Ein ferner Traum?
Der Pazifismus hat in Deutschland seit 1989 den Betrieb offenbar weitgehend eingestellt. Das ist zu beklagen, denn dadurch ist ein wichtiger Sensor für Konflikte und ihre Dynamik verlorengegangen, der vorher im Westen Deutschlands durchaus funktioniert hat. Weder als gesellschaftliche Kraft, die richtungsweisend auf die Politik einwirkt, noch als wissenschaftlicher Impulsgeber in der Politikwissenschaft und anderen Sparten hat der Pazifismus sich weiterentwickelt. Nur so ist auch zu erklären, dass er heute als Denkrichtung der Ohnemichels, Schlappschwänze und Russland-Liebchen eingestuft werden kann. Eine Meldung aus dem Deutschlandfunk über Robert Habeck:
Frieden könne es nur geben, wenn Russlands Präsident Putin seinen Angriffskrieg stoppe, sagte der Grünen-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Es sollte bei den Ostermärschen deutlich werden, dass sie sich gegen Putins Krieg richteten. Pazifismus bezeichnete Habeck derzeit als fernen Traum. Putin bedrohe die Freiheit Europas. Zuschauen sei die größere Schuld, betonte er.
Wörtliche Zitate dazu finden sich beim ZDF. Dass eine wesentliche Korrektur der Versäumnisse seit 1989 auch darin bestehen könnte, aus pazifistischer Sicht strategisch zu denken, kommt den vielen sogenannten Thinktanks und angeblichen NGOs (meist vollständig von der Bundesregierung finanziert wie das »Zentrum Liberale Moderne«) nicht in den Sinn.
Stahlgewitter im Stressless-Sessel
Schon vor einem Monat beobachtete Adam Soboczynski in der ZEIT zutreffend, dass viele Schriftsteller:innen und Intellektuelle nun in die Rolle von Militärberatern geschlüpft sind und laute Empfehlungen zur Beteiligung am Ukraine-Krieg geben, zum Beispiel durch »Schließung des Himmels«, also die Einrichtung eines Schutzschirms über dem ukrainischen Luftraum durch die Nato, wodurch auch Deutschland unmittelbare Kriegspartei würde. Die Betroffenheit über den Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine ist groß, und es scheint kein Orientierungssystem zu geben, das es ermöglicht, die Optionen einer wirkungsvollen Reaktion zu reflektieren. Statt dessen findet ein Überbietungswettbewerb statt, in dem Begriffe und Sachen eine Rolle spielen, die von vielen Beteiligten vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erwähnt werden. Anton Hofreiter fordert die Lieferung schwerer Waffen und beklagt die Zurückhaltung von Bundeskanzler Scholz. Das ist wirklich eine geistig-moralische Wende. Schwere Waffen, Waffen überhaupt, verlängern den Krieg und erhöhen die Zahl der Opfer. Dass die Wette auf einen militärischen Sieg über Russland wirklich alternativlos ist, wird jeder Begründung entzogen, sondern versteht sich zum Beispiel für Sasha Marianna Salzmann von selbst, weil sie schon immer ein schlechtes Gefühl bei Putin gehabt habe.
Eine zögernde, zurückhaltende, vielleicht nach wirkungswolleren Alternativen suchende Position hat eine schlechte Presse, falls überhaupt noch jemand wagt, sie zu artikulieren.
Soboczynski noch einmal:
Wir zögern nicht nur aus Angst, sondern aufgrund kalter Vernunft. Die wagemutigen Herzen, die sich nun allerorts regen, entstammen noch den Zeiten konventioneller Kriege. Sie sind Atavismen in einer neuen Epoche, auf die wir hilflos reagieren. Am Ende ist es ein Segen, dass nicht die Dichter über Krieg und Frieden entscheiden.
Später Triumph des Antirevisionismus
Auffällig ist die frühe und massive öffentliche Intervention von ehemaligen »antirevisionistischen« Linken aus den K-Gruppen der 1970er Jahre. Für Gerd Koenen, Karl Schlögel, Ralf Fücks, Hermann Kuhn, Reinhard Bütikofer und andere war Sowjetrussland (und der Warschauer Pakt) eine ebenso böse Macht wie die USA (und die Nato). Ihr wiederbelebter berufsrevolutionärer Eifer konzentriert sich jetzt ganz auf das postsowjetische Russland und die Möglichkeit, doch noch die Stahlgewitter zu erleben, die ihrer Generation bisher erspart geblieben sind.
Plattdeutsche Nation
Apropos Tradition marxistisch(-leninistischer) Berufsrevolutionäre. Lafargue (nom de guerre, nicht der berühmte Schwiegersohn) spielt mit einem Auszug aus Rosa Luxemburgs 1918 geschriebenen (und 1922 erschienenen) Werks Zur russischen Revolution auf Twitter noch einmal auf die von russischer Seite negierte nationale und staatliche Selbständigkeit der Ukraine an.
Rosa Luxemburg attackiert das von Lenin unterstützte Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Diese Differenz mag etwas irritieren und müsste des längeren erörtert werden. Lenin jedenfalls kaprizierte sich 1914 auf das Recht unterdrückter Nationen auf Selbstbestimmung und polemisierte gegen die Privilegien der ›großrussischen‹ Nation.
Die Kunst im Kriege
Alexander Kluge, der zeitlebens eigene und fremde Erfahrungen mit dem Krieg verarbeitet, macht in der Süddeutschen Zeitung Bemerkungen, die bei der derzeit aufgeheizten Stimmung unter den Literaten von Grünbein bis Salzmann garantiert taube Ohren finden.
Ein Krieg ist eine Herausforderung an die Kunst. In Kriegszeiten wird sie gern von beiden Seiten für Propagandazwecke eingesetzt. Dazu taugt sie nicht. Eigentlich gehört sie zur Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein. Valery Gergiev soll dirigieren und Anna Netrebko soll singen. Ich bin entsetzt über ihren Ausschluss, darüber, dass man große russische Künstler zu opportunen Äußerungen drängen will. Ich höre dabei das Reden in Phrasen derer, die sie einst eingestellt und verehrt haben.
Ein ägyptisches Sprichwort sagt, dass man Dämonen an ihrer Geschwätzigkeit erkennt. Der Krieg ist ein Dämon: Nicht nur auf der Lit.Cologne haben Schriftsteller kürzlich Forderungen gestellt, die, würden sie umgesetzt, den Atomkrieg auslösen könnten. Wie also gewinnen wir wieder Bodenhaftung?
Eine schreckliche Stimme der Kunst ist Oleg Barleeg, ein ukrainischer Lyriker. Der Tagesspiegel gibt ihm Raum für eine unverhohlene Hasstirade gegen die Russen. Natascha Wodin darf darauf antworten, aber im Gegensatz zu Barleegs Text nur hinter der Paywall.
BPB zur »Zeitenwende«
Ein umfangreiches, 29-teiliges Dossier hat die Bundeszentrale zur Politischen Bildung zusammengestellt. Trotz starker Qualitätsunterschiede der einzelnen Beiträge und vieler fehlender Perspektiven eine lohnende Lektüre.
Aktuelle Beiträge von Johannes Varvick
Der deutsche Politikwissenschaftler Varwick ist eine der wenigen häufig in den Medien befragten Personen, die sich nicht der Melnyk-Fraktion angeschlossen haben. Er hält nach wie vor einen militärischen Sieg der Ukraine nicht für die alleinseligmachende Lösung des Konflikts. Seine Beiträge dokumentiert bzw. verlinkt er selbst regelmäßig.
Stockholm-Syndrom
Wie lässt sich das ›rücksichtslose Wohlwollen‹ (Nietzsche) der deutschen Medien, Wissenschaft und Politik gegenüber dem fanatischen Kriegs- und Siegeswillen der ukrainischen Regierung, vielleicht sogar der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit erklären? Es geht weit über die moralische, humanitäre und auch gegenständliche Hilfsbereitschaft hinaus, die dem angegriffenen Land wohl selbstverständlich zusteht. Einen Erklärungsansatz liefert Fritz Breithaupt in seinem Buch Die dunklen Seiten der Empathie (2017). Er analysiert darin den Doppelcharakter von Empathie. Das menschliche Vermögen zum Mit-Erleben mit einem anderen wird meist als positive Eigenschaft bzw. psychische Leistung beschrieben. Eine vollständige Identifikation, ein 1:1 und live sich vollziehendes Mit-Empfinden ist jedoch nicht möglich, Beobachter und Beobachteter machen ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten. Empathie hat allerdings auch eine negative Seite, die von Breithaupt im Anschluss an Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse § 207) als tendenzielle Selbstaufgabe des Beobachters gegenüber dem starken Ich eines bewunderten Subjekts beschrieben wird. Er nennt drei Aspekte:
Das medial konzipierte und verstärkte, redaktionelle Ich des Medienprofis Selenskyi bringt beispielsweise Protagonisten und Anhänger der deutschen Grünen dazu, Werte und Eigenschaften zu verehren, die bislang für sie des Teufels waren:
- Fanatischer Nationalismus (bei einigen Vertretern, s. o., mit rassistischen Zügen),
- Männlichkeit (die Rollenverteilung bei ukrainischen Akteuren ist klar: Männer handeln heldenhaft, Frauen sind auf die Opferrolle beschränkt),
- Bellizismus (die durchgängige Behauptung, dieser Konflikt könne nur mit Waffen bestanden und beendet werden).
Dazu auch ein (etwas zielloser) Kommentar von Daniel Schulz in der taz. Helmut Lethen fällt zum Krieg in der Ukraine nichts Substanzielles ein, er übernimmt die Identifikation von Sorglosigkeit mit Pazifismus.
Der Preis des Friedens
Der letzte (Co-)Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gaseta, hat seine Nobelpreis-Medaille versteigern lassen, um ukrainische Flüchtlinge unterstützen zu können. Seine Parole: »Stoppt das Schießen, tauscht Gefangene aus, unterstützt Geflüchtete.«
Es würde mich zwar nicht wundern, wenn Präsident Selenskyi in diesem Jahr zum Friedensnobelpreis vorgeschlagen würde (wie einige kriegführende Staatsoberhäupter vor ihm), aber von der Befolgung dieser einfachen Forderung ist sein Handeln doch sehr weit entfernt.