Autor: hero

  • Claus Bremer

    Die Wirtschaft, die meistbietende versucht, uns zu ihrem Vorteil einzureden, dass Kirche Kirche ist und Berg Berg – dass doppeltgemoppelt wird, – Soldat = Soldat, Panzer = Panzer, Krieg = Krieg. Wenn ich die Gleichungen mit Lesende = Lesende fortsetze, ist der Blödsinn umrissen. Sehen wir uns den Soldaten näher an, lesen wir ihn: — Hier wird Liebe befohlen, mit Gewalt für Liebe gesorgt. Der Soldat als Mittel seiner Abschaffung. Entsprechend der einzelne Panzer, der als Waffe benutzt wird, die die Nichtbenutzung von Waffen erkämpft. Der Panzer = das Kampfverbot. Das Kampfverbot = der Panzer. Der Panzer als Denkmal seiner Abschaffung. (…) Sich selbst entwaffnende Gewalt. Gewalt, die sich nach Anwendung aufhebt (was ihren Ein-für-allemal-Sieg voraussetzt). [60f.]


    Claus Bremer: Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Ein Essay. Zürich: orte-Verlag, 1983

  • Frühstücks- und Bettlektüre

    Radioanekdoten

    Wer sie noch nicht alle kennt oder gern einmal wieder und neu erzählt bekommen möchte, findet sie in diesem Buch: die Anekdoten, die sich ums Radio ranken. Stephan Krass war selbst jahrelang im Rundfunk tätig und ist ein frischer Erzähler. Vom Funkerspuk noch im Ersten Weltkrieg über Lakehurst und War of the Worlds geht es zu den Nachtstudios der fünfziger Jahre und schließlich zu Radio Caroline und den aktuellen Hörbuch- und Podcast-Trends. Krass bietet gute Unterhaltung, quasi einen Gegenpol zu den im Hintergrund laufenden Berichten über die Konflikte von Menschen mit der Natur und untereinander.

    Kommunikation kaputt

    Die aus einer türkischen Familie stammende Amerikanerin Elif Batuman hat eine Art Coming-of-age-Roman geschrieben, der zum Teil recht komisch ist. Er handelt von einer Achtzehnjährigen, die in Harvard Linguistik und einige Sprachen zu studieren beginnt, und ihren endlosen Kommunikations- und Verständnisproblemen im Umgang mit Kommilitoninnen und vor allem einem Freund, mit dem sie das Aneinandervorbeireden meisterhaft auf die Spitze treibt – ohne die eigenen Beiträge zu ihren Verständigungsproblemen dabei zu reflektieren. Ein großer Teil des Romans spielt auf dem Campus und in Boston, dann geht es über Paris und einen längeren Aufenthalt in Ungarn in die Türkei. Das Buch hat einige Längen und wäre mit 300 statt 432 Seiten noch unterhaltsamer. Aber als Entspannungslektüre vor dem Lichtausmachen ist es gut geeignet.


    Stephan Krass: Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcast. Springe: zu Klampen, 2022.

    Elif Batuman: The Idiot. A Novel. New York: Penguin Press, 2017 (auch deutsch: Die Idiotin).

  • Klassenunterschiede

    Betrachtet man die Biografie meiner Mutter genauer, wird plausibel, warum eine Frau wie sie sich nicht dem Klassenkampf, den großen geschichtsphilosophischen Deutungen des Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie verschrieben hat: Sie hatte zu viel zu tun. Man wird nicht zum Subjekt der Revolution, während man schmutzige Windeln in einem Kochtopf auskocht, in einem Plattenwerk Buch über die sozialistische Produktion führt oder Schweine in Hälften teilt. Meine Mutter träumte nicht vom Klassenkampf. Wäsche von fünf Personen zu schleudern war struggle genug. (22/23)

    Hobrack versucht, eine Synthese von feministischer und Klassenperspektive herzustellen. Sie macht darauf aufmerksam, dass Arbeiterinnen und Frauen aus der Mittelschicht nicht unbedingt in einem Boot sitzen. Besonders interessant ist die Erfahrung, die sie aus der DDR-Sozialisation mitbringt. Sie ist zwar 1986 geboren, aber bezieht nicht nur ihre eigene Nach-Wende-Perspektive in ihre Erzählung ein, sondern vor allem die ihrer Mutter. Die DDR »schenkte« den Frauen Gleichberechtigung und Entlastungen durch Kinderkrippen, weil sie ihre Arbeitskraft in den Betrieben brauchte, und zwar für alle Arten von Arbeit. Dafür wurde dann mit tertiärer Bildung geknausert – es wurde nur eine gewisse Anzahl von Hochgebildeten benötigt, aber eine große Masse an einfachen Arbeitskräften. Vergleichbare Tätigkeiten wurden im Westen zunehmend von Zuwanderern ausgeübt. Ein weiterer spezifischer DDR-Aspekt ist, dass der Heiratsmarkt kaum Chancen zum sozialen Aufstieg bot, da es in der Gesellschaft kaum Aufstiegschancen gab, von den Hierarchien in den Partei- und Staatsbürokratien einmal abgesehen.

    Die DDR-Sozialisation scheint es zu sein, die eine produktive Sicht auf die Konzepte von Klasse, Identität, Patriarchat gefördert hat. Insofern ist der Text auch unter dem Gesichtspunkt spannend, dass er Einblicke in eine für Bewohner des deutschen Westens weitgehend verborgen gebliebene Lebenswelt gewährt.

    Immer orientiert an ihrer eigenen Biographie und der ihrer Mutter, bringt Marlen Hobrack Bewegung in die Diskussion über Klassen- und Identitätsverhältnisse im aktuellen Deutschland. Ihre eigene Position kommt sehr gut in einem von ihr wiedergegebenen Satz von Emma Dabiri zum Ausdruck: »Vermutlich wird ein weißer Arbeiter nicht verstehen, wie es sich anfühlt, eine Schwarze Arbeiterin zu sein, aber er versteht, was eine Zehn-Stunden-Schicht bedeutet. Und darauf kommt es an.«

    Die im Untertitel des Buchs Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet enthaltene Andeutung einer Verallgemeinerung über das Anekdotisch-Biographische hinaus kann sie allerdings nicht einlösen. Das ist auch gar nicht nötig, Stoff zum Nachdenken liefert sie auf 200 Seiten genug.


    Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Berlin: Hanser, 2022.
    Emma Dabiri: Was weiße Menschen jetzt tun können. Von ›Allyship‹ zu echter Koalition. Berlin: Ullstein, 2022.

  • Weggelesen

    In diesem Winter habe ich offenbar Pech. Oder Neugier und Humor sind mir verloren gegangen. Ich traf Jan Faktor einmal Mitte der 1980er Jahre in Bremen und unterstützte ihn bei der Auswahl und beim Kauf eines PC, den er auf irgendeinem Weg nach Berlin/Prenzlauer Berg bringen wollte. Später las ich einige Texte von ihm, die ich ganz witzig fand und in denen immer ein Georg vorkam. Es schien mir ein lauter, eulenspiegelhafter Widerstandsgeist daraus zu sprechen. Aber das war auch kurz nach der »Wende«, als gerade versank, wogegen sich der Widerstand gerichtet hatte. Jetzt, 30 bis 35 Jahre später, finde ich den Roman Trottel nur albern. Die häufige Erwähnung des Selbstmords von Faktors Sohn irritiert, aber bildet auch keinen Spannungspol, der die aufgekratzte Comedy als Gegenpol rechtfertigen könnte. Geht zu booklooker.

