlungssträngen. Sie ist die Cousine des Schriftstellers William Ainsworth, der 41 heute vergessene Romane verfasste. Mit ihm hatte sie auch eine Liebesbeziehung, ebenso mit seiner früh gestorbenen -Frau. Mrs. Touchet – wie sie durchgängig im Roman genannt wird – war selbst verheiratet, ihr Mann verließ sie, nahm ihr gemeinsames Kind. Beide wurden Opfer einer Epidemie. Eine kleine Erbschaft sichert ihr das Überleben, aber statt einer selbstständigen Existenz zieht sie es vor, bei ihrem Cousin zu leben und die Rolle der Haushälterin zu spielen. Nebenbei ist sie auch Leserin der schwallartig produzierten Romane von William Harrison Ainsworth (einige davon lassen sich bei archive.org finden), leider nicht Lektorin, da der Autor kritikresistent ist.

    Ein zweiter Plot, es ist ein echter, taucht in der Mitte des Buchs auf. Es handelt sich um den Fall Roger Tichbourne – oder Arthor Orton. Der junge Adlige Roger verschwand auf den Weltmeeren, und Jahrzehnte später beanspruchte ein Dorfmetzger, aus Australien nach England zurückkehrend, dieser Tichbourne zu sein. Der Fall und der sich lang hinziehende Prozess wird im Buch, gesehen durch die Augen von Mrs. Touchet, ausführlich abgehandelt.

    Der junge Roger Tichbourne und sein Identitätsräuber Arthur Orton

    An ihn hängt sich der dritte Erzählstrang an. Der falsche Tichbourne wird von einem aus Jamaika stammenden schwarzen Bediensteten und dessen Sohn begleitet, Andrew und Henry Bogle. Mrs. Touchet fühlt sich vom älteren Bogle auf eine unerklärte Art angezogen und kommt schließlich mit ihm ins Gespräch. Dessen Inhalt machen dann viele Kapitel des Buchs aus. In ihnen wird die Familiengeschichte Bogles seit Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt, die Geschichte der Sklavenarbeit auf Jamaika und der halbherzigen abolitionistischen Bemühungen in England. Bogle arbeitete für einen Onkel des verschwundenen Tichbourne auf Jamaika, konnte sich später freikaufen und geriet irgendwie in Kontakt mit dem Identitätsräuber Orton, dessen Version er vollständig vor Gericht vertrat.

    Das alles ist lesenswert und erweckt Empathie, ist aber nicht wirklich zwingend konstruiert. Viele Details schweben in loser Verbindung im Erzählstrom dahin, der nur zeitweilig ein wenig Spannung durch die Unklarheit des Gerichtsverfahrens erhält. Nicht einmal die Figur von Mrs. Touchet, von der soviel die Rede ist und deren Perspektive die Darstellung dominiert, wird so dicht oder nah gezeichnet, dass sie emotionale Regungen bei der Leserschaft hervorzurufen vermag. Sie bleibt durchgängig das Medium vielfältiger, darunter vieler unwichtiger und für den Erzählfluss verzichtbarer Ereignisse. Ist die Übertragung abgeschlossen, kann das Medium vergessen werden; so ist es auch hier.

    Für mich interessant sind die häufig eingestreuten Elemente der englischen politischen und Kulturgeschichte. Das Massaker von Peterloo 1819, die formelle Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire 1833 und die Auseinandersetzungen um die Korngesetze um 1840 werden oft erwähnt. Einige bedeutende Charaktere der viktorianischen Kultur treten im Roman als Nebenfiguren auf: Charles Dickens, George Cruikshank, William Thackeray. Die Zeitschrift Bentley’s Miscellany, die erst von Charles Dickens, dann von William Ainsworth herausgegeben wurde, lohnt gewiss einmal eine Durchsicht. Zadie Smith vergisst auch den linken Flügel nicht, in Gestalt von John De Morgan, Agitator der von Karl Marx gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation in Irland, der später in den USA erfolgreicher Autor von Abenteuer-Heftchen-Romanen wurde.

    Die Übersetzung ist erfreulich, sprachlich vielleicht etwas geglätteter als das von mir allerdings nur kurz konsultierte Original. Einige Slang-Ausdrücke und Gedichte bleiben unübersetzt und sind auch so verständlich. An einer Stelle leistet sich Tanja Handels einen kleinen Scherz mit ihren Leserinnen und Lesern, indem sie dieses Zeugma einstreut:

    Mrs. Touchet hielt eine Droschke an und der amüsierten Miene des Kutschers stand. (S. 504)

    Übrigens: Eine wichtige Quelle zu Ainsworths Werken, die häufig im Buch genannt werden, ist dieses zweibändige Werk (leicht bei archive.org zu finden):


    Zadie Smith: Betrug. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023.

    Zum Fall Tichbourne: Süddeutsche Zeitung 2022

  • Werk und Werken

    Von Carlos Spoerhase & Steffen Martus: Geistesarbeit war ich nicht übermäßig angetan. Mir gefällt die »praxeologische« Sichtweise der Autoren nicht. Vielmehr: nicht die Sichtweise, aber deren ausführliche Darlegung, die weitgehend auf die Nennung und Aufzählung von Trivialitäten hinausläuft. Bachelard und Latour haben für verschiedene Naturwissenschaften gezeigt, welchen Einfluss das Labor, die Werkzeuge, die experimentellen Prozeduren und institutionellen Rituale auf die wissenschaftlichen Erkenntnis haben. Eine vergleichbare Sicht wird nun auf die literaturwissenschaftliche Praxis geworfen, um die Hervorbringung ihrer Resultate verständlich zu machen. Das finde ich nur in Maßen interessant. Spoerhase & Martus haben daraus ein geradezu unmäßiges Buch gemacht und werfen auf 600 Seiten Blicke auf die Entstehungsprozesse von Werken Peter Szondis und Friedrich Sengles. Da es im Buch einige Referenzen auf ein früher erschienenes gibt, an denen Spoerhase ebenfalls beteiligt war, habe ich es mir angesehen.

    Das Werk enthält 19 Beiträge, die sich um die Fragestellung gruppieren: »Welche paratextuellen, institutionellen, autorintentionalen, formalen und inhaltlichen Kriterien muss ein Text erfüllen, damit ihm ein Werkstatus zugeschrieben wird?« (17) Werk kann dabei Opus sein (Einzelwerk), Werkausgabe (Œuvre) oder auch Gesamtwerk (Patrimonium). Die verlegerische Werkkonstitution, so legen die Herausgeber in ihrer erhellenden Einleitung dar, hat einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf literaturwissenschaftliche Lektürepraktiken und Interpretationsverfahren – und selbstverständlich auch auf den Markt oder den Kanon. Schön gesagt: »Das ›Werk‹ erweist sich … als ein historisch etabliertes Modell, die sozialen Praxiszusammenhänge einer ›vergesellschafteten‹ Textualität zu arrangieren und zu regulieren« (19). Andererseits hängt am Werkbegriff die Gefahr der Idealisierung der Autorschaft und ihrer Hervorbringungen. Der Band setzt an der kritischen Einsicht an, dass das »biblionome Zeitalter«, von dem Ivan Illich 1991 sprach (Im Weinberg der Texte), allmählich zu Ende geht und daher auch die Buchform der Werkkonzeption an Überzeugungskraft verliert. Andererseits sollten phantasielose Experimente wie Code Poetry, Hypertext-Literatur, Interactive Fiction, Handy-Romane, Instapoetry und Twitteratur nicht so wichtig gemacht werden, wie die Herausgeber es tun. Behauptungen wie die, dass sich die Grenzen von privatem und öffentlichem Schreiben auflösten, sind haltlos. Es mag ja sein, dass ein Großteil aller Texte netzöffentlich erscheint (6), aber diese Texte bilden eher eine neue Zwischen-Schicht zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre als deren Grenzen aufzulösen. Alles Digitale = öffentlich? Auch die »performative Wende«, die aus den Interaktionsmöglichkeiten in digitalen Medien abgeleitet wird, scheint mir eine bodenlose Übertreibung zu sein.

    Die Erzeugung unikaler Texte ist keineswegs erst durch die Print-on-demand-Technik gegeben, wie die Herausgeber meinen, sie wurde schon früher praktiziert, zum Beispiel vom Verlag Klaus Ramm, der 1984 x verschiedene Exemplare von Hartmut Geerkens holunder herstellte (ich habe zwei im Regal).

    Den Beitrag zu paratextuellen Aspekten (Alexander Starre) habe ich gern gelesen, auch den von Andrea Albrecht über die Werkkonzeptionen bei Georg Lukács.

    Ganz und gar nicht befriedigend ist der abschließende Beitrag von Annette Gilbert über die »Zukünfte« des Werks. Es ist einer der Versuche, Epochengrenzen mit irgendeinem einem Vokabular zu beschreiben, in dem auf jeden Fall ein »post-« vorkommt. Wie kann also »Bedeutungserzeugung« in »Postproduktionen« geschehen? Was soll das überhaupt sein? Bedeutungen erzeugen doch wohl die Rezipienten, nicht die Produzenten, ob Post- oder nicht. Gilbert stützt sich auf Ansätze, die auf den Reproduktions-Charakter (Remake, Kopie, Weiterverarbeitung von Vorhandenem) von Werken abheben und ein angeblich neues Konzept von Originalität und Kreativität belegen (496). Die seit den 1940er Jahren in verschiedenen künstlerischen und literarischen Gattungen entstandenen experimentellen Formen – vom Cut Up über Conceptual Writing bis zur Aleatorik – bilden einen reichhaltigen Fundus, dem Gilberts »Post« eigentlich nichts Neues hinzufügen kann. Was ist »Kuratieren« anderes als Collagieren? Kennen wir »infinites Schreiben« nicht seit den spiritistischen Sitzungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (oder seit Gertrude Stein)? Aufgescheucht durch digitale Techniken und die durch sie beeinflussten Ideen und Hervorbringungen sollten sich Literaturwissenschaftler_innen vielleicht ein paar Jahre Zeit lassen, bevor sie Erscheinungen für grundstürzend neu erklären (Twitteratur u. ä.), die schon nach kurzer Zeit ihre Banalität offenbaren und zu Recht vergessen werden. »Das literarische Leben der Gegenwart« (543) bestimmen sie jedenfalls nicht.


    Lutz Danneberg; Annette Gilbert; Carlos Spoerhase (Hrsg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2019.

    Carlos Spoerhase; Steffen Martus: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2022.