
Hartmut Geerken: Kant. Spenge: Klaus Ramm, 1998.
Hartmut Geerken: Kant. Spenge: Klaus Ramm, 1998.
Heute im Netto-Supermarkt. Irgendwo im Kassenbereich kräht ein Kind: »Ich will es aber haben«, schreit, brüllt minutenlang. Ich erreiche die Kassenschlange und sehe, was los ist. Großvater, Mutter und der sechsjährige Tom ringen um eine Kinderzeitschrift, irgendetwas mit Lego. Großvater hält den Jungen fest, während die Mutter das Heft ins Regal zurückbringt. Tom schreit wie am Spieß. Zwischendurch kurz einmal verständlich: »Ihr habt versprochen, dass ich das haben darf.« Er darf es nun doch nicht haben? Warum? Gebrüll, Wutanfall mit violett-rotem Kopf, Aufstampfen, klischeeartig, wie in einem schlechten Bilderbuch. Ich kann Mutter und Sohn unmittelbar nach draußen folgen, während der Großvater noch an der Kasse beschäftigt ist. »Du hast das Heft doch schon«, sagt die Mutter. »Ich will es aber haben, ihr habt es versprochen« – und ein weiterer Wutausbruch mit inzwischen schon heiserem Geschrei. »Im März gibt es das nächste, das bekommst du dann.« »Ich will es aber nicht im März, ich will es jetzt haben!« »Wir kaufen doch nicht das Heft zweimal, das Du schon hast.« – »Doch, ich will das jetzt haben.« Ein unlösbares Problem. Seine Familie versagt ihm das Glück des neuen Hefts, weil der Verlag die Periodizität seiner Kinderzeitschrift noch nicht an die Erwartungen Toms angepasst hat. Ich hätte es gern ausprobiert: Wäre Tom glücklich geworden, wenn er das Februarheft ein zweites Mal bekommen hätte?
Die Wirtschaft, die meistbietende versucht, uns zu ihrem Vorteil einzureden, dass Kirche Kirche ist und Berg Berg – dass doppeltgemoppelt wird, – Soldat = Soldat, Panzer = Panzer, Krieg = Krieg. Wenn ich die Gleichungen mit Lesende = Lesende fortsetze, ist der Blödsinn umrissen. Sehen wir uns den Soldaten näher an, lesen wir ihn: — Hier wird Liebe befohlen, mit Gewalt für Liebe gesorgt. Der Soldat als Mittel seiner Abschaffung. Entsprechend der einzelne Panzer, der als Waffe benutzt wird, die die Nichtbenutzung von Waffen erkämpft. Der Panzer = das Kampfverbot. Das Kampfverbot = der Panzer. Der Panzer als Denkmal seiner Abschaffung. (…) Sich selbst entwaffnende Gewalt. Gewalt, die sich nach Anwendung aufhebt (was ihren Ein-für-allemal-Sieg voraussetzt). [60f.]
Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Ein Essay. Zürich: orte-Verlag, 1983
Wer sie noch nicht alle kennt oder gern einmal wieder und neu erzählt bekommen möchte, findet sie in diesem Buch: die Anekdoten, die sich ums Radio ranken. Stephan Krass war selbst jahrelang im Rundfunk tätig und ist ein frischer Erzähler. Vom Funkerspuk noch im Ersten Weltkrieg über Lakehurst und War of the Worlds geht es zu den Nachtstudios der fünfziger Jahre und schließlich zu Radio Caroline und den aktuellen Hörbuch- und Podcast-Trends. Krass bietet gute Unterhaltung, quasi einen Gegenpol zu den im Hintergrund laufenden Berichten über die Konflikte von Menschen mit der Natur und untereinander.
