Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Mittel gegen Hass und Hetze

    Gniffke rules

    Die in der FAZ zitierten Sätze des neuen ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke – aus einem Interview mit der dpa – lassen nicht erwarten, dass die ARD einen Beitrag zur fälligen Transformation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkapparate in ein online-taugliches Plattformangebot leisten wird.

    Wenn wir sehen, was im Moment an Hass und Hetze grassiert, wie viel Desinformation es gibt, stellen wir doch fest: Es hagelt ganz schön rein ins Dach der Demokratie … Und wir möchten dazu beitragen, dieses Dach wieder abzudichten. Und wir möchten diejenigen sein, die helfen, Wirklichkeit und Fälschung auseinanderzuhalten … Unabhängiger Journalismus ist im Moment auf dem Rückzug, und deshalb wäre der Schritt, jetzt unsere Vielfalt in Deutschland weiter einzuschränken, aus meiner Sicht falsch.

    Es ist seit Jahren dasselbe Mantra, das die Vertreter der Anstalten, ihrer Gremien und auch diverse Unterstützer herunterbeten: Die Demokratie ist in Gefahr, deshalb brauchen wir die unabhängigen öffentlich-rechtlichen Medien – und wenn es sie nicht schon gäbe, müsste man sie gerade jetzt erfinden.

    »Unsere Vielfalt«, das ist auch die fortgesetzte Koexistenz der Fernsehsysteme von ARD und ZDF, koste es, was es wolle. Damit werden auch weiterhin die Mittel gebunden, die für eine konsequente Transformation der Apparate in Online-Medien notwendig wären. Konsequent sein bedeutet zum Beispiel, dass nur eine einzige öffentlich-rechtliche Mediathek sinnvoll ist. Konsequent wäre, dass Inhalte und Formate für alle Beitragszahler entwickelt werden und die Priorisierung der älteren, nur fernsehenden Generationen beendet wird. Dazu gehört, dass auch ausländische Mitbürger und Menschen migrantischer Herkunft angesprochen werden – es handelt sich hier um etwa 25 Prozent der Bevölkerung. Sie bilden einen weitestgehend ignorierten Teil der nach dem Verfassungsauftrag zu adressierenden Allgemeinheit. Konsequent wäre, die mehrfach von Verfassungsrichtern als Systemmerkmal formulierte Ausrichtung der Programmangebote nach anderen als nach Marktkriterien umzusetzen. Und schließlich wäre es konsequent, die Mechanismen der Meinungsbildung in Onlinemedien endlich zu akzeptieren und die Mediatheken konsequent für Nutzerdialoge zu öffnen – auch wenn das viel Geld und Personaleinsatz erfordert.

    Die öffentlich-rechtliche Abwehr von Hass und Hetze, von der Gniffke spricht, wo findet sie denn statt? Bei Rote Rosen oder im Tatort? Bei Bares für Rares oder in der Küchenschlacht? Gniffke erwähnt die in einigen Ländern vollzogenen oder drohenden Veränderungen der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien. In Großbritannien, Frankreich und Dänemark brechen nach seiner Logik also die Dämme gegenüber medieninduzierten Hass- und Hetzkampagnen.

    Das Bedrohungsnarrativ ist und bleibt ein billiges und in sich brüchiges PR-Argument. Gniffke sollte seine Aufgabe als ARD-Vorsitzender wahrnehmen und für ein konsequentes Umsteuern des Systems eintreten.

  • Eselshaut

    Der Film Peau d’âne des Nouvelle-Vague-Regisseurs Jacques Demy, der mit Agnès Varda verheiratet war, rückt die Gattung der Esel in kein gutes Licht. Lebend fungiert der Esel für seinen König als Bankier, indem er Goldstücke und Diamanten scheißt. Tot, als Eselshaut, verstärkt er in den Augen der Bevölkerung die (gewollte) Unansehnlichkeit der Prinzessin und ihren üblen Geruch. Es handelt sich um einen Märchenfilm, dessen zentraler Konflikt allerdings der Inzestwunsch eines Königs ist, der keine schönere Frau als Nachfolgerin seiner gestorbenen Frau findet als seine eigene Tochter. Auf Anraten ihrer Patin, einer Fee, lässt sie sich von ihrem Vater mehrere Wünsche erfüllen, deren letzter die Abhäutung des Bankiers ist.

    Die Geschichte entstammt einem von Charles Perrault Ende des 17. Jahrhunderts aufgeschriebenen Märchen und ist in Szenerie, Garderobe und Verhalten der Protagonisten einem Kinderfilm sehr ähnlich. Kleinere Teile des Dialogs werden gesungen, womit Demy an frühere Filme anschließt. Seine bekannteste Produktion ist Les parapluies de Cherbourg (1964), in der alle Dialoge gesungen werden. Hier wie dort spielt Catherine Deneuve die Hauptrolle. Den König mimt Jean Marais. In seinem Reich haben die Dienstboten und die Pferde eine blaue Haut. In einem anderen Königreich, dessen Prinzen die Prinzessin Eselshaut schließlich heiratet, eine rote. Die Musik stammt von Michel Legrand.

    Der Film ist in einer deutsch untertitelten Version bei einigen Streaming-Anbietern zu sehen, zum Beispiel bei Mubi.

  • Sonnenuntergänge

    Die Kuratorin der Ausstellung in der Bremer Kunsthalle begründet die Wahl des Themas – oder Motivs? – erzähltheoretisch: Der bei uns so genannte Sonnenuntergang verweist auf des Tages Anfang – Mitte – Ende. Dabei ist das Ende visuell eine Wiederholung des Anfangs. Beim Rückwärtsabspielen ist ein Unterschied kaum erkennbar. Annett Reckert assoziiert dann ein wenig: Dieses Tagesende »kann eine Phase intensiver Reflexionen und Bestandsaufnahme sein« (zitiert aus dem Katalog S. 201). Ein Ereignis, ein »letzter Akt« ist ein Sonnenuntergang allerdings nur für assoziationsbereite Beobachter. Auch die Anknüpfung an unsere Zeitläufte, in denen der »Untergang« populär geworden sei, muss man nicht mitmachen. Klimawandel, eine bedrohliche Kriegsbeteiligung, beklemmender sozialer Druck – das liefert gewiss genügend Stoff für »Memento mori«, aber nicht unbedingt für den Sonnenuntergang als verbindendes Symbol. Wir kennen seit dem Biedermeier den friedlich stimmenden Abendsonnenschein, und die in der Ausstellung gezeigten Bilder vermitteln überwiegend keine Endzeit-Botschaften. Ein kleiner Teil von ihnen dramatisiert das atmosphärische Farbspiel, das vor allem im Gebirge und an Küsten beobachtet werden kann, die meisten anderen sind ganz undramatisch und verwenden das Motiv oft nur als Hintergrund, der das Bild und die Perspektive stabilisiert.

    Beim Betreten der Ausstellung wird schnell klar, dass die Besucher zu Opfern einer kuratorischen Zwangsvorstellung gemacht werden sollen. In neodadaistischer Manier sind die Bilder bloßes Material des Konzepts. Die Kuratorin ist die eigentliche Künstlerin, und die Lieferanten des Materials – sofern sie noch leben – haben sich offenbar nicht gewehrt. Die Bilder sind dicht nebeneinander gehängt und vertikal so verschoben, dass die auf ihnen erkennbare Horizontlinie auf derselben Höhe liegt. Das bedingt dann den schrägen Gag, der bei der Hängung mit dem Holzschnitt von Josef Weisz angestellt wird, wobei der Horizont dort wohl eher den Eingang zur Hölle zu markieren scheint und von einem Sonnenuntergang nichts zu sehen ist. Das Framing des Konzepts bewirkt oder begünstigt eine registrierende Bildwahrnehmung, die nur dem Motiv Sonnenuntergang gewidmet ist und nicht dem Bildganzen. Der Entstehungszusammenhang, die verwendeten Techniken und die tatsächlichen Themen (»Sonnenuntergang« ist es in den seltensten Fällen) bleiben so außer Acht; zumindest wird eine produktive Auseinandersetzung mit diesen Faktoren erschwert.

