Andrej Kurkow ist der zeitgenössische ukrainische Bestsellerautor. Mehr als zehn Bücher von ihm sind auch auf Deutsch erschienen. Darunter der Roman, dessen Originaltitel übersetzt eigentlich »Guter Todesengel« lautet, der aber nun Petrowitsch heißt, nach dem Chameleon, das die Hauptfigur in der zweiten Hälfte des Romans von Kasachstan bis in die Westukraine begleitet. Die Handlung bedient sich in Andeutungen einiger Elemente von Fantasy-Romanen. Die Hauptfigur Kolja (ein russischer Ukrainer) entdeckt in einem Buch ein zweites, das ihn auf Umwegen zu einem Toten führt, in dessen Grab er Hinweise auf irgendwo in Kasachstan versteckte Tagebücher des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko findet. Er reist auf abenteuerliche Weise dorthin und wieder zurück, ständig begleitet von ethnischen Ressentiments zwischen Russen und Ukrainern. Der Clou der Reise ist der Rücktransport einer Fuhre Sand aus Kasachstan, der auf irgendeine Weise vom Sperma Schewtschenkos imprägniert ist und nach dem Willen des Protagonisten und seiner Begleitung in Sandkästen ukrainischer Kindergärten verstreut werden soll, um dort den Geist des Patriotismus auszustrahlen.
Gelesen habe ich den Roman hauptsächlich, weil Tatjana Hofmann ihn in ihrem Buch über Literarische Ethnografien in der Ukraine als eins der Beispiele für den nationalen Diskurs anführt, der fast unvermeidlich die literarische Produktion ukrainischer Schriftsteller in den letzten 25 Jahren leitet. Was sie meint, ist durchweg erkennbar, ansonsten ist das Buch nur an einigen Stellen erträglich, an denen es etwas seltener Abenteuer-, Krimi- und Spionageklischees bedient und der Humor etwas hintergründiger ist.
Andrej Kurkow: Petrowitsch. Zürich: Diogenes, 2000. Die Titelvignette ist ein Clip aus der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg
Lea Ypi, geboren 1979 in Albanien, lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics. Ihr autobiographischer Roman Free ist auch auf Deutsch erschienen und heißt hier einfach Frei. Die Cola-Dose auf dem Cover ist ein Element ihrer Erzählung: In Tirana wurden in den 1980er Jahren leere Cola-Dosen gehandelt und wie Ikonen auf den Wohnzimmerschrank gestellt. Die von Leas Familie erworbene Dose verschwand eines Tages und tauchte bei den Nachbarn auf, die jedoch einen Diebstahl leugneten.
Das ganze Buch besteht aus einer Unmenge von Anekdoten, jeweils aus der kindlichen und jugendlichen Sicht der Autorin erzählt. Der Strom der Geschichten beginnt Mitte der 1980er Jahre und endet 1997, gefolgt von einem Epilog.
Die Autorin stellte ihr Buch am 15.03.2022 in Frankfurt in einem langen Gespräch mit Steffen Mau vor, das als Video dokumentiert ist:
In dem Video erzählt sie die Geschichte eines Albaners, die im Buch nicht enthalten ist. Es handelt sich um den Sohn einer sowjetrussischen Mutter und eines albanischen Vaters. Diese Konstellation war im antisowjetischen System Enver Hoxhas grundsätzlich verdächtig. Der junge Mann wurde ständig von der Polizei beobachtet, die einen Vorwand suchte, ihn hinter Gitter zu bringen. Sie machte eines Tages eine Wohnungsdurchsuchung und fand eine CD von Joe Cocker. Ob sie ihm gehöre und ob er sie höre, wurde der junge Mann gefragt. Er bejahte, wurde festgenommen und blieb bis zum Zusammenbruch des realstalinistischen Systems zehn Jahre im Gefängnis. Er reist in den Westen und besucht ein Joe-Cocker-Konzert. Dort dringt er bis zu seinem Idol vor, hält ihm seine CD, die er immer noch besitzt, zum Signieren hin und ruft, er sei seinetwegen zehn Jahre im Gefängnis gewesen. Joe Cocker macht sich nicht die Mühe, hinter die Aufregung des Albaners zu dringen, sagt nur: »Wir haben alle mal Drogen genommen« und lässt die Polizei kommen, um den Belästiger abzuführen.
In Albanien fiel 1990 nach dem Tod Enver Hoxhas, der das Land mit seinen 3 Millionen Einwohnern über 45 Jahre unter ein stalinistisches Zwangsregime gestellt hatte, die Mauer in der Weise, dass Hunderttausende über die Adria nach Italien fahren wollten, um den liberalen Westen zu erleben. Die Kontakte mit den Bürgern westlichen Staaten waren dann schnell ernüchternd: »Plötzlich kamst du nicht mehr aus einem gescheiterten Staat, sondern du warst eine gescheiterte Person«.
Die Übergangsphase, die 1991 mit den ersten pluralistischen Wahlen begann – bei der die regierenden Kommunisten noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit errangen – entwickelte sich recht chaotisch. Ein Kulminationspunkt war der manchmal Lotterieaufstand genannte Bürgerkrieg 1997, der durch den Einsatz von 6.000 ausländischen Soldaten aufgrund eines Uno-Mandats beendet wurde. Einige Firmen hatten Pyramidensysteme aufgezogen und Tausenden von naiven Albanern um ihr Erspartes gebracht, und die Regierung hatte nichts gegen die betrügerischen Umtriebe unternommen.
Die Autorin, väterlicherseits Urenkelin des kurzfristigen albanischen Ministerpräsidenten Xhafer Ypi (1922) und mütterlicherseits Enkelin eines muslimischen Gläubigen, der sich 1947 mit dem Ruf Allahu akbar! von einem Hochhaus stürzte, erfuhr diese und viele andere Details ihrer Familiengeschichte erst nach der Befreiung des Landes vom Stalinismus. Nach ihrem Schulabschluss und dem Tod von Großmutter und Vater verließ sie Albanien. So ist es nicht nur der zeitliche, sondern auch der räumliche Abstand, der es ihr ermöglicht, heiter und ohne Bitterkeit ihre Geschichte zu erzählen.
Lea Ypi: Free/Frei. London: Allen Lane, 2021/Berlin: Suhrkamp, 2022
Die Lektüre von Andruchowytschs Essays jetzt zur Zeit des militärischen Angriffs russischer Truppen auf die Ukraine ist lehrreich. Sie wurden um 2000 herum geschrieben und decken die Vielstimmigkeit, aber auch die vielen Konfliktzonen zwischen den ukrainischen Bevölkerungsgruppen und Regionen auf. Von seinen damaligen Zuspitzungen rückt Andruchowytsch heute ab. Umso interessanter wäre es, von ihm und anderen ukrainischen Autoren etwas über mögliche Veränderungen oder Verschiebungen im Lande selbst in den letzten 20 Jahren zu erfahren. Damals jedenfalls, wie dem Essay Desinformationsversuch von 1999 zu entnehmen ist, gab es kein ukrainisches Nationalbewusstsein, außer in Galizien, also im Westen des Landes. Auch die ukrainische Sprache war weder beliebt noch überall verbreitet. Im Westen wurde überwiegend Ukrainisch gesprochen, in den großen Städten, auch in Kiew, und im Osten Russisch, auf dem Lande auch eine Mischsprache, »Surshyk« genannt. Die russische Sprache gewann in den ersten zehn Jahren seit der Unabhängigkeit ohne äußeren Druck sogar an Relevanz. Ein mögliches Referendum über die Spaltung der Ukraine – das entweder im Sinne der »orangen Separatisten« die Westukraine vom Rest des Landes trennt oder die Donbas-Region absprengt – wäre in Andruchowytschs Sinn gewesen. Insgesamt zeichnen seine Texte ein Bild der Desintegration, die nach der Unabhängigkeit 1992 voranschritt.
Eine andere Thematik, die sich durch einige Essays hindurchzieht, ist die Vielfalt sich überlagernder kultureller Traditionen und Mythen, die von der Politik und durch militärische Gewalt nicht aus der kollektiven Erinnerung verdrängt werden konnten.
Wir haben ein Übermaß an Mythologie. Denn in diesem Teil der Welt wird die Geschichte von der Mythologie kompensiert, sind Überlieferungen in der Familie wichtiger und glaubwürdiger als Lehrbücher. Schließlich ist auch die Geschichte selbst hier nicht mehr als eine Variante der Mythologie.
Der Essayband lenkt die Aufmerksamkeit auf die inneren Verhältnisse des ukrainischen Territoriums, nicht auf seine äußeren Grenzen, seine nationale Identität oder seine Staatlichkeit. Diese Perspektive fehlt heute völlig, die Ukraine erscheint in der Berichterstattung als Blackbox.
Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium. Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003
László Krashahorkai hat einen »Gegenwartsroman« geschrieben, der in Deutschland, genauer: in Thüringen, spielt. Sein Protagonist arbeitet als Gebäudereiniger, entfernt Graffiti, und hat sich mit einem VHS-Lehrer angefreundet, der ihm Erkenntnisse über die Quantenmechanik zu vermitteln versucht, mit denen der Protagonist, Herscht, wiederum die Kanzlerin Merkel konfrontieren möchte. Der Chef der Gebäudereinigertruppe ist ein Neonazi, der allerdings die Komponistenfamilie Bach über alles stellt. In einem einzigen Satz, der sich über 400 Seiten hinzieht – dann gibt es tatsächlich einen Punkt – verplaudert der Erzähler windungsreich und detailreich Alltagsereignisse und -aktionen, in denen sich durchaus manche deutsche Verhältnisse spiegeln und wiederfinden lassen. Der Plauderton und die sprunghafte Verknüpfung von Themen und Ereignissen erinnert an Olli Dittrichs Comedy-Figur Dittsche. Die Übersetzung aus dem Ungarischen ist erstaunlich, sie macht sich als solche an keiner Stelle bemerkbar. Das Buch ist am ehesten genießbar und zu bewältigen, wenn man es vorliest oder wie in Zeiten vor dem Buchdruck leise brabbelnd für sich selbst intoniert. Es lebt aus dem Fluss der beschriebenen Details und der kleinräumigen Wendungen. Ich habe nach einem Viertel des Textes aufgegeben, weil ich mich bis dahin nicht für die Figuren und ihre Verknüpfungen zu interessieren vermochte. Dass sich Herscht gegen Ende des Buchs zu einem haltlosen Gewalttäter entwickelt, ist mir egal. Die formale Erzählidee Krasznahorkais ist ziemlich einfach, aber schwierig zu realisieren, und dass er sie über Hunderte von Seiten durchhält, ist ein sportlicher Erfolg. Aber die Idee ist nicht neu, das Buch löst über diese Form der Prosa keine Auseinandersetzung aus, und die Story hat dies – in der Welt der Rezensionen – auch nicht getan.