Die aus einer türkischen Familie stammende Amerikanerin Elif Batuman hat eine Art Coming-of-age-Roman geschrieben, der zum Teil recht komisch ist. Er handelt von einer Achtzehnjährigen, die in Harvard Linguistik und einige Sprachen zu studieren beginnt, und ihren endlosen Kommunikations- und Verständnisproblemen im Umgang mit Kommilitoninnen und vor allem einem Freund, mit dem sie das Aneinandervorbeireden meisterhaft auf die Spitze treibt – ohne die eigenen Beiträge zu ihren Verständigungsproblemen dabei zu reflektieren. Ein großer Teil des Romans spielt auf dem Campus und in Boston, dann geht es über Paris und einen längeren Aufenthalt in Ungarn in die Türkei. Das Buch hat einige Längen und wäre mit 300 statt 432 Seiten noch unterhaltsamer. Aber als Entspannungslektüre vor dem Lichtausmachen ist es gut geeignet.
Stephan Krass: Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcast. Springe: zu Klampen, 2022.
Elif Batuman: The Idiot. A Novel. New York: Penguin Press, 2017 (auch deutsch: Die Idiotin).
Betrachtet man die Biografie meiner Mutter genauer, wird plausibel, warum eine Frau wie sie sich nicht dem Klassenkampf, den großen geschichtsphilosophischen Deutungen des Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie verschrieben hat: Sie hatte zu viel zu tun. Man wird nicht zum Subjekt der Revolution, während man schmutzige Windeln in einem Kochtopf auskocht, in einem Plattenwerk Buch über die sozialistische Produktion führt oder Schweine in Hälften teilt. Meine Mutter träumte nicht vom Klassenkampf. Wäsche von fünf Personen zu schleudern war struggle genug. (22/23)
Hobrack versucht, eine Synthese von feministischer und Klassenperspektive herzustellen. Sie macht darauf aufmerksam, dass Arbeiterinnen und Frauen aus der Mittelschicht nicht unbedingt in einem Boot sitzen. Besonders interessant ist die Erfahrung, die sie aus der DDR-Sozialisation mitbringt. Sie ist zwar 1986 geboren, aber bezieht nicht nur ihre eigene Nach-Wende-Perspektive in ihre Erzählung ein, sondern vor allem die ihrer Mutter. Die DDR »schenkte« den Frauen Gleichberechtigung und Entlastungen durch Kinderkrippen, weil sie ihre Arbeitskraft in den Betrieben brauchte, und zwar für alle Arten von Arbeit. Dafür wurde dann mit tertiärer Bildung geknausert – es wurde nur eine gewisse Anzahl von Hochgebildeten benötigt, aber eine große Masse an einfachen Arbeitskräften. Vergleichbare Tätigkeiten wurden im Westen zunehmend von Zuwanderern ausgeübt. Ein weiterer spezifischer DDR-Aspekt ist, dass der Heiratsmarkt kaum Chancen zum sozialen Aufstieg bot, da es in der Gesellschaft kaum Aufstiegschancen gab, von den Hierarchien in den Partei- und Staatsbürokratien einmal abgesehen.
Die DDR-Sozialisation scheint es zu sein, die eine produktive Sicht auf die Konzepte von Klasse, Identität, Patriarchat gefördert hat. Insofern ist der Text auch unter dem Gesichtspunkt spannend, dass er Einblicke in eine für Bewohner des deutschen Westens weitgehend verborgen gebliebene Lebenswelt gewährt.
Immer orientiert an ihrer eigenen Biographie und der ihrer Mutter, bringt Marlen Hobrack Bewegung in die Diskussion über Klassen- und Identitätsverhältnisse im aktuellen Deutschland. Ihre eigene Position kommt sehr gut in einem von ihr wiedergegebenen Satz von Emma Dabiri zum Ausdruck: »Vermutlich wird ein weißer Arbeiter nicht verstehen, wie es sich anfühlt, eine Schwarze Arbeiterin zu sein, aber er versteht, was eine Zehn-Stunden-Schicht bedeutet. Und darauf kommt es an.«
Die im Untertitel des Buchs Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet enthaltene Andeutung einer Verallgemeinerung über das Anekdotisch-Biographische hinaus kann sie allerdings nicht einlösen. Das ist auch gar nicht nötig, Stoff zum Nachdenken liefert sie auf 200 Seiten genug.
Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Berlin: Hanser, 2022.
Emma Dabiri: Was weiße Menschen jetzt tun können. Von ›Allyship‹ zu echter Koalition. Berlin: Ullstein, 2022.