Kategorie: Rezensionen

  • Inside Tagesschau

    Ungleich verteilt: Die Auslandsberichterstattung

    so heißt ein Kapitel in Alexander Teskes Buch Inside tagesschau.

    Teske berichtet aus dem Maschinenraum der Nachrichtenproduktion, er war selbst sechs Jahre lang Redakteur bei ARD aktuell. Hinter jeder Nachricht, die von der Tagesschau gebracht wird – und hinter jeder, die nicht gebracht wird – stehen Entscheidungen, die innerbetrieblichen Gefühlslagen entsprechen und ganz offenkundig nichts mit der Relevanz eines Geschehens für das deutsche Publikum zu tun haben. Zitat der stellvertretenden Planungschefin: »Mich interessieren die vielen Toten auf Sulawesi gar nicht. Bestell lieber ein Stück zu Kavanaugh«.

    Es muss sicher berücksichtigt werden, dass das Buch ein Produkt persönlicher Enttäuschungen ist und nicht von wissenschaftlicher Neugier – wie beispielsweise die ethnographische Studie Inside the TV Newsroom, die Tine Hassall Thomsen 2018 veröffentlichte. Die geschilderten Details sollten allerdings ausreichen, um die öffentlich-rechtlichen Unternehmensleitungen und Aufsichtsgremien aufzurütteln. Die eklatante Schieflage der Auslandsberichterstattung ist dabei nur eins der heiklen Themen, aber offenbar ein Korrelat der strukturellen Probleme des Tagesschau-Journalismus, wie ihn Teske darstellt.

    Relevanz ist, was zum Kapuzenpulli passt

    Mit vielen anekdotischen Beispielen schildert der Autor das Trauerspiel der zufälligen, von den jeweiligen Marotten und Stimmungslagen von Redakteuren und Chefs vom Dienst abhängigen Auswahlentscheidungen der Tagesschau-Beiträge. Allerdings: Nicht alles ist zufällig. In Hamburg-Lokstedt scheint das Motto zu gelten: Dem Adel verpflichtet. Vor allem die britischen Royals, aber auch andere Königsfamilien können mit ausführlicher Berücksichtigung auf Premiumplätzen rechnen, auch wenn bei ihnen gar nichts geschehen ist, außer dass wieder ein Jahr seit einer Krönung um ist.

    Teske erwähnt die »Haltungs«-Logik, die im täglichen Arbeitsablauf hinter vielen Entscheidungen der Chefs vom Dienst steht. Das gezielte Ausblenden von Details (zum Beispiel die Nationalität des Täters oder Opfers einer Gewalttat) und die Verweigerung einer zweiten Perspektive – bzw. überhaupt einer Perspektive, wenn ein Bericht die Autorität über ein Ereignis beansprucht – sind Wesenszüge der Tagesschau-Nachrichten. Sie sind schon oft von außen beobachtet und kritisiert worden, und nun eben von einem Insider, der berichtet, dass er seinen Widerspruch häufig, aber meist vergebens, artikuliert hat.

    Einseitigkeit gibt es bei der Tagesschau nicht einfach in Form der manchmal unterstellten Linkslastigkeit – für deren Existenz auch Teske durchaus Beispiele anführt. Er fokussiert hier besonders den ARD-Faktenfinder, der seinem Namen in keiner Weise gerecht wird, denn er sucht oder untermauert nicht Fakten für die eigenen Sendungen, sondern verbreitet ideologische Gegenpropaganda – gegen Russland, gegen die AfD usw. Als ganz besonders einseitig und blind zeichnet das Buch die systematische Ausblendung ostdeutscher Perspektiven in den Nachrichten. Die Vernachlässigung des Ostens – sozusagen Deutschlands Globaler Süden – ist zahlenmäßig leicht belegbar. Sie trägt dazu bei, dass im Westen Deutschlands wenig Verständnis für die Positionsunterschiede der Bürgerinnen in Ost- und Westdeutschland aufkommt, wenn es zum Beispiel um Krieg und Frieden (Ukraine) geht. Programmatisch einseitig ist und bleibt ohnehin auch die Darstellung und Kommentierung der Stellung Deutschlands zum Ukrainekrieg.

