Jörg Schieb, bekannt durch Bücher wie Windows 98 komplett und Das große Buch zu MS-DOS und langjähriger Mitarbeiter des WDR, ist inzwischen Vorsitzender des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises und bezeichnet sich selbst als »KI-Enthusiast«.
Ein Anwendungsfall seines Enthusiasmus ist die angeblich »wissenschaftliche Analyse« einiger Videos von Judith Scheytt auf Instagram. Scheytt bekam im Januar 2025 von dem oben erwähnten Verein eine »Besondere Anerkennung« im Rahmen der Vergabe des Donnepp Media Award ausgesprochen. Die nach mehreren Monaten erfolgte Aberkennung dieser Auszeichnung soll nach Druck von Seiten der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit erfolgt sein. Begründungen lieferte nachträglich die genannte Analyse. Aus ihr scheint hervorzugehen, dass Judith Scheytt eine systematische Verzerrung der israelischen und palästinensischen Positionen vornimmt. Nicht berücksichtigt wird jedoch, dass ihre Äußerungen auf Instagram medienkritische Interventionen sind, keine aktivistischen Stellungnahmen. Eine Kritik an ihren Aussagen müsste also in jedem Fall auch den Betreff dieser Aussagen nennen und mit reflektieren.
Zu der Analyse ließe sich im Einzelnen auf der Ebene der Antisemitismus-Einordnung viel sagen. Das möchte ich hier nicht tun. Merkwürdige Formulierungen erregen allerdings einen bestimmten Verdacht:
- »Terminologische Verharmlichung terroristischer Gewalt«. Dieser kreative Neologismus findet sich in einer Überschrift.
- »Schieferkrankenhaus-Belagerung«. Gemeint ist wohl das Al-Shifa-Krankenhaus, in dem israelische Truppen ein Massaker mit hunderten von Toten anrichteten, wobei sie von Quadcopter-Drohnen per Lautsprecher verkünden ließen: »Kommt heraus, ihr Tiere!«
Sind das Fehler bei der Spracherkennung – also durch Diktat entstanden? Oder ist der Text von einer KI generiert? Wahrscheinlich beides, aber die sogenannte Analyse scheint im wesentlichen von einer KI zu stammen. Sie stellt herausgelöste Aussagen verschiedener Videos vor ein Tribunal, das aus der IHRA-Definition des Antisemitismus und ihren Anwendungsempfehlungen zusammengesetzt ist. Die Analyse wird als quantitative Diskursanalyse bezeichnet. Was ist das bzw. was soll das sein?
Eine quantitative Diskursanalyse ist ein simples Abzählverfahren, das sich auf die messbaren und zählbaren Aspekte der Sprache in Texten konzentriert, um Muster und Tendenzen zu erkennen, anstatt auf Bedeutungen und kontextuelle Verknüpfungen wie bei der qualitativen Diskursanalyse. Sie nutzt statistische Methoden, um beispielsweise die Häufigkeit bestimmter Wörter, die Struktur von Texten oder die Verteilung von Argumenten in großen Textkorpora zu analysieren. Wie auf diese Weise Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wissen oder Macht gezogen werden können (das wäre ja mit dem Ausdruck »Diskursanalyse« gemeint«), ist ein unaufgelöstes Rätsel. Mit Wissenschaft hat das Verfahren jedenfalls wenig zu tun. Allerdings gibt es seit einigen Jahrzehnten in der Kommunikationswissenschaft das Bestreben, hilfswissenschaftliche Verfahren wie quantitative Inhaltsanalysen als objektiv-wissenschaftlich zu nobilitieren, um dem Vorwurf zu entgehen, ihre Analysen blieben subjektiv und seien »nur« Interpretationen von Vorgängen bzw. Medieninhalten.
Zu welchen Urteilen kommt das KI-Tribunal über Judith Scheytt?
Beispielsweise wird die Bezeichnung von Hamas-Angehörigen als »Hamas-Kämpfer« bereits inkriminiert.« Sie sei eine Gewaltverharmlosung, und diese könnte die Gewaltlegitimation um 23 bis 41 Prozent erhöhen. Wer vermeiden möchte, in die Nähe von Antisemitismus gerückt zu werden, muss für Hamas-Angehörige also in jedem Fall die Bezeichnung »Terroristen« verwenden.
Die Aussage in einem der Videos, dass Israel wegen Genozid-Vorwurfs vor Gericht steht (nämlich vor dem Internationalen Gerichtshof), wird als »strukturelle Dämonisierung israelischer Politik« bezeichnet und dem IHRA-Kriterium der »Ausblendung israelischer Selbstverteidigungsrechte« zugeordnet, also als antisemitisch klassifiziert. Atemberaubend ist in diesem Zusammenhang die Aussage, dass Israel keine Kriegsverbrechen begangen haben könne, weil seine Präzisionswaffen-Einsatzquote nach IDF-Daten 2024 85 % betragen habe.
Keine direkte Äußerung gibt es zu Judith Scheytts Feststellungen zur völkerrechtswidrigen Besetzung des Westjordanlandes.
Die KI erklärt nicht, wie sie zu dem Vorwurf der Relativierung antisemitischer Stereotype und speziell zu einer Überschrift »Bagatellisierung der Ritualmordlegenden-Vorwürfe« kommt. Letztere sind weder in den Videos zu entdecken noch werden sie im Text der Analyse genannt. Hier hat die KI offenbar einen in der Nähe herumliegenden Textbaustein eingesetzt.
Dass Scheytt in ihren medienkritischen Anmerkungen das Bild Israels negativ zeichnet, kann leicht dadurch erklärt werden, dass deutsche Medien jedenfalls noch 2024 über den Konflikt weitgehend aus israelischer Perspektive berichtet haben. Eine unabhängige Berichterstattung war zwar nicht möglich, weil Israel keine Einreise von Journalisten in den Gazastreifen zulässt, aber das rechtfertigt nicht die Übernahme der israelischen Narrative.
Die Mobilisierung des vollständigen Antisemitismus-Abwehrschirms gegen die Videos von Judith Scheytt ist doppelt ungeheuerlich. Einerseits, weil die »Analyse« offenbar einer KI überlassen wurde, andererseits, weil keine Auseinandersetzung mit ihrem eigentlichen Gegenstand stattfindet, ihrer Medienkritik. Das hatte die Jury des Donnepp Media Award vor einigen Monaten noch anders gesehen und gehandhabt.
Ein zynisches Highlight des Textes behandelt die Identifizierung der Autorin mit den in Israel stattfindenden Protesten und Demonstrationen, die eine Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand gefordert haben: »Die Empathiebekundungen für die Geiseln widersprechen klassischem Antisemitismus, könnten aber im Kontext der Auslassungen auch als ›Humanisierungsstrategie‹ fungieren, um israelfeindliche Narrative unter ethischer Tarnung zu transportieren«. Die Forderung nach Humanität ist also antisemitisch. Vielen Dank, das musste die Welt endlich erfahren.
Die Zurücknahme der Auszeichnung und die nachgereichte Analyse sind absolut beschämende Vorgänge, für die natürlich nicht die eingesetzte KI, sondern der Vorstand der Freunde des Adolf-Grimme-Preises verantwortlich ist: Jörg Schieb, Martin Brambach, Maik Große Lochtmann, Ute Mühlenberg und Dr. Ulrich Spies.