Der Perlentaucher offenbart eine angesichts des Autors und des Sujets leider schon zu erwartende wohlfeile Blindheit der Kritik.
»Atemlos — mitreißend — hellauf begeistert — überwältigt — glänzend — überzeugt …«, die Rezensionen sind voller positiver Beschreibungen des Buchs und der Erzählweise des Autors.
Besonders häufig wird die »postmoderne« Technik Sarrs hervorgehoben: Multiperspektivik, »offene« Erzählstränge ohne Weiterführung oder Auflösung, Zeitsprünge, Schachtelung, von expliziten und verdeckten Zitaten usw. Ich kann nicht erkennen, was daran postmodern ist. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet, und vielfach weitaus kunstvoller, verwickelter und vor allem vergnüglicher als bei Sarr. Laurence Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Arno Schmidt, Julio Cortáßzar, Italo Calvino und viele andere sind keine Vertreter der »Postmoderne«.
Beim zweiten Lesen bzw. Durchblättern von Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen fällt das Bemühte der Form noch mehr auf als beim ersten Lesen. Die Gedankenarbeit, mit der die verschiedenen Erzählstränge beim Lesen immer wieder memoriert und verbunden werden, entfällt, und die Formabsicht in all ihrer Witzlosigkeit liegt viel offener zutage.
Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Literaturkritik – wie auch schon die französische Preisvergabe (Prix Goncourt 2021) vor allem die Identität des Autors honoriert. Ein junger afrikanischer Autor schreibt (beinahe) auf der Höhe der uns vertrauten Reflexion, das muss unbedingt gelobt werden …