    Drei zwischen 1938 und 1945 entstandene Aquarelle Emil Noldes sind unkommentiert in die Präsentation eingereiht. Das ist angesichts der Diskussionen über das NSDAP-Mitglied ungewöhnlich.

    Thomas Weinberger: schön. 54 sunsets.

    Es gibt 20, 30 Bilder, die in meinen Augen eine eingehendere Befassung verdienen (ich gehe also noch einmal oder mehrmals hin). Aus dem Bestand der Kunsthalle stammen einige japanische Farbholzschnitte von Utagawa Hiroshige und anderen. Von den Jüngeren gefällt mir ein großer Öl/Acryl-Fächer von Marina Schulze und der Desktop Horizon von Johanna Jaeger. Jäger zeigt auf einer kleinen Serie von Prints den Lichtschein einer Leuchte hinter dem Horizont einer Schreibtischplatte. Die 54 Inkjet-Prints von Thomas Weinberger verdienen eine Erwähnung eigentlich nur wegen der Geduld des Photographen und weil sie so ziemlich das einzige Werk sind, das tatsächlich Sonnenuntergänge thematisiert. Ehrfurchtgebietend ist das Entrée der Ausstellung (Stardust 6). Es stammt von Marikke Heinz-Hoek und basiert auf Bildern von Galaxien und Gaswolken, die vom Hubble-Teleskop aufgenommen und mit einer ostfriesischen Landschaft über-zeichnet wurden. Milliarden von Sonnen, die noch Milliarden Jahre auf ihren Untergang warten.


    Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne. Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, noch bis 02.04.2023. Katalog erschienen bei Hatje Cantz kostet in der Kunsthalle 28, im Buchhandel 34 Euro.

  • Der Esel bedeutet immer auch sein Gegenteil

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    Ein Buch für Wissende und Unwissende gleichermaßen. Esel figurieren in der historischen Alltagskommunikation, in literarischen und philosophischen Texten oft als dumm, störrisch und indolent. Ihnen wird absurderweise ihre Langohrigkeit vorgeworfen (Nietzsche betont deshalb das kleine Format seiner eigenen Ohren), zudem ihr passiver Widerstand. Dass Esel in Gefahrensituationen stehenbleiben, ist keine Dummheit, sondern für Tiere, die im Gebirge auf Geröll herumlaufen, lebensrettend. In der Verächtlichmachung von Eseln durch Legenden wie die von Buridans Esel, der unentschieden zwischen zwei Heuhaufen verhungert, steckt offenbar immer eine heimliche Bewunderung der Lebenskraft dieser Tiere. Diese wird in manchen Mythen und Fabeln nicht nur angedeutet, sondern von Lukian bis Shakespeare auch drastisch beschrieben.

    Esel sind keine fehlerhaften Pferde, wie eine ausführliche und kritische Lektüre der Schriften von Buffon bis Darwin ergibt. Buffon erkannte, dass Esel und Pferde getrennte Arten darstellen, weil die aus Kreuzungen hervorgehenden Tiere (in der Regel) nicht fortpflanzungsfähig sind. Da Gott keine Fehler begeht, muss er Esel wohl als eigenständige Art geschaffen haben. Die Nobilitierung dieser Tiere durch Jesus, der auf einer Eselin nach Jerusalem einreitet, spricht zudem für sich. Durch Darwin wird klar, dass sich Esel und Pferd zueinander verhalten wie Menschen und Menschenaffen: sie haben gemeinsame Urahnen.