    Die dreiköpfige Chefredaktion bildet in Bezug auf die Lenkung der Tagesschau im Sinne des staatsvertraglichen Auftrags eine Leerstelle. Die Organisation von Sondersendungen, von prestigeträchtigen Kommentaren und des Programms von tagesschau 24 (eines Fernsehsenders, dessen Abschaltung niemand bemerken würde) ist offenbar eher ihre Domäne. Hinzu kommt die Bespielung von Social-Media-Plattformen mit Junk News, die vermutlich als alters- und mediengerecht gedacht werden.

    Keine Gegenvorschläge

    Alexander Teske macht keine expliziten Vorschläge dazu, wie die Tagesschau denn anders organisiert und produziert werden sollte. Die derzeitige Organisation, mit den schichtweise wechselnden Chefs vom Dienst als den jeweils Entscheidungsgewaltigen (während die Chefredakteure nur Hintergrundfiguren sind), mit dem Bestellsystem für Beiträge, die von Teams der Landesrundfunkanstalten zu erbringen sind und der quotenorientierten Perspektivenarmut, ist jedoch offenbar einer der Verursacher des täglichen systematischen Chaos bei ARD-aktuell. Die journalistische Qualität ist nicht so schlecht, weil die Beteiligten nicht besser könnten, sondern weil offenbar die gesamte Organisation die Reflexion der eigenen Arbeit im Lichte des öffentlich-rechtlichen Auftrags verweigert. Wie die Tagesschau nicht nur in der öffentlich-rechtlichen Eigen-PR, sondern tatsächlich zu einem bedeutenden Faktor der Meinungsbildung werden könnte, bleibt daher für uns Leser die offene Frage des Buchs.

    Dass der Autor sich gegen eine »moderative« Form der TV-Nachrichten wendet, weil sie ein Beispiel für deren zunehmende Boulevardisierung sei, möchte ich ausdrücklich nicht unterstützen. Eine vorgetragene Nachricht, die den Erzählton vermeidet und lehrbuchmäßig die journalistischen W-Fragen abklappert, lässt sich erfahrungsgemäß schlechter memorieren und in eigene Kommunikationen übersetzen als eine narrativ aufgebaute. Wie oft haben wir uns vor dem Bildschirm schon gefragt: Wo ist das passiert – wie heißt der – usw., weil das alles im ersten Satz vorkam, als wir uns noch gar nicht auf den Beginn eines neuen Beitrags in der Tagesschau eingestellt hatten. Ein narrativer, kontextualisierender Einstieg, der dann Schritt für Schritt in ein Ereignis einführt, ist aus psychologischer Sicht dazu weit besser geeignet. Und: Mit Boulevardisierung hat ein narrativer Meldungsaufbau absolut nichts zu tun. Verständlichkeit und Memorierbarkeit sind keine boulevardesken Faktoren, sondern die Voraussetzung für die doch so erwünschte »Anschlusskommunikation« über die Nachrichten.


    Alexander Teske: inside tagesschau. Zwischen Nachrichten und Meinungsmache. München: Langen-Müller Verlag, 2025.

  • Zauberberg, zweiter Versuch

    Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, daß der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. (Daniel Kehlmann)

    Mag sein, dass das für den Roman zutrifft, auch wenn mir die Verteilung des Stoffes nicht völlig einleuchtet. Für mich trifft es allerdings absolut nicht zu. Mich machen hunderte von Seiten an moribunden Beobachtungen und Überlegungen nur beklommen. Andererseits kann die Phase unmittelbar vor 1914 mit einem gewissen Recht als präfinal bezeichnet werden, wie das letzte Stadium einer Krankheit, und die Atmosphäre in Davos steht für die Situation ganz Europas, das ohne klaren Verstand auf das Völkerschlachten zu taumelt.

    Zeitempfinden und Endlichkeit, Krankheit und Tod: Vom ersten bis zum letzten Kapitel bilden diese Stichworte das Zentrum des siebenjährigen Genesungs- und Bildungsaufenthalts von Hans Castorp. Zeitweilig liest sich das Buch tatsächlich wie ein bemühter Bildungsroman, in dem vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Stand der Jahrhundertwende um 1900 ausgebreitet werden. Allerdings gibt es zwischendurch immer wieder längere Passagen mit pseudophilosophischem Geschwafel des Literaten und Freimaurers Settembrini, die weder den Protagonisten Castorp noch die Leser auf eine produktive Spur führen.

    Gern gelesen habe ich den Abschnitt »Schnee« im sechsten Kapitel. Hans Castorp gerät auf einem einsamen Skiausflug in ein heftiges Schneegestöber, findet den Weg zurück nach Davos nicht, lehnt sich an die Wand einer Hütte mitten im Wald, schläft kurz ein und träumt. Allerdings sind die verwendeten Muster recht trivial: Castorp irrt im Kreis herum; in einer Schneelandschaft gefangen träumt er von den Dünenlandschaften seiner norddeutschen Heimat.

    Im sechsten Kapitel beginnt auch der Prinzipienstreit zwischen dem aufklärerischen Freimaurer Settembrini und dem »Cäsaro-Papisten« Naphta. Ihre Positionen tragen überzeitliche Signaturen, nicht die der Jahre um 1910. Thomas Mann weicht offenbar der Möglichkeit der Reflexion über die Entstehung des Ersten Weltkriegs aus und mystifiziert seinen Beginn als »Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit«

    Zwar wird in Besprechungen und literaturgeschichtlichen Referenzen häufig im Zusammenhang mit dem Zauberberg erwähnt, es fänden darin Auseinandersetzungen mit den ideologischen Konflikten der Epoche um den 1. Weltkrieg herum statt. Das trifft – was den Nationalismus und den imperialen Expansionsdrang der beteiligten Staaten angeht – allerdings gar nicht zu. Dafür werden einige andere Probleme der Zeit angesprochen, allerdings erstmals im Kapitel Sieben. In dem geht es ohnehin drunter und drüber. Eine alle in den Bann ziehende Persönlichkeit (Peeperkorn), ein Duell, Spiritismus bis zum Abwinken, zwei Suizide (Peeperkorn und Naphta), ausführliche Auseinandersetzungen mit Musikstücken und schließlich der Krieg, in dessen Schützengräben wir Hans Castorp aus den Augen verlieren.

    Sie werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fechtend, in die Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren sich nicht mehr. Sie liegen, den Rücken vom Tornister gehoben, den Hinterkopf in den Grund gebohrt und greifen krallen mit ihren Händen in die Luft. Aber der Wald sendet neue, die sich hinwerfen und springen und schreiend oder stumm zwischen den Ausgefallenen vorwärts stolpern.

    Woher nimmt der Autor diese anschauliche Beschreibung des Grauens? Immerhin scheint sie die 1914 von ihm eingenommene Haltung zu kontrastieren – »… uns Deutschen konnte nichts Grösseres und Glücklicheres geschehen, als dass die Welt sich gegen uns erhob«.

    Die letzten Seiten des Romans dokumentieren andeutungsweise eine Wandlung des Autors. Nationalismus und Imperialismus, von ihm noch zu Beginn des Krieges freudig akzeptiert, machen einer humanistischeren und distanzierten Sicht Platz. Wo sich allerdings die von manchen Kommentatoren benannte Wandlung zum »Demokraten« finden lassen kann, bleibt deren Geheimnis.

    Es war mein zweiter Versuch, mit einem Abstand von etwa fünfzig Jahren, mich dem Zauberberg anzunähern. Er ist mir ferner denn je.

    Trivia

    Hans Castorp besaß eine Uhr von Glashütte. Vielleicht diese hier:

    Glashütte Taschenuhr
    Glashütte Taschenuhr

    Der Polyhymnia Musiksarg, von dem im siebenten Kapitel so ausführlich die Rede ist (vor allem natürlich von der Musik, die Castorp auf diesem Grammophon abspielt), war Thomas Mann sehr vertraut.

    Polyhymnia Grammophon ca. 1920
    Polyhymnia Grammophon ca. 1920

    Thomas Mann, Der Zauberberg. Seit 1924 viele Ausgaben. Maßgeblich ist die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 5.1, Frankfurt am Main: Fischer, 2002.

    100 Jahre Zauberberg. Neue Rundschau, 135. Jahrgang, 2024, Heft 3.

  • Nicht mein Bioskop

    Nach 350 Seiten habe ich aufgegeben. Ich verstehe, nicht, warum so viele Rezensenten sich »gefesselt« und fasziniert geben von der ausschweifenden Erzählung Clemens Meyers. Mich hat die Mischung von Geschichte und Geschichten nicht gebannt, obwohl ich immer wieder versucht habe, einige der Erzählschichten interessant zu finden – die Partisanenaktionen gegen die deutsche Wehrmacht, die Figur Lex Barkers (mit der Silberplatte im Schädel), die leider immer etwas unklaren Karl »Dr.« May-Anspielungen, die politischen Nachkriegswirren in Jugoslawien usw. Ich wollte regelrecht, dass sich Meyer als ein neuer Pynchon entpuppt. Da half letztlich aber auch die Entdeckung von Anspielungen auf Jünger, Malaparte und andere Autoren nicht. Angesichts meiner Kapitulation vor den letzten zwei Dritteln des Buchs wäre es nicht gerecht, Clemens Meyer dafür verantwortlich zu machen, dass mich der Wust seines zusammenrecherchierten Materials und die daraus gezogene Thematik nicht interessiert hat. Ich ziehe mich mit Bedauern zurück.


    Clemens Meyer: Die Projektoren. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2024.

  • Shades of Terror

    Dieses Buch Dostojewskijs, dessen frühere Übersetzungen meist »Die Dämonen« getitelt waren, las ich jetzt zum ersten Mal. Es ist wider Erwarten eine sehr erheiternde Lektüre.

    Der Text erschien 1871/72 zuerst in Fortsetzungen in einer Zeitschrift. Dostojewskij war zu der Zeit 50 Jahre alt. Er war als Spielsüchtiger hoch verschuldet, litt zudem an Epilepsie, lag in einem ständigen Kampf – vor allem mit sich selbst – um seinen Glauben und allgemein um Religiosität. Dabei versuchte er unentwegt, das »Russische« gegen die westliche Zivilisation und Kultur profilieren. Dennoch ist die Darstellungsweise des Romans über weite Strecken entspannt, distanziert, ironisch. Eine der Hauptfiguren, der seit Jahrzehnten von einer reichen Witwe ausgehaltene gescheiterte Schriftsteller und Dozent Stepan Trofinowitsch Werchowenskij, ist ein emotional und mental instabiler Hypochonder. Der Sohn der Witwe und Mäzenin, Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin ist eine mindestens ebenso unausgeglichene Natur, zwischen Clownerie und Verzweiflung schwankend, extrem liberal auch in seiner Lebensführung, partiell Mitwirkender in revolutionären Zirkeln. Er kämpft um seinen Gottesglauben, übrigens nicht besonders überzeugend – hier kann der selbst an seinem Glauben zweifelnde Autor offenbar nicht über seinen Schatten springen. Die dritte männliche Hauptfigur ist der Sohn Werchowenskijs, Pjotr. Er ist der Organisator einer revolutionären Terrorzelle, die durch Brandstiftung und Mord einen Aufstand der Landbevölkerung initiieren will, ein durchtriebenes, gewalttätiges Chamäleon. Er verursacht schließlich Morde und Selbstmord in den eigenen Reihen; der Kampf gegen »Verräter« hat Vorrang vor den revolutionären Zielen. Dass die revolutionäre Bewegung, der diese Terrorzelle angehört, etwas mit der »Internationale« von Marx und Engels zu tun haben soll, deutet Dostojewskij zwar an, konkretisiert das jedoch nicht und scheint in dieser Hinsicht auch nicht sonderlich beschlagen oder interessiert zu sein. Ich konnte mich bei der Lektüre der Assoziation an deutsche K-Gruppen in den 1970er Jahren nicht erwehren. Das diktatorische Durchsetzen der »richtigen Linie« um jeden Preis, das Dostojewskij schildert, prägte und beschädigte auch deren Mitglieder (auch wenn es wohl nicht bis zum Mord getrieben wurde).