László Krasnahorkai: Herscht 07769. Frankfurt a. M.: Fischer, 2021
Wo soll man eigentlich anfangen mit der Analyse des postsowjetischen Elends? Das zaristische Russland, die Revolutionen von 1917, der Bolschewismus, die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts und des Zweiten Weltkriegs, das immer noch eiskalte Tauwetter – all das sind mögliche Einstiegssituationen für eine klärende Darstellung. Swetlana Alexijewitsch wählt für ihre umfangreiche Montage vieler Monologe von Einwohnern der ehemaligen UdSSR ein anderes Datum, das immer wieder fokussiert wird. Es handelt sich dabei um den Putsch einiger hoher Partei- und Armeefunktionäre gegen Gorbatschow im August 1991. Er sollte unter anderem den Erhalt der Sowjetunion bewirken, die nach seiner Niederschlagung dann unwiderruflich zerfiel. Am 19. August 1991 war im sowjetischen Fernsehen ununterbrochen eine Ballett-Aufführung von Schwanensee mit der Musik von Tschaikowski zu sehen – ein Detail, an das sich viele Menschen noch Jahre später erinnern. Alexijewitsch sprach zwischen 1991 und 2012 mit vielen Menschen, deren Stimmen in ihrem Buch archiviert sind. Darunter sind Parteiveteranen, die noch auf einen großen Teil der Stalin-Ära zurückblicken konnten, und ganz junge Menschen, die keine eigene Erinnerung an die Sowjetunion haben, sondern in Russland, Belarus, in der Ukraine oder Aserbaidschan aufgewachsen sind. Die 1948 geborene belarusische Autorin, die 2015 den Literaturnobelpreis erhielt, macht in ihren Projekten ihre eigene Stimme nicht geltend, sondern lässt ausschließlich ihre Interviewpartner sprechen.
Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen vor allem bei den älteren Stimmen. Antisowjetische Einstellungen kommen nicht vor, obwohl es immer den Wunsch nach einem besseren, einem guten Leben gab. Dieser Wunsch hatte und hat auch bei den Jüngeren offenbar die Priorität gegenüber der Forderung nach mehr Freiheit und Demokratie. Die Erfahrung des ersten postsowjetischen Jahrzehnts war ernüchternd. Die Realisierung von Freiheit erschien als Rehabilitierung des Kleinbürgertums. Der Kapitalismus, der nun paradoxerweise, entgegen der Abfolge der Gesellschaftsformationen in der marxistischen Lehre, aufgebaut werden sollte, ist ebenso eine Verzerrung der Modellvorstellungen einer funktionierenden Marktwirtschaft wie der überwundene Sozialismus eine Verzerrung der Ideen seiner theoretischen Ahnen war. Die Abkehr von den zuvor gelehrten Ideen ist zunächst mit Erleichterung verbunden: »Niemand sprach mehr von einer Idee, ale redeten von Krediten.« Zudem handelt es sich um einen Kapitalismus aus zweiter Hand, und auch die Ideen der westlichen Demokratie, des unbeschränkten Konsums und der individuellen Freiheit werden in kürzester Zeit verschlissen. Die Perestroika wird nicht als Prozess der Selbstwirksamkeit des Sowjetvolkes erlebt, sondern als Tat eines einzigen Manns, Michail Gorbatschow.
Ich habe 2015 schon einmal versucht, das Buch zu lesen, das mir eine belorusische Studentin empfohlen hatte. Es gelang mir nicht spontan, einen Bezug zu den Biographien und Berichten aufzubauen. Jetzt ist das anders. Das Lektüreerlebnis ist von vielen kleinen Schocks begleitet, es geht oft um konkrete Gewalt an Personen, um Ausgrenzung, Feindseligkeit und Hass (zum Beispiel beim Zusammentreffen von Armeniern und Aserbaidschanern). Gewalt war und ist in den postsowjetischen Ländern viel prominenter auf der Tagesordnung als im friedlichen Westeuropa.
»Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet.«