    Dass Nietzsche sich nicht nur als Antichrist, sondern auch als Antiesel bezeichnet, ist nicht völlig verzeihlich. Die Autorin merkt auch an, dass es ihm besser gestanden hätte, wenn er in Turin einen Esel umarmt hätte statt ein klappriges Pferd.

    Der Esel ist der Bartleby unter den Tieren – das arbeitet Jutta Person sehr gut heraus. Seine Haltung ist nicht einfach passiv, sondern in ihrer Passivität produktiv. Sie macht deutlich, dass dem Esel die Alternative nicht genügt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder einfach weiterzumachen. Der Esel ist ein Zauderer, der gegen eine binäre Entscheidungslogik opponiert und somit auch der Zweckhaftigkeit allen Verhaltens eine Absage erteilt.

    Das Buch kann als Reflexionsgrundlage zu einem Jahresbeginn nur empfohlen werden. Im Anhang finden sich Angaben über die verschiedenen Eselrassen. Überdies ist Esel reich bebildert.

    Franz Kafka: Tagebuch 28.10.1911

    Ich träumte heute von einem windhundartigen Esel, der in seinen Bewegungen sehr zurückhaltend war. Ich beobachtete ihn genau, weil ich mir der Seltenheit der Erscheinung bewußt war, behielt aber nur die Erinnerung daran zurück, daß mir seine schmalen Menschenfüße wegen ihrer Länge und Gleichförmigkeit nicht gefallen wollten. Ich bot ihm frische, dunkelgrüne Zypressenbüschel an, die ich eben von einer alten Züricher Dame (das Ganze spielte sich in Zürich ab) bekommen hatte, er wollte sie nicht, schnupperte nur leicht an ihnen; als ich sie aber dann auf einem Tisch liegen ließ, fraß er mir sie so vollständig auf daß nur ein kaum zu erkennender kastanienähnlicher Kern übrig blieb. Später war die Rede davon, daß dieser Esel noch nie auf Vieren gegangen sei, sondern sich immer menschlich aufrecht halte und seine silbrig glänzende Brust und das Bäuchlein zeige. Das war aber eigentlich nicht richtig.


    Filmstill mit Catherine Deneuve aus dem Film Peau d’âne (1970). R: Jacques Demy.

    Jutta Person: Esel. Fünfte Auflage. Berlin: Matthes & Seitz, 2019

  • Rezensentenelend

    Der Perlentaucher offenbart eine angesichts des Autors und des Sujets leider schon zu erwartende wohlfeile Blindheit der Kritik.

    »Atemlos — mitreißend — hellauf begeistert — überwältigt — glänzend — überzeugt …«, die Rezensionen sind voller positiver Beschreibungen des Buchs und der Erzählweise des Autors.

    Besonders häufig wird die »postmoderne« Technik Sarrs hervorgehoben: Multiperspektivik, »offene« Erzählstränge ohne Weiterführung oder Auflösung, Zeitsprünge, Schachtelung, von expliziten und verdeckten Zitaten usw. Ich kann nicht erkennen, was daran postmodern ist. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet, und vielfach weitaus kunstvoller, verwickelter und vor allem vergnüglicher als bei Sarr. Laurence Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Arno Schmidt, Julio Cortáßzar, Italo Calvino und viele andere sind keine Vertreter der »Postmoderne«.

    Beim zweiten Lesen bzw. Durchblättern von Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen fällt das Bemühte der Form noch mehr auf als beim ersten Lesen. Die Gedankenarbeit, mit der die verschiedenen Erzählstränge beim Lesen immer wieder memoriert und verbunden werden, entfällt, und die Formabsicht in all ihrer Witzlosigkeit liegt viel offener zutage.

    Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Literaturkritik – wie auch schon die französische Preisvergabe (Prix Goncourt 2021) vor allem die Identität des Autors honoriert. Ein junger afrikanischer Autor schreibt (beinahe) auf der Höhe der uns vertrauten Reflexion, das muss unbedingt gelobt werden …