Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Antikonstruktivistischer Terror

    Der Plot ist nicht sonderlich verwickelt. Eine querschnittgelähmte junge Frau, die viel im Rollstuhl herumfährt, gerät in Wien in eine philosophische Guerilla-Gruppe. Zur Gruppe gehören:

    • Bernward, ein ehemaliger Philosophiedozent,
    • eine schon ältere Frau, die auch Philosophie studiert hat, vor Jahrzehnten mit der deutschen RAF sympathisierte, sich mit Sprengstoff auskennt und jetzt »Chirurgin« genannt wird,
    • Paul, ein ehemaliger Student des Dozenten,
    • Brigitte, eine Unternehmertochter.

    Die Gruppe, die sich den Namen Aletheia (Wahrheit) gegeben hat, will die verlorene Wahrheitsorientierung in der Gesellschaft wiederherstellen. Über das Buch verstreut sind nummerierte Absätze aus einem Manifest. In diesem wird die in der kontinentalen Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts – im Einklang mit den Erkenntnissen der Neurophysiologie – stattgefundene Infragestellung einer objektiven, verbindlichen und für alle gültigen Wahrheit attackiert.

    Die Protagonistin und Ich-Erzählerin wird nach einer längeren Probezeit in die Gruppe aufgenommen. An einer Aktion, bei der die Bürotür eines Philosophieprofessors in der Universität dilettantisch zugemauert wird – um ihn auf eine »echte« Wirklichkeit hinzuweisen –, nimmt sie noch nicht teil, dann aber an der Planung eines größeren Anschlags und einer Geiselnahme.

    Die Erzählerin heißt Petra, nennt sich Byproxy und hat nach ihrem Abitur begonnen, Spiele zu programmieren. By proxy ist im klinischen Sinne eine Erscheinungsform des Münchhausen-Syndroms: Eine Person (zum Beispiel eine Mutter) redet ihrem Kind eine Krankheit ein und erzeugt diese möglicherweise sogar durch Medikamente und Gifte, um dann die Behandlung zu übernehmen. Es ist also eine psychopathologische Störung, an der immer mindestens zwei Personen beteiligt sind.

    In den Rollstuhl geriet Byproxy durch einen Unfall noch während der Schulzeit, als sie mit ihrer psychisch labilen Freundin Dorothee (die eine noch labilere Mutter hat) ein Austauschjahr in Schweden verbrachte. Die Beziehung der Freundinnen, die in ihrem sechsten Lebensjahr begann, wird in unregelmäßig einmontierten Kapiteln nachgereicht. Als Vorgeschichte der aktuellen Erzählung kann dieser Erzählstrang nur insofern bezeichnet werden, als er eine Erklärung des folgenreichen Unfalls der Protagonistin gibt.

    Die Kapitel sind jeweils mit einem Kleinbuchstaben aus dem griechischen Alphabet überschrieben. Dabei wird jedoch nicht die alphabetische Reihenfolge eingehalten, so dass man versucht sein könnte, das als Aufforderung zu einer Neusortierung des Textes bei der Lektüre zu verstehen, also mit dem 3. Kapitel zu beginnen, dann das 9, das 15., 17., 11. usw. zu lesen. Insgesamt gibt es 24 Kapitel und einen Epilog. Ich habe die alphabetische Reihenfolge getestet, sie ergibt keinen Gewinn im Sinne einer zusätzlichen Erkenntnis zum Erzählstoff (das ist bei Cortázars Rayuela anders).

    Das By proxy-Syndrom könnte als übergreifendes Modell für die Absichten und Handlungen der Romanfiguren verstanden werden. Sie wollen »der Gesellschaft« eine Krankheit einreden, die nur durch radikale Maßnahmen geheilt werden kann. Diese Heiler gibt es ja tatsächlich zuhauf, sie sind keine Untergrundgruppen, sondern sie geben in Politik, Kultur und Medien den Ton an und wollen ihr Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit verbindlich machen.

    Ob Raphaela Edelbauer diese Interpretation teilt, weiß ich nicht, aber mir drängt sie sich auf. Ihr scheint ein anderes Erzähl- und Verständnismuster wichtig zu sein: das »Think-Backwards-Spiel«. Zum Beispiel wird ein Kriminalfall durch schrittweises Zurückgehen in die Vergangenheit aufgeklärt. Das Anfangskapitel gehört in der Ereignischronologie des Romans unmittelbar vor die Darstellung der dramatischen Hauptaktion, die allerdings noch über 300 Seiten entfernt ist. Kann man machen, aber ist hier ein eher belangloses spielerisches Element – danach wird ja letztlich doch chronologisch erzählt. Auf über 400 Seiten; eine größere Verdichtung hätte dem Buch gut getan.


    Raphaela Edelbauer: Die echtere Wirklichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta, 2025.

    Besprechung von Raphaela Edelbauers Buch Die Inkommensurablen.

  • Fretten

    Das Buch erschien zuerst 2022. Fretten bedeutet sich mühen, sich abplagen. Ein bisschen trifft das auch auf die Lektüre zu. Helena Adler, die 2024 starb, mutet Leserinnen und Lesern zu, mit einem Roman zurecht zu kommen, der eigentlich keiner ist. Es gibt keinen durchgängigen narrativen Bogen, keinen Plot. Erzählerin ist eine junge Frau, die aus der Provinz stammt und deutlich macht, dass sie ihr noch angehört. Es geht später auch um Mutterschaft, um ein krankes Kind, um Todesgedanken.

    Es gibt 21 Kapitel, die jeweils so wie ein mehr oder weniger bekanntes Bild aus der Kunstgeschichte betitelt sind, also z. B. Night Hawks, Twenty Marilyns, Der Ursprung der Welt. Die Kapitel sind recht kurz und sozusagen erzählende Bilder. Sie nehmen allerdings fast nie die Motive der durch die Titel herbeizitierten Kunstwerke auf, berühren sie manchmal kurz und oberflächlich, entsprechen allerdings auch manchmal den Stimmungen der bildlichen Darstellungen.

    Mit Worten malen -– gut, aber das ist ein Grenzgang. Was die Lektüre nach 20, 30 Seiten bereits mühsam macht, sind die Kaskaden von Wortwitzen und Wortspielen, an denen die Autorin offenbar ihr Vergnügen hatte. Manche davon sind wirklich schön und witzig, aber ihr gehäuftes Auftreten ist nicht lange auszuhalten. Ein paar Beispiele, die mir gefielen:

    • Die Mutter zitierte ständig aus der Bibel und brachte uns damit auf die Psalmen.
    • Kirchenweiber wurden sie im Dorf genannt, Hosiannahyänen, weil sie sich im Lobgesang dauern gegenseitig zu überheulen versuchten.
    • Und ich? Ich befinde mich mittendrin und bin nichts weiter als die Berichtbestatterin meiner Gegenwart.

    Aber oft gibt es auch dergleichen:

    • Der Bergdoktor nähte, ohne sie zu betäuben, die Zunge der Täubin, die nur mehr gurrte und gurgelte.

    Was mich distanziert, ist nicht das gelegentlich Surreale des Texts, es ist eher die ununterbrochene Witzelei. Anderen mag es beim Lesen anders gehen.


    Helena Adler: Fretten. Roman. München: btb, 2024.

  • KI stellt Antisemitismus fest

    Jörg Schieb, bekannt durch Bücher wie Windows 98 komplett und Das große Buch zu MS-DOS und langjähriger Mitarbeiter des WDR, ist inzwischen Vorsitzender des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises und bezeichnet sich selbst als »KI-Enthusiast«.

    Ein Anwendungsfall seines Enthusiasmus ist die angeblich »wissenschaftliche Analyse« einiger Videos von Judith Scheytt auf Instagram. Scheytt bekam im Januar 2025 von dem oben erwähnten Verein eine »Besondere Anerkennung« im Rahmen der Vergabe des Donnepp Media Award ausgesprochen. Die nach mehreren Monaten erfolgte Aberkennung dieser Auszeichnung soll nach Druck von Seiten der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit erfolgt sein. Begründungen lieferte nachträglich die genannte Analyse. Aus ihr scheint hervorzugehen, dass Judith Scheytt eine systematische Verzerrung der israelischen und palästinensischen Positionen vornimmt. Nicht berücksichtigt wird jedoch, dass ihre Äußerungen auf Instagram medienkritische Interventionen sind, keine aktivistischen Stellungnahmen. Eine Kritik an ihren Aussagen müsste also in jedem Fall auch den Betreff dieser Aussagen nennen und mit reflektieren.

    Zu der Analyse ließe sich im Einzelnen auf der Ebene der Antisemitismus-Einordnung viel sagen. Das möchte ich hier nicht tun. Merkwürdige Formulierungen erregen allerdings einen bestimmten Verdacht:

    • »Terminologische Verharmlichung terroristischer Gewalt«. Dieser kreative Neologismus findet sich in einer Überschrift.
    • »Schieferkrankenhaus-Belagerung«. Gemeint ist wohl das Al-Shifa-Krankenhaus, in dem israelische Truppen ein Massaker mit hunderten von Toten anrichteten, wobei sie von Quadcopter-Drohnen per Lautsprecher verkünden ließen: »Kommt heraus, ihr Tiere!«

    Sind das Fehler bei der Spracherkennung – also durch Diktat entstanden? Oder ist der Text von einer KI generiert? Wahrscheinlich beides, aber die sogenannte Analyse scheint im wesentlichen von einer KI zu stammen. Sie stellt herausgelöste Aussagen verschiedener Videos vor ein Tribunal, das aus der IHRA-Definition des Antisemitismus und ihren Anwendungsempfehlungen zusammengesetzt ist. Die Analyse wird als quantitative Diskursanalyse bezeichnet. Was ist das bzw. was soll das sein?

    Eine quantitative Diskursanalyse ist ein simples Abzählverfahren, das sich auf die messbaren und zählbaren Aspekte der Sprache in Texten konzentriert, um Muster und Tendenzen zu erkennen, anstatt auf Bedeutungen und kontextuelle Verknüpfungen wie bei der qualitativen Diskursanalyse. Sie nutzt statistische Methoden, um beispielsweise die Häufigkeit bestimmter Wörter, die Struktur von Texten oder die Verteilung von Argumenten in großen Textkorpora zu analysieren. Wie auf diese Weise Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wissen oder Macht gezogen werden können (das wäre ja mit dem Ausdruck »Diskursanalyse« gemeint«), ist ein unaufgelöstes Rätsel. Mit Wissenschaft hat das Verfahren jedenfalls wenig zu tun. Allerdings gibt es seit einigen Jahrzehnten in der Kommunikationswissenschaft das Bestreben, hilfswissenschaftliche Verfahren wie quantitative Inhaltsanalysen als objektiv-wissenschaftlich zu nobilitieren, um dem Vorwurf zu entgehen, ihre Analysen blieben subjektiv und seien »nur« Interpretationen von Vorgängen bzw. Medieninhalten.

    Zu welchen Urteilen kommt das KI-Tribunal über Judith Scheytt?

    Beispielsweise wird die Bezeichnung von Hamas-Angehörigen als »Hamas-Kämpfer« bereits inkriminiert.« Sie sei eine Gewaltverharmlosung, und diese könnte die Gewaltlegitimation um 23 bis 41 Prozent erhöhen. Wer vermeiden möchte, in die Nähe von Antisemitismus gerückt zu werden, muss für Hamas-Angehörige also in jedem Fall die Bezeichnung »Terroristen« verwenden.

    Die Aussage in einem der Videos, dass Israel wegen Genozid-Vorwurfs vor Gericht steht (nämlich vor dem Internationalen Gerichtshof), wird als »strukturelle Dämonisierung israelischer Politik« bezeichnet und dem IHRA-Kriterium der »Ausblendung israelischer Selbstverteidigungsrechte« zugeordnet, also als antisemitisch klassifiziert. Atemberaubend ist in diesem Zusammenhang die Aussage, dass Israel keine Kriegsverbrechen begangen haben könne, weil seine Präzisionswaffen-Einsatzquote nach IDF-Daten 2024 85 % betragen habe.

    Keine direkte Äußerung gibt es zu Judith Scheytts Feststellungen zur völkerrechtswidrigen Besetzung des Westjordanlandes.

    Die KI erklärt nicht, wie sie zu dem Vorwurf der Relativierung antisemitischer Stereotype und speziell zu einer Überschrift »Bagatellisierung der Ritualmordlegenden-Vorwürfe« kommt. Letztere sind weder in den Videos zu entdecken noch werden sie im Text der Analyse genannt. Hier hat die KI offenbar einen in der Nähe herumliegenden Textbaustein eingesetzt.

    Dass Scheytt in ihren medienkritischen Anmerkungen das Bild Israels negativ zeichnet, kann leicht dadurch erklärt werden, dass deutsche Medien jedenfalls noch 2024 über den Konflikt weitgehend aus israelischer Perspektive berichtet haben. Eine unabhängige Berichterstattung war zwar nicht möglich, weil Israel keine Einreise von Journalisten in den Gazastreifen zulässt, aber das rechtfertigt nicht die Übernahme der israelischen Narrative.

    Die Mobilisierung des vollständigen Antisemitismus-Abwehrschirms gegen die Videos von Judith Scheytt ist doppelt ungeheuerlich. Einerseits, weil die »Analyse« offenbar einer KI überlassen wurde, andererseits, weil keine Auseinandersetzung mit ihrem eigentlichen Gegenstand stattfindet, ihrer Medienkritik. Das hatte die Jury des Donnepp Media Award vor einigen Monaten noch anders gesehen und gehandhabt.

    Ein zynisches Highlight des Textes behandelt die Identifizierung der Autorin mit den in Israel stattfindenden Protesten und Demonstrationen, die eine Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand gefordert haben: »Die Empathiebekundungen für die Geiseln widersprechen klassischem Antisemitismus, könnten aber im Kontext der Auslassungen auch als ›Humanisierungsstrategie‹ fungieren, um israelfeindliche Narrative unter ethischer Tarnung zu transportieren«. Die Forderung nach Humanität ist also antisemitisch. Vielen Dank, das musste die Welt endlich erfahren.

    Die Zurücknahme der Auszeichnung und die nachgereichte Analyse sind absolut beschämende Vorgänge, für die natürlich nicht die eingesetzte KI, sondern der Vorstand der Freunde des Adolf-Grimme-Preises verantwortlich ist: Jörg Schieb, Martin Brambach, Maik Große Lochtmann, Ute Mühlenberg und Dr. Ulrich Spies.

  • Paranoia (4)

    Wie organisiert man als Naturschutz-NGO finanzielle Zuflüsse? 10 Punkte für die richtige Antwort: Moore sind wichtig für die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes.

    Moore sind wichtig für Klima und Biodiversität – sind aber auch für Panzer unpassierbar. (Getty Images / Gerrit Fricke)

    Deutschlandfunk Nachrichten https://www.deutschlandfunk.de/forscher-verweisen-auf-moore-als-natuerliche-panzersperre-100.html

  • Unmöglicher Abschied

    In den Wochen, in denen ich mich vor allem mit den Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz beschäftigt habe, für die 2024 vier Männer Nobelpreise erhielten (2 x Chemie, 2 x Physik), habe ich nebenbei auch das Buch von Han Kang gelesen, die 2024 den Nobelpreis für Literatur erhielt.

    Dieses Buch verdient einen Warnhinweis. Es ist voller Grausamkeiten, die zunächst eine subtile Form haben, wie die präzisen Beschreibungen von körperlichen Schwächezuständen und der postoperativen Behandlung zweier replantierter Finger. Damit das Zusammenwachsen gelingen kann, müssen die Wunden immer wieder geöffnet werden. Wenn das eine Metapher zur Teilung Koreas sein soll, wie ein Rezensent meinte, müsste sie aber andersherum aufgezogen werden: Erst wenn das Zusammenwachsen gelungen ist, können die Wunden heilen.

    Danach beginnt die Schilderung einer langjährigen Freundschaft der Ich-Erzählerin Gyeongha, einer Autorin, und Inseon, einer Dokumentarfilmerin, die allerdings schon länger keinen Film mehr produziert hat. Stattdessen hat sie sich auf die Insel Jeju in ein einsames Haus zurückgezogen, in dem ihre Mutter einmal gelebt hatte.

    Die Nennung der Insel sollte zu einer kurzen Recherche veranlassen. Wer sich in der koreanischen Geschichte ein wenig auskennt, weiß zumindest, dass das Land nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Annexion 1948 in zwei Hälften geteilt wurde. Nach einem dreijährigen Krieg, an dem die USA und die VR China beteiligt waren, wurde 1953 diese Teilung verfestigt. Danach herrschten in Südkorea bis Mitte der 1990er Jahre autoritäre Regimes, einige Militärdiktatoren und niemals Freunde der Demokratie. All diese Regimes wurden von den USA gestützt, trotz vieler Proteste in der westlichen Welt.

    Jeju liegt südlich vor der Südwestspitze Koreas, vom Festland weit entfernt, und war dennoch ein Schauplatz der Auseinandersetzungen nach 1945.

    Auf der Insel fand von April 1948 bis Mai 1949 ein Aufstand statt, der von antikommunistischen bewaffneten Milizen (zum Beispiel einer »Nordwest-Jugendliga«) äußerst blutig niedergeschlagen wurde. Ein Jahr zuvor gab es erste Proteste der Inselbewohner gegen die Wahlen, die von der temporären Kommission der Vereinten Nationen im amerikanisch besetzten Teil von Korea ausgerufen worden waren. Die Befürchtung war, dass dadurch die Teilung des Landes befestigt würde. Im Roman gibt es Anspielungen auch auf weitere Ereignisse in der Geschichte des Landes, wie zum Beispiel den Gwangju-Aufstand 1980.

    Die Erzählerin wird von ihrer Freundin aus der Klinik heraus gebeten, dringend in ihr Haus auf Jeju zu reisen, um dort ihren geliebten Vogel Ama zu tränken und zu füttern, der sonst vor Durst eingehen müsste. Trotz eines heftigen Migräneanfalls macht sich Gyeongha auf den Weg, der äußerst beschwerlich und immer sinnloser wird, weil der Wintereinbruch und ein Schneesturm ihre rechtzeitige Ankunft in dem Haus verhindern. Der Vogel ist tot, Wasser und Strom fallen aus, der Erzählerin geht es schlecht.

    Durch das Buch ziehen sich zunehmend längere kursiv gedruckte Passagen, die Aufzeichnungen Inseons, ihrer Mutter und anderer Personen wiedergeben. In ihnen geht es nicht einfach um die Familiengeschichte, sondern auch um die systematischen Massenmorde und die Massengräber überall im Land, nicht nur auf Jeju.

    Der zweite Teil des Buchs enthält irritierende Wiederauferstehungen und Geistererscheinungen. Erst taucht der begrabene Vogel wieder auf, dann erscheint Inseon, verhilft der Erzählerin zu etwas Essen und ein wenig Wärme. Nun häufen sich im Text die Berichte über ihre Familienangehörigen, aus denen auch die Bedeutung des Hauses auf Jeju hervorgeht. Die Erzählerin ist sich permanent nicht sicher, ob Inseon physisch anwesend ist, es finden keine Berührungen zwischen ihnen statt. Schließlich gehen sie in der Dunkelheit hinaus in die Kälte und legen sich an einem von Inseon gewählten Ort in den Schnee.

    Ein bedrückendes Buch. Geprägt von der jahrzehntelangen koreanischen Gewaltgeschichte wie viele koreanische Filme. Es ist jedoch ein gutes Buch. Man muss lernen, mit ihm umzugehen. Das Sprechen über die Lasten, die Generationen von Koreanerinnen und Koreanern gequält haben und sie nach wie vor in Unruhe versetzen, kann nicht einfach als Kitsch abgetan werden, wie es einige Rezensentinnen (!) getan haben (siehe Perlentaucher).


    Han Kang: Unmöglicher Abschied. Roman. Berlin: Aufbau, 2024.