Kategorie: Kommentare

  • Zauberberg, zweiter Versuch

    Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, daß der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. (Daniel Kehlmann)

    Mag sein, dass das für den Roman zutrifft, auch wenn mir die Verteilung des Stoffes nicht völlig einleuchtet. Für mich trifft es allerdings absolut nicht zu. Mich machen hunderte von Seiten an moribunden Beobachtungen und Überlegungen nur beklommen. Andererseits kann die Phase unmittelbar vor 1914 mit einem gewissen Recht als präfinal bezeichnet werden, wie das letzte Stadium einer Krankheit, und die Atmosphäre in Davos steht für die Situation ganz Europas, das ohne klaren Verstand auf das Völkerschlachten zu taumelt.

    Zeitempfinden und Endlichkeit, Krankheit und Tod: Vom ersten bis zum letzten Kapitel bilden diese Stichworte das Zentrum des siebenjährigen Genesungs- und Bildungsaufenthalts von Hans Castorp. Zeitweilig liest sich das Buch tatsächlich wie ein bemühter Bildungsroman, in dem vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Stand der Jahrhundertwende um 1900 ausgebreitet werden. Allerdings gibt es zwischendurch immer wieder längere Passagen mit pseudophilosophischem Geschwafel des Literaten und Freimaurers Settembrini, die weder den Protagonisten Castorp noch die Leser auf eine produktive Spur führen.

    Gern gelesen habe ich den Abschnitt »Schnee« im sechsten Kapitel. Hans Castorp gerät auf einem einsamen Skiausflug in ein heftiges Schneegestöber, findet den Weg zurück nach Davos nicht, lehnt sich an die Wand einer Hütte mitten im Wald, schläft kurz ein und träumt. Allerdings sind die verwendeten Muster recht trivial: Castorp irrt im Kreis herum; in einer Schneelandschaft gefangen träumt er von den Dünenlandschaften seiner norddeutschen Heimat.

    Im sechsten Kapitel beginnt auch der Prinzipienstreit zwischen dem aufklärerischen Freimaurer Settembrini und dem »Cäsaro-Papisten« Naphta. Ihre Positionen tragen überzeitliche Signaturen, nicht die der Jahre um 1910. Thomas Mann weicht offenbar der Möglichkeit der Reflexion über die Entstehung des Ersten Weltkriegs aus und mystifiziert seinen Beginn als »Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit«

    Zwar wird in Besprechungen und literaturgeschichtlichen Referenzen häufig im Zusammenhang mit dem Zauberberg erwähnt, es fänden darin Auseinandersetzungen mit den ideologischen Konflikten der Epoche um den 1. Weltkrieg herum statt. Das trifft – was den Nationalismus und den imperialen Expansionsdrang der beteiligten Staaten angeht – allerdings gar nicht zu. Dafür werden einige andere Probleme der Zeit angesprochen, allerdings erstmals im Kapitel Sieben. In dem geht es ohnehin drunter und drüber. Eine alle in den Bann ziehende Persönlichkeit (Peeperkorn), ein Duell, Spiritismus bis zum Abwinken, zwei Suizide (Peeperkorn und Naphta), ausführliche Auseinandersetzungen mit Musikstücken und schließlich der Krieg, in dessen Schützengräben wir Hans Castorp aus den Augen verlieren.

    Sie werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fechtend, in die Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren sich nicht mehr. Sie liegen, den Rücken vom Tornister gehoben, den Hinterkopf in den Grund gebohrt und greifen krallen mit ihren Händen in die Luft. Aber der Wald sendet neue, die sich hinwerfen und springen und schreiend oder stumm zwischen den Ausgefallenen vorwärts stolpern.

    Woher nimmt der Autor diese anschauliche Beschreibung des Grauens? Immerhin scheint sie die 1914 von ihm eingenommene Haltung zu kontrastieren – »… uns Deutschen konnte nichts Grösseres und Glücklicheres geschehen, als dass die Welt sich gegen uns erhob«.

    Die letzten Seiten des Romans dokumentieren andeutungsweise eine Wandlung des Autors. Nationalismus und Imperialismus, von ihm noch zu Beginn des Krieges freudig akzeptiert, machen einer humanistischeren und distanzierten Sicht Platz. Wo sich allerdings die von manchen Kommentatoren benannte Wandlung zum »Demokraten« finden lassen kann, bleibt deren Geheimnis.

    Es war mein zweiter Versuch, mit einem Abstand von etwa fünfzig Jahren, mich dem Zauberberg anzunähern. Er ist mir ferner denn je.

    Trivia

    Hans Castorp besaß eine Uhr von Glashütte. Vielleicht diese hier:

    Glashütte Taschenuhr
    Glashütte Taschenuhr

    Der Polyhymnia Musiksarg, von dem im siebenten Kapitel so ausführlich die Rede ist (vor allem natürlich von der Musik, die Castorp auf diesem Grammophon abspielt), war Thomas Mann sehr vertraut.