    Viel versprochen hatte ich mir im Herbst 2021 von Carolin Amlingers literatursoziologischer Studie Schreiben. Die lange aufgeschobene Lektüre habe ich nun nachgeholt. Seltsam, diese sehr umfangreichen Qualifikationsarbeiten – in diesem Fall 800 Seiten – sind manchmal schlichte thematische Additionen, aber ohne Summe. Würden einzelne Teile fehlen, würde sie niemand vermissen. Über den Schriftstellerberuf ist in der Studie Einiges zu erfahren, aber nichts davon ist unerwartet, nichts auf eine belegbare Art verallgemeinerbar. Zu später Ehre kommen die Untersuchungen von Fohrbeck & Wiesand aus den 1970ern. Die Behauptung, in jener Zeit sei eine literarische »Gegenöffentlichkeit« entstanden, entbehrt jeglicher Grundlage. Es gab Stimmungen, die kulturelle Sphäre verstand sich teilweise als notwendiges Korrektiv zur herrschenden politischen Grundströmung. Autonom und gegenöffentlich war sie jedoch keineswegs. Es lohnt sich aber nicht, lange über solche interessegeleiteten schiefen Interpretationen nachzugrübeln und gegen sie zu argumentieren. Jedenfalls nicht für mich.


    Jan Faktor: Trottel. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022.

    Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Berlin: Suhrkamp, 2021.

  • Kleine Irrtümer

    In der bei Suhrkamp 2009 erfreulicherweise erschienenen deutschen Übersetzung des Tristano-Konvoluts von Nanni Balestrini gibt es im paratextuellen Bereich zwei kleine Fehler. Eine Erklärung auf der Seite mit den Verlagsangaben besagt, dass erst neuerdings die digitale Drucktechnik ermögliche, das Buch so zu veröffentlichen, wie Balestrini es geplant hatte.

    Daran ist richtig, dass Feltrinelli den Aufwand scheute, x verschiedene Exemplare mit jeweils anders angeordneten Absätzen des Textes zu publizieren. Die digitale Satz- und Drucktechnik unterstützt diese Idee in der Tat eher. Aber: Schon 1984, also noch vor der Entwicklung der von Suhrkamp genutzten Techniken, schaffte es der Verleger Klaus Ramm, das Buch Holunder von Hartmut Geerken in einigen hundert unikaten Exemplaren drucken zu lassen. Ich habe seitdem zwei dieser Exemplare im Regal.

    Hartmut Geerken, der 2021 starb, war ein äußerst produktiver und ideenreicher Schriftsteller, Philosoph, Ethnologe und Freejazzer. Ich besorgte ihm bei einem Besuch in Bremen ein Saxophon, mit dem er nach einer Lesung noch eine Weile jammte.

    Der zweite kleine Irrtum unterlief Peter O. Chotjewitz, der Balistrinis Text übersetzte und mit einem Nachwort versah, betitelt »Der Neue Roman im Zeitalter seiner programmgesteuerten Reproduzierbarkeit«. In dem zu lesen ist, dass Helmut Heißenbüttel das Gemisch aus Zitat, Meinung, Meldung und Stellungnahme im eigenen Werk realisiert hätte – und genau diese Mischung auch in Balestrinis »Roman« anzutreffen sei – »den Heißenbüttel nicht gekannt haben dürfte«. An einer Veranstaltung im Jahr 1984, auf der Hemut Heißenbüttel und Hartmut Geerken lasen, sollte auch Nanni Balestrini teilnehmen, er wagte allerdings nicht die Reise nach Bremen, weil in Italien ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Gerald Bisinger las von ihm übersetzte Gedichte Balestrinis vor, und über sein Werk wurde viel gesprochen. Zu ihm gehört Wir wollen alles (1972), ein Manifest in Romanform, Die Unsichtbaren (deutsch 1988), ein Roman über die italienischen Stadtindianer und ihre Verfolgung, und eben sein früher experimenteller Tristano. Helmut Heißenbüttel hat also zumindest 1984 von ihm erfahren.


    Nanni Balestrini: Tristano (mein Unikat trägt die Nr. 6208). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.

    Hartmut Geerken: Holunder. Spenge: Verlag Klaus Ramm, 1984.