    Drei Frauen stechen im Roman hervor: Die reiche aristokratische und herrschsüchtige Witwe Warwara Petrowna Stawrogina, die sich im ständigen Konflikt mit dem von ihr gepäppelten und auch bewunderten Intellektuellen Werchowenskij befindet, versucht bis zuletzt die Zügel in der Hand und die moralische Ordnung in ihrer Provinzgesellschaft aufrecht zu halten. Lisa, die schöne und kluge Tochter einer Generalswitwe, wird zum Spielball der Lügen und Intrigen, an denen aktiv Stawrogin und der junge Werchowenskij beteiligt sind. Eine von den Müttern erwünschte Heirat mit Stawrogin kann nicht zustande kommen, weil dieser sich vor Jahren bereits aus einer Laune heraus mit einer gehbehinderten und psychisch kranken Frau verheiratet hatte. Darja Pawlowna Schatowa, Tochter eines Leibeigenen und Zögling von Warwara Stawrogina, ist ebenfalls nur eine Spielfigur. Ihre von Stawrogina eingefädelte Ehe mit dem mehr als doppelt so alten Werchowenskij kommt wegen der moralischen Implikationen der Intrigen und Verwicklungen nicht zustande. Eine vierte weibliche Figur kommt erst später ins Spiel, Julija Michajlowna von Lembke, die Gattin des neuen Gouverneurs und eigentliche Fädenzieherin des politisch-gesellschaftlichen Geschehens in der Provinz, die deshalb auch von Pjotr Werchowenski in sein grausames Intrigenspiel eingebaut wird.

    Der Roman ist ein schönes Beispiel für eine inkonsequente Erzählerposition. Hauptsächlich gibt es einen Ich-Erzähler, ein Freund des alten Werchowenski, der bei ihm täglich ein- und ausgeht. Er figuriert intra-diegetisch, greift also selbst hier und da in das erzählte Geschehen ein und gibt den Lesern gelegentlich auch Hinweise auf seine Erzählerrolle, indem er bei manchen Informationen explizit »vorgreift« oder sie in der Erzählordnung »verschiebt«. Es gibt aber auch einen Erzähler in der dritten Person, der in erlebter Rede allwissend darstellt, was der bei dem bestreffenden Geschehen nicht anwesende Chronist nicht miterlebt haben kann. Den Wechsel zwischen intra- und extra-diegetischem Erzähler vollzieht Dostojewskij ganz flüssig und fast unauffällig. Eine Identifikation mit irgendeiner der Romanfiguren ist schlechthin nicht möglich.

    Etwas enttäuschend sind die Schlusspassagen. Die meisten Hauptfiguren werden durch verschiedene Todesarten kurzerhand abgeräumt. Ihr Bleiben wäre angesichts der kriminellen und moralisch unerträglichen Vorfälle schlecht begründbar gewesen. Unerträglich, so deutet Dostojewskij zumindest an, sind ohnehin die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Jahre in Russland. Die Witwe Stawrogina setzt allerdings aufs Überleben, bloß nicht in ihrer Heimat, sie emigriert mit ihrer Pflegetochter in die Schweiz.

    Die Übersetzung von Swetlana Geier verwendet ein modernes Deutsch und ermöglicht – ohne »glatt« zu wirken – das Eintauchen in den Strom des dargestellten Geschehens bei gleichzeitiger Distanz.


    Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Frankfurt am Main: Fischer, 2021.

  • Zwei Perspektiven

    I

    Perspektive Sofie. Sofie macht ein Praktikum im literarischen Lektorat eines Verlages. Nach kurzer Zeit ergibt sich eine enge Verbindung zu Gunnar, dem Programmleiter der Belletristik. Sie gehen jeden Donnerstagnachmittag in ein Lokal und trinken zusammen eine Flasche Wein. Die Beziehung geht nicht über dieses Ritual hinaus, wird jedoch von den Verlagskollegen anders interpretiert. Sofie geht in ihrer Arbeit auf, wird im Lektorat eingestellt und bald verantwortlich für die Reihe Andromeda. Gunnar wird krank, er ist 65 Jahre alt, gibt seinen Posten auf. Für Sofie wird ihre Arbeit unter einer neuen Chefin schwieriger. Sie hat eine Beziehung mit einem Sachbuchkollegen. Gunnar stirbt. Sofie nimmt Kontakt zu dem Programmleiter eines anderen Verlages auf, den sie über Gunnar kennengelernt hatte.

    II

    Perspektive Gunnar. Gunnar erzählt seine ganze Lebensgeschichte. Muttersohn, Philosophiestudent, im Verlag Aufstieg vom Büroboten zum Programmleiter. Am besten, neben seiner jahrzehntelangen erfolgreichen Arbeit, gefielen ihm die Gespräche mit Sofie – die in diesem Teil von ihm als »Du« adressiert wird.

    Nette Unterhaltungslektüre, vor allem für die Praktikantengeneration.


    Therese Bohman: Andromeda. München: Europa Verlag, 2023.