Kategorie: Rezensionen

  • Inkommensurabel

    Wien, 1. August 1914

    Es geht hier um den gerade erschienenen Ran Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer. Ein ganzes Buch über nur einen Tag, das weckt schon einmal das Interesse; auch daran, wie die Autorin mit der Komplexität der Ereignisse an diesem Tag fertig wird. Die Wahl des Datums steigert die Erwartungen noch einmal.

    Der 31. Juli 1914 in Wien – mit überlappenden Rändern, das Buch umfasst 36 Stunden Handlung – ist der Tag vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In Europa zieht eine ganze Generation fröhlich-nationalistisch aufgeputschter junger Männer in den Krieg, von dessen Horror sie sich vorher keine Vorstellung gemacht haben. Die Hauptfigur des Romans ist ein siebzehnjähriger, durchaus gebildeter Pferdeknecht, der in Wien eine Psychoanalytikerin aufsuchen will. Er lernt in deren Haus zwei junge Leute kennen, einen zynischen Adligen und eine kluge Mathematikerin, die in einer besonderen Beziehung zu der Analytikerin steht. Die Drei verbringen den ganzen Tag und die Nacht bis zum Morgen des 1. August miteinander.

    Viele Themen werden angerissen, in manchen Fällen glaubt man Exzerpte zu lesen, wenn es beispielsweise um Massenpsychologie geht oder um mathematische Theorien. Auch parapsychologische Phänomene spielen, der Zeit entsprechend, eine Rolle. Das könnte alles zusammenpassen, das könnte einen erregt-erregenden Zug durch die Hauptstadt Kakaniens anfeuern, aber – das Gegenteil geschieht. Weder passen die Elemente zusammen noch erzeugen sie bei ihrem Aufeinanderstoßen zündende Einsichten. Auch kein Vergnügen. Statt dessen breitet sich beim Lesen eine gewisse Fadheit aus.

    Leider hatte ich das Buch schon fast durchgelesen, als ich auf diese Rezension von Alexander Solloch stieß. In ihr steht alles Nötige, und ich verzichte hier auf die Ausbreitung weiterer Details meines Lektüreerlebnisses.


    Bild: Weltkriegsrekruten in Wien

    Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta, 2023.

  • Eselshaut

    Der Film Peau d’âne des Nouvelle-Vague-Regisseurs Jacques Demy, der mit Agnès Varda verheiratet war, rückt die Gattung der Esel in kein gutes Licht. Lebend fungiert der Esel für seinen König als Bankier, indem er Goldstücke und Diamanten scheißt. Tot, als Eselshaut, verstärkt er in den Augen der Bevölkerung die (gewollte) Unansehnlichkeit der Prinzessin und ihren üblen Geruch. Es handelt sich um einen Märchenfilm, dessen zentraler Konflikt allerdings der Inzestwunsch eines Königs ist, der keine schönere Frau als Nachfolgerin seiner gestorbenen Frau findet als seine eigene Tochter. Auf Anraten ihrer Patin, einer Fee, lässt sie sich von ihrem Vater mehrere Wünsche erfüllen, deren letzter die Abhäutung des Bankiers ist.

    Die Geschichte entstammt einem von Charles Perrault Ende des 17. Jahrhunderts aufgeschriebenen Märchen und ist in Szenerie, Garderobe und Verhalten der Protagonisten einem Kinderfilm sehr ähnlich. Kleinere Teile des Dialogs werden gesungen, womit Demy an frühere Filme anschließt. Seine bekannteste Produktion ist Les parapluies de Cherbourg (1964), in der alle Dialoge gesungen werden. Hier wie dort spielt Catherine Deneuve die Hauptrolle. Den König mimt Jean Marais. In seinem Reich haben die Dienstboten und die Pferde eine blaue Haut. In einem anderen Königreich, dessen Prinzen die Prinzessin Eselshaut schließlich heiratet, eine rote. Die Musik stammt von Michel Legrand.

    Der Film ist in einer deutsch untertitelten Version bei einigen Streaming-Anbietern zu sehen, zum Beispiel bei Mubi.

  • Der Esel bedeutet immer auch sein Gegenteil

    2023_01_Esel_Deneuve

    Ein Buch für Wissende und Unwissende gleichermaßen. Esel figurieren in der historischen Alltagskommunikation, in literarischen und philosophischen Texten oft als dumm, störrisch und indolent. Ihnen wird absurderweise ihre Langohrigkeit vorgeworfen (Nietzsche betont deshalb das kleine Format seiner eigenen Ohren), zudem ihr passiver Widerstand. Dass Esel in Gefahrensituationen stehenbleiben, ist keine Dummheit, sondern für Tiere, die im Gebirge auf Geröll herumlaufen, lebensrettend. In der Verächtlichmachung von Eseln durch Legenden wie die von Buridans Esel, der unentschieden zwischen zwei Heuhaufen verhungert, steckt offenbar immer eine heimliche Bewunderung der Lebenskraft dieser Tiere. Diese wird in manchen Mythen und Fabeln nicht nur angedeutet, sondern von Lukian bis Shakespeare auch drastisch beschrieben.

    Esel sind keine fehlerhaften Pferde, wie eine ausführliche und kritische Lektüre der Schriften von Buffon bis Darwin ergibt. Buffon erkannte, dass Esel und Pferde getrennte Arten darstellen, weil die aus Kreuzungen hervorgehenden Tiere (in der Regel) nicht fortpflanzungsfähig sind. Da Gott keine Fehler begeht, muss er Esel wohl als eigenständige Art geschaffen haben. Die Nobilitierung dieser Tiere durch Jesus, der auf einer Eselin nach Jerusalem einreitet, spricht zudem für sich. Durch Darwin wird klar, dass sich Esel und Pferd zueinander verhalten wie Menschen und Menschenaffen: sie haben gemeinsame Urahnen.

    Dass Nietzsche sich nicht nur als Antichrist, sondern auch als Antiesel bezeichnet, ist nicht völlig verzeihlich. Die Autorin merkt auch an, dass es ihm besser gestanden hätte, wenn er in Turin einen Esel umarmt hätte statt ein klappriges Pferd.

    Der Esel ist der Bartleby unter den Tieren – das arbeitet Jutta Person sehr gut heraus. Seine Haltung ist nicht einfach passiv, sondern in ihrer Passivität produktiv. Sie macht deutlich, dass dem Esel die Alternative nicht genügt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder einfach weiterzumachen. Der Esel ist ein Zauderer, der gegen eine binäre Entscheidungslogik opponiert und somit auch der Zweckhaftigkeit allen Verhaltens eine Absage erteilt.

    Das Buch kann als Reflexionsgrundlage zu einem Jahresbeginn nur empfohlen werden. Im Anhang finden sich Angaben über die verschiedenen Eselrassen. Überdies ist Esel reich bebildert.

    Franz Kafka: Tagebuch 28.10.1911

    Ich träumte heute von einem windhundartigen Esel, der in seinen Bewegungen sehr zurückhaltend war. