Kategorie: Glossen

  • Im Himmel freie Fahrt

    Als ich amüsiert über die Abzocke der Mineralölindustrie diese Preisanzeigen fotografierte, kam mir ein älteres Ehepaar entgegen. »Nächste Woche kostet der Liter 5 Euro«, sagte er. »Oder gar nichts mehr«, sagte sie.

  • Schon wieder Derridada

    In einem Bühnendialog im Hygienemuseum Dresden sprachen der Kulturhistoriker Philipp Felsch (HU Berlin) und der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard (Leuphana Lüneburg) im September 2021 über Foucault.

    Natürlich wurde viel über ›Macht‹ geredet, wobei sich Bernard einigermaßen an die Begriffsverwendung bei Foucault herantastete. Beim allfälligen Vergleich der Machtkonzepte von Marx und Foucault war allerdings wenig Verständnis zu spüren. Die 1969 und 1972 geborenen Akteure haben keine extensive Marxkenntnis, wurden dafür akademisch in den 1990er Jahren sozialisiert, in denen Foucaults (oder irgendein anderer) ›Diskurs‹ in hoher Blüte stand.

    Die Veranstaltung stand unter der Prämisse, dass Foucaults Theorie im Gegensatz zu anderen französischen Poststrukturalisten (Derrida, Lacan, Baudrillard) auch heute immer noch überzeugend sei. Die Feststellung ist etwas verwunderlich, da auf dem Feld der akademischen Moden doch seit langem ein Übergang von Analysen der Gesellschaftsstrukturen, zu denen seine Diskurstheorie immerhin noch beigetragen hatte, zu Subjekttheorien wie der von Deleuze zu beobachten ist. Deleuze wird höchstens vorgeworfen, dass sein molekulares und nomadisches Subjekt zu ›weiß‹ ist und sich nicht kritisch mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandersetzt. Aber über die momentan laufenden Debatten über Identitäten aller Art wurde in Dresden nicht viel gesprochen.

    Dafür fand dann ein Abwatschen von Derrida – »poetische Spielereien, die die Theorie verzieren« – und von Baudrillard – »so fremd wie ein Barocklyriker irgendwie« – durch Bernard statt. Felsch, der sonst zumindest immer für einen bildungsbürgerlichen Kalauer gut ist (einen alpinistischen Essay betitelte er in Anlehnung an Friedrich Kittler ›Aufsteigesysteme 1800–1900‹), pflichtete ihm ohne weiteres bei. Zumindest die direkte Auseinandersetzung von Baudrillard mit Foucault – ›Oublier Foucault‹ 1977 – oder die medientheoretisch immer noch äußerst beeindruckenden Schriften Derridas über das Archiv – hätten auf dieser Veranstaltung eine seriöse Behandlung verdient.

    Die kundigste Person des Dresdner Abends war die Moderatorin (deren Namen ich nicht gefunden habe).

  • Aus dem Geistesleben der Thiere


    Ludwig Büchner: Aus dem Geistesleben der Thiere – oder Staaten und Thaten der Kleinen. Berlin: A. Hofmann & Comp., 1876, S. 208

  • Boulevard-Literaturwissenschaft

    »Zeitgenössisch«

    Die deutsche Literaturwissenschaft ist seit den Diskursturbulenzen in den 1980er Jahren ebenso wie der Literaturmarkt still und heimlich wieder zu den Standards des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgekehrt – content over form, platter Realismus, Warten auf den »großen Roman«, dazu Agonie der Literaturkritik und ihre Ersetzung durch »literarisches Leben«.

    Kennzeichnend dafür ist die offenbar ernstgemeinte Problematisierung der Gegenwarts-Adäquatheit literarischer Prosa. Fehlt ihr diese Eigenschaft, wenn sie in den 1990er Jahren nicht die Vereinigung von BRD und DDR thematisiert und heute nicht die Covid-19-Pandemie? Gibt es keine anderen Kriterien für Gegenwärtigkeit als solche Bezüge zur politischen und kulturellen Umwelt der Schreibenden? Die im Zitat von Johannes Franzen angeführten »historischen Marker« lassen sich bestimmt für quantitative Inhaltsanalysen codieren, sind aber noch lange keine Belege für die Gegenwärtigkeit von Texten oder der Geistesverfassung von Autorinnen und Autoren. Die aktuelle Bearbeitung irgendeines sprachlichen Materials – das aus der Mündlichkeit, aus Dokumenten, aus der Phantasie oder aus purer Berechnung entsprungen sein mag – liefert weitaus mehr Optionen zur Bestimmung der Zeitgenossenschaft als Franzen offenbar wahrhaben will. Der Gedanke, dass die Umwelt selbst, quasi ein Wurmloch durchquerend und die Dimension wechselnd, durch ihre nunmehrige Anwesenheit im Text dessen Gegenwärtigkeit zertifiziert, ist hochgradig mystizistisch. Prosa, in der nichtrauchende Smartphone-User figurieren, die sich vor virengeschwängerten Aerosolen durch FFP2-Masken schützen und im Gespräch Erinnerungen über einstürzende Doppeltürme austauschen – ist weiter von der Gegenwart entfernt, als sie selbst wahrhaben möchte. Und eine Literaturwissenschaft, die nach solchen »Markern« sucht, hat schon abgedankt.


    Artikelauszug: Johannes Franzen Autonomie, bloß wie? Es ist schwierig, keinen Zeitroman zu schreiben FAZ 15.09.2021