Autor: hero

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    Christina von Braun & Tilo Held: Kampf ums Unbewusste

    Von den 730 Seiten hat Christina von Braun 498 geschrieben, ihr Mann Tilo Held 137, und 93 Seiten sind Anmerkungen und Register.
    Die ersten 200 Seiten sind sehr erhellend. In ihnen wird beschrieben, wie in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts das Unbewusste an die Stelle Gottes rückte – und welche Ausgestaltungen das Unbewusste vor Freud und dann durch ihn und seine Zeitgenossen erlebte. Sie erfindet ein Gegensatzpaar – Glauben vs. Vertrauen –, deren Elemente sie wahlweise verschiedenen theoretischen Ausformungen zuordnet. Das funktioniert weitgehend gut mit dem Glauben, aber nach meinem Eindruck oft gar nicht gut mit dem Vertrauen.

    Durch die historischen Kapitel bin ich CvB gern gefolgt, mit kleinen Einwänden zu ihren Äußerungen über den Film. Zum Beispiel unterstellt sie Sergei Eisenstein (mit Alexander Etkind, der eine Geschichte der Psychoanalyse in Russland geschrieben hat), er habe die Werke von Sigmund Freud gelesen, nur um sein Filmpublikum perfekt manipulieren zu können. Zu guter Letzt stellt sie Eisenstein auch noch auf eine Stufe mit Leni Riefenstahl. Einige Blicke in die Eisenstein-Biographie von Oksana Bulgakowa hätten genügt, um etwas über Eisensteins Vortrag am Berliner Psychoanalytischen Institut über die »Ausdrucksbewegung« zu erfahren. Er hielt den Vortrag im Oktober 1929 auf Einladung des Institutsdirektors Hanns Sachs. In seiner Theorie der Ausdrucksbewegung geht es ihm um den Konflikt zwischen Triebäußerung und der hemmenden Kraft des Willens und nicht um Massenagitation.

    Interessant sind einige Aspekte der Nachkriegszeit, in der die Psychoanalyse sich in einzelne Provinzen teilte: In den USA wurde sie der Medizin zugeschlagen und erfuhr eine Art Christianisierung, in Frankreich verband sie sich mit der Sprachphilosophie und dem Strukturalismus. In Deutschland trat sie die vorher vorhandenen sozial- und kulturkritischen Perspektiven an die Geisteswissenschaften ab.

    Im sechsten Kapitel, das den Massenmedien gewidmet ist, wird es dann ziemlich schlimm. »Medien vernetzen nicht nur auf bewusster Ebene, sie formatieren auch das individuelle und kollektive Unbewusste.« So heißt es auf Seite 356, und eine Begründung dafür ist offenbar unnötig. Dass die technischen Medien an der Formung von Gedanken »mitarbeiten«, ist seit Nietzsches Bonmot über sein »Schreibzeug« eine gängige Vermutung. In welcher Weise allerdings Medien auf das Unbewusste einwirken können, wüsste man dann doch gern.

    Gustave Le Bon hält CvB, der von Nazis gern gelesen und zitiert wurde, nach wie vor für aktuell: »Le Bons Aktualität verdankt sich nicht nur der Tatsache, dass er die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorausahnte (gegebenenfalls auch modellieren half), sie bietet auch einen Schlüssel zum Verständnis heutiger Verhältnisse (…) Die Masse, so schrieb Le Bon, sei unfähig, ›Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen‹. Das sind Aussagen, die sich auch auf viele aktuelle Situationen und technische Neuerungen übertragen lassen.« (380)

    Auch mit ihrer Definition der KI vergreift sie sich: »Es handelt sich um ein in Software geladenes neuronales Netzwerk, für das die Biologie Modell stand, das jedoch nicht über die Lernfähigkeit unserer neuronalen Systeme verfügt.« (412) Die Nobelpreise 2024 an Geoffrey Hinton und John Hopfield (Physik) sowie Demis Hassabis (Chemie) gingen gerade an Wissenschaftler, die mit ihren Systemen die Lernfähigkeit künstlicher neuronaler Systeme (Deep Learning) demonstriert haben. Und nicht umsonst warnt Geoffrey Hinton davor, dass KI-Systeme schon in wenigen Jahren »besser« sein können als Menschen und wir daher unsere Beziehung zu diesen Systemen neu ordnen müssten.

    Den Teil von Tilo Held habe ich dann nicht mehr gelesen. Zur Typographie: Ich mag ja die Syntax Serif von Hans Eduard Meier, aber hätte eine etwas geringere Punktgröße gewählt. Nur durchschnittlich 1.650 Zeichen pro Seite machen das Buch zwar dick, aber wirklich lesefreundlich sind die Seiten nicht.


    Christina von Braun und Tilo Held: Kampf ums Unbewusste. Eine Gesellschaft auf der Couch. Berlin: Aufbau, 2025.

  • Weggelesen (2)

    George Eliot: Middlemarch

    Große Begeisterung und große Enttäuschung gleichermaßen. Zur ausführlichen Erläuterung der großen Enttäuschung ein Extra-Beitrag hier (in Kürze)

  • Weggelesen (1)

    Maryam Aras: Dinosaurierkind

    Zwei Generationen iranischer Emigranten, die Tochter entdeckt ihren Vater in einem Film über die Proteste gegen den Schah-Besuch 1967. Der Vater lebt seit 1964 in Deutschland, er war ein Anhänger des Ministerpräsidenten Mossadegh, der 1953 aus dem Amt geputscht wurde. Vom britischen und amerikanischen Geheimdienst organisiert, brachte das iranische Militär den Schah an die Macht. Die Folge war die komplette quotenmäßige Kontrolle der iranischen Ölförderung durch amerikanische und europäische Konzerne. Mit ständigen Zeitsprüngen erzählt die Autorin das Leben ihres Vaters in Tehran und in Köln, über den langen Web seiner Einbürgerung und sein Studium in Deutschland – immer wieder gemischt mit Szenen aus dem Iran selbst, die Situation nach der islamischen Revolution der Ajatollahs 1979 und die Opposition auch gegen dieses neue Regime. Verwoben mit all diesen Geschichten und Berichten ist die eigene Biographie der 1982 in Deutschland geborenen Autorin, ihre Suche nach ihren familiären und kulturellen Wurzeln. Der Vater bringt an vielen Stellen des Buchs (eingerückt, kursiv) Anmerkungen und Korrekturen ein. Eine gelungene Montage, auch sehr informativ, und dem Vater, einem der »Dinosaurier« der ersten Generation der Iran-Emigration, kommt man beim Lesen sehr nahe.


    Maryam Aras: Dinosaurierkind. Berlin: Claassen, 2025.

  • Paranoia (2)

    Europa erlebe im Augenblick geschichtlich betrachtet fast so etwas wie Glück.


    https://www.deutschlandfunk.de/sloterdijk-sieht-europa-auf-dem-weg-zu-wehrhaftigkeit-100.html

  • Paranoia (1)

    Richard Hofstadter

    Viele der heutigen politischen Weltbeschreibungen deutscher Politiker und Journalisten erinnern an die Weltsicht der amerikanischen Rechten, die 1963 auf beeindruckende Weise von Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, beschrieben wurde. Auch Franz Neumann, Angst und Politik 1954 sowie Leo Löwenthal, Falsche Propheten 1949 hatten dazu schon erhellende Analysen gemacht. Es ist erstaunlich, dass sich so wenig an den Denk- und Argumentationsmodellen der US-Rechtsextremen geändert hat. Trump benutzt Textbausteine, die teilweise wortwörtlich schon in den 1950er Jahren verwendet wurden. Die genannten sozialpsychologischen Analysen legen auch Erklärungen nahe, warum das Verschwörungsdenken in den USA immer wieder mehrheitsfähig war und ist.

    Warum der Begriff Paranoia?

    I call it the paranoid style simply because no other word adequately evokes the qualities of heated exaggeration, suspiciousness, and conspiratorial fantasy that I have in mind (…) the idea of the paranoid style would have little contemporary relevance or historical value if it were applied only to people with profoundly disturbed minds. It is the use of paranoid modes of expression by more or less normal people that makes the phenomenon significant.

    Paranoide Äußerungen und Strategien in der Politik imaginieren systematische feindselige und verschwörerische Angriffe auf die Nation, die Kultur, die Lebensweise aller Menschen. Ein Beispiel Hofstadters: Nach der Ermordung John F. Kennedys gab es eine Gesetzesintiative zur Einschränkung des Waffenverkaufs. Dagegen erhob sich aggressiver Protest. Das sei der Versuch einer subversiven Macht, die amerikanische Nation einer sozialistischen Herrschaft zu unterwerfen, Chaos zu erzeugen und ihren Feinden zur Machtergreifung zu verhelfen. Ähnliche Reaktionen gab und gibt es auf die Fluoridierung des Trinkwasser.

    Hofstadter sieht solche paranoiden Tendenzen nicht nur in den USA, sondern weltweit, und verweist auch auf historische Vorbilder wie die Verfolgung von Jesuiten, Freimaurern, Juden, Monopolkapitalisten und Kommunisten. Hier wird immer unterstellt, es gebe feste Absichten (zur Welteroberung) und eine bewusste Lenkung durch eine Führungselite. Manchmal geht es auch um die Trennlinien zwischen größeren Gemeinschaften, wenn zum Beispiel Religionen mit Monopolanspruch aufeinanderstoßen. Hofstadter prägt dazu den schönen Satz:

    Anti-Catholicism has always been the pornography of the Puritan.

    Geschichten über die sexuelle Freizügigkeit von Priestern, Nonnen und Mönchen, über Geldgier, alles verbunden mit Heuchelei, waren schon vor Jahrhunderten in Europa und Amerika verbreitet.

    Im 20. Jahrhundert kam zu diesen der Ausgrenzung und eigenen Machtdurchsetzung dienenden Legenden noch ein Aspekt hinzu. Nun hieß es und heißt es: Amerika wird durch fremde Mächte und ihre raffinierten Agenten enteignet und ausgebeutet und muss »wiedererobert« werden. Die guten amerikanischen Werte wurden zerstört – Kosmopoliten, Intellektuelle und die Presse haben einen großen Anteil daran. Dabei spielen die Medien eine doppelte Rolle: Einerseits sind sie die Schurken, andererseits Verbreiten sie die paranoide Agenda. Das amerikanische Talk Radio1, einige Fernsehkanäle und große Sektoren von Social-Media-Plattformen wirken am paranoiden Agenda Setting mit und bestärken düstere Ahnungen und Vorurteile.

    Windräder funken nach China

    Was hat die amerikanische Paranoia mit uns zu tun? Es ist nicht schwer, mindestens drei Schurken-Netzwerke auszumachen, die in täglich in den Äußerungen von Politikern, in Nachrichten, Kommentaren und Talks vorkommen. Rechtsextreme einschließlich der AfD, Russland (meist reduziert auf »Putin«) und China.

    Ein Beispiel.

    Vor der Nordseeinsel Borkum ist ein neuer Windpark geplant. Einwände dagegen kommen nicht nur von Umweltschützern, die Auswirkungen auf Seevögel und die Meeresfauna befürchten, sondern auch von Sicherheitspolitikern. Ohne IT-Expertise und ohne jeglichen Beleg behauptet beispielsweise der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, dass die geplanten 16 Windturbinen aufgrund ihrer aus China stammenden Technik die nationale Sicherheit gefährdeten und daher nicht gebaut werden sollten.

    Bericht im Manager Magazin:

    https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/bundeswehr-denkfabrik-warnt-vor-chinesischer-technologie-in-offshore-windanlagen-a-cdd14109–949c-4b90-b82e-502e6988cb91

    Interview mit Roderich Kiesewetter im NDR 04.03.2025

    https://www.ndr.de/nachrichten/info/Windpark-vor-Borkum-Sorge-um-Technik-aus-China,ndrinfo70744.html

    Auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser rät ab: China könnte verbaute Sensorik zu Spionagezwecken nutzen und die Energieversorgung stören.

    Artikel der Nordwestzeitung 03.03.2025

    https://www.nwzonline.de/wirtschaft/bundesinnenministerin-nancy-faeser-offen-fuer-verbot-kritischer-energie-komponenten-aus-china_a_4,1,4221402490.html

    CDU, SPD und Grüne sind sich also einig: Die Windräder bedrohen Deutschlands Sicherheit, besser ist es, die Verwendung chinesischer Technik zu verbieten.

    Ein mit der Windradtechnik vertrauter Journalist weist die schwarz-rot-grüne Geisterbeschwörung allerdings zurück:

    Die grundsätzlichen Bedenken über IT-Sicherheit bei Großkomponenten sind berechtigt, wenn es um die nationale Energieversorgung geht. Der möglicherweise aus Russland gesteuerte Cyberangriff auf einen Satelliten, der zu Beginn des Ukraine-Kriegs in 2022 hierzulande 6000 Windkraftanlagen lahmlegte, funktionierte allerdings auch ohne dass kritische Komponenten „Made in Russia“ waren. Und keine Turbine in der Nordsee bekommt eine direkte Standleitung nach China, egal wer der Hersteller ist. Dieses bequem vereinfachte Narrativ sollte mit Ende des Bundestagswahlkampfes einer ehrlichen Diskussion über die Energiewende weichen. Nachhaltige Stärkung der heimischen Industrie braucht jedenfalls mehr Substanz als das hastige Verbot eines Windparks, der am Ende ein Prozent vom Ausbauziel der nächsten fünf Jahre ausmacht.

    https://www.nwzonline.de/emden/offshore-ausbau-in-der-nordsee-debatte-um-chinesische-turbinen-im-windpark-vor-borkum-ist-peinlich_a_4,1,4244239915.html

    Nach der aus den USA importierten Idee, Mobilfunk-Technik von Huawei zu verbieten, die in 5G-Netzwerken installiert werden könnte, und der Kritik an der Beteiligung eines chinesischen Unternehmens an einem Terminal im Hamburger Hafen ist die Turbinen-Affäre nun schon das dritte Beispiel für eine unbelegte Meldung einer Bedrohungslage durch die weltumspannende chinesische Staatsverschwörung bzw. durch die Kommunistische Partei, wie einige Sprecher präzisieren (es könnte ja Rezipienten geben, denen »Kommunismus« noch etwas sagt).

    Demnächst

    Auf die Erscheinungsformen der speziellen medienpolitischen Paranoia komme ich in späteren Beiträgen in dieser Serie zurück.


    Douglas Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. Cambridge: Harvard University Press, 1996.