    Polyhymnia Grammophon ca. 1920
    Polyhymnia Grammophon ca. 1920

    Thomas Mann, Der Zauberberg. Seit 1924 viele Ausgaben. Maßgeblich ist die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 5.1, Frankfurt am Main: Fischer, 2002.

    100 Jahre Zauberberg. Neue Rundschau, 135. Jahrgang, 2024, Heft 3.

  • Fehlkonstruktion

    Wie einige andere Amazon-Kunden in den Rezensionen angemerkt haben: Bei allen neueren Kindles – außer Scribe – ist der Ein-/Ausschaltknopf an der unteren Gehäusekante angebracht. Das ist eine ungeeignete Position.

    Wenn ich das Gerät am Tisch benutzen möchte, ist die Verwendung eines Ständers optimal. Das geht aber leider nicht, weil man das Gerät beim leisesten Druck (Umblättern, auf dem Tisch verschieben) ausschaltet. Ich verhindere das nun mit einer häßlichen Bastellösung, siehe Foto. Abgebildet ist ein Colorsoft, in der Familie gibt es auch ein Paperwhite, gleiches Gehäuse. Der Knopf gehört an die obere Gehäusekante!

    Ich habe zwei Holzstäbchen mit Tape an die Gehäusekante geklebt, damit der Schalter nicht den Ständer berührt.

  • Kunst-Imitation

    [An einen Künstler, der unter seinem Namen Bilder ausstellt, die er mit Text-Prompts durch Stable Diffusion hat generieren lassen]

    Wer sich mit KI-Geschichte und KI-Geschichten beschäftigt – eine empfehlenswerte Lektüre ist zum Beispiel der KI-Atlas von Kate Crawford – kann nicht umhin, den Kopf zu schütteln. Ich finde einfach, dass diese Hervorbringungen, denen Du Deinen Namen verleihst, Dir und Deinem Werk nicht würdig sind. Die angewendete Software ist nicht mit Techniken oder Werkzeugen vergleichbar, die sonst in der Kunstproduktion eingesetzt werden. Die KI wird im Grunde nicht „angewendet“, sondern ihr wird die Produktion eines Bildes zu 100% überlassen. Allenfalls könnte durch das Spannungsverhältnis zwischen textlichem Prompt und resultierendem Bild eine interessante Rückbindung an den Auftraggeber (Künstlerin/Künstler) entstehen. Aber dieses Prompt unterdrückst Du, weil das Bild „für sich“ stehen soll. Dass eine Software aus vielen Millionen gespeicherter Bildelemente etwas zusammensetzt, das einem künstlerischen Bild ähnelt, finde ich jedoch nicht interessant – jenseits des informatischen Aspekts.

    Jeder beliebige Mensch, dem ein paar Wörter einfallen, kann solche Bilder generieren lassen. Ich habe das selbst durchprobiert, allerdings immer nur mit spaßhaften und ironischen Anweisungen, die dann irgendwelche Bilder mit Möpsen, Bunkern, Nordseeküsten und eintürmigen Bremer Domen ergaben. Diese Form des Einsatzes von KI, dass also jemand per Software komplette Bilder erstellen lässt, hat den Namen Kunst nicht verdient. Das Gegenmodell: John Cage ließ beispielsweise Fliegen auf ein weißes Blatt Papier kacken, zog anschließend Notenlinien auf dem Blatt und generierte so ein Musikstück. Das Kriterium ist für mich: Hat jemand das Konzept für den Prozess und das Resultat in der Hand oder nicht.

    NB: Schön ist in diesem Zusammenhang eine Erzählung von Stanisław Lem aus dem Jahr 1965. Trul will einen Poesie-Automaten bauen und kommt bald darauf, dass er die gesamte Geschichte des Universums rekonstruieren muss, damit der Automat auch die tiefsitzenden Erfahrungen der Menschheit berücksichtigen kann. Dennoch ist der erste Versuch dürftig und lächerlich (und erinnert ein wenig an die heutigen KI-Bilder): „Alle meine Fröschlein schwimmen auf dem Schnee.“ Nach einigen Korrekturen am Automaten erzeugt der dann Gedichte traditioneller Stilrichtungen zu beliebigen Prompts (wie die Anweisungen heute genannt werden). Avantgardistisch gestimmten Kritikern gefiel der Stil nicht, aber siehe da: „Die Maschine war jedoch selbstprogrammierend und erfolgte obendrein über spezielle Ehrgeizverstärker mit ruhmsuchenden Stromkreisen, und daher vollzog sich bald eine tiefgreifende Änderung.“ Die Maschine übernimmt dann sozusagen die gesamte Poesie-Produktion des Universums. – Niemand kommt übrigens auf die Idee, Trul als Urheber der Gedichte zu bezeichnen.


    Kate Crawford. Atlas der KI. Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien. München: Beck, 2024.

    Stanisław Lem: Die Reise Eins A oder Truls Elektrobarde. In: Kyberiade. Frankfurt am Main: Insel, 1983, 47–62.

  • Im Deutschen nicht angekommen

    Liebe Lektorinnen,

    ich habe mich durch die ersten 75 Seiten von Matteo Pasquinellis Buch Das Auge des Meisters gequält und wechsle nun zur englischsprachigen Version des Buchs. Im Impressum steht: „aus dem Englischen von Karina Hermes“. Leider ist Hermes dann nicht im Deutschen angekommen.

    Es handelt sich hier um eine Rohübertragung des englischen Textes, die voller Fehler und sprachlicher Schrägheiten ist, abgesehen von der offenkundigen Unkenntnis des benötigten Fachvokabulars. Natürlich muss ich auch das Lektorat (gab es eins?) kritisieren, das nicht einmal grobe sprachliche Schnitzer korrigiert hat und einen „Frederick Pollock“ durchgehen lässt, nur weil Pasquinelli aus der englischen Übersetzung von Friedrich Pollocks Buch über Automation zitiert.

    Ausgestiegen bin ich endgültig bei diesem Satz:

    „Eine fundamentale Theorie der automatisierten Berechnung stammt von Babbages Anwendung seiner Prinzipien zur Arbeitskalkulation auf die Aufteilung mentaler Arbeit.“ [75]

    Abgesehen von den unbeholfenen Formulierungen wie „stammt von“ für came from und der sich daraus ergebenden Satzkonstruktion:

    • fundamental ist nicht immer „fundamental“,
    • theory nicht immer „Theorie“,
    • calculation nicht immer „Berechnung“
    • und vor allem ist mental nicht „mental“, sondern hier geht es um geistige Arbeit.

    Ich finde auf jeder Seite mehrere Sätze mit echten Fehlern, über das durchgängige „Denglisch“ hinaus.

    So sehr ich mich darüber gefreut habe, dass Sie das Buch herausgebracht haben, so sehr bin ich nun doch enttäuscht, es niemandem in dieser Version empfehlen zu können.

    NB (nicht in der Mail erwähnt): Die Übersetzerin ist nicht auf die Idee gekommen, die vielen Zitate aus bereits in deutscher Sprache vorliegenden Texten in den übersetzten Fassungen zu suchen und in ihren Text einzubauen. Ihre eigenen Übersetzungen sind dann zum Teil richtig skurril. Der Verlag tut mir leid.


    Matteo Pasquinelli: Das Auge des Meisters. Eine Sozialgeschichte Künstlicher Intelligenz. Münster: Unrast Verlag, Juli 2024.

    Originalausgabe: The Eye of the Master. A Social History of Artificial Intelligence. London, New York: Verso, 2023.

  • Photos mit Nimbus

    Eine Ausstellungs-Ankündigung mit einem sehr dunkelgrauen Photo, das ein Stück Kathedralenwand mit Säulen, Stützen und Engel auf Podest zeigt. Auf der Einladung die Bemerkung, den Photos dieses Künstlers wohne eine besondere Aura inne …

    Photographien mit „Aura“, das ist bei strenger Lektüre von Walter Benjamin erstmal eine abenteuerliche Behauptung. Denn gerade an Photos begründet er den Verlust der Aura von Kunstwerken. Spätere Interpreten sehen allerdings durchaus Chancen für die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ und das unwillkürliche Wachrufen von Erinnerungsmomenten auch durch Photos – die ja nie unbearbeitet sind, nie „Knips-Realität“.

    Interessant für mich ist jedenfalls, dass Benjamin die Aura und den „Chock“ mit Epilepsie in Verbindung bringt – und in diesem Zusammenhang kennen wir ja Auren (auch bei Migräne) als somatische Erlebnisse. Er schreibt

    Die Bedeutung des Stückes »Perte d’auréole« kann nicht überschätzt werden. Es ist zunächst darin von außerordentlicher Pertinenz, daß es die Bedrohung der Aura durch das Chockerlebnis zur Geltung bringt. (Vielleicht kann dies Verhältnis durch Hinweis auf die der Epilepsie geltenden Metaphern geklärt werden.) Außerordentlich durchschlagend ist weiter der Schluß, der die Schaustellung der Aura weiterhin zu einer Angelegenheit von Poeten fünften Ranges macht. –

    Im Prosagedicht »Perte d’auréole« von Baudelaire geht es darum, dass ein Dichter angesichts des heftigen Verkehrs an einer Straßenkreuzung so schockiert ist („in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt“), dass ihm die „Aureole“ vom Kopf fällt. Danach erkennt ihn kaum noch jemand als Dichter, nur noch ein enger Freund. Das weitere Schicksal der Aureole stelle er sich so vor:

    Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, daß irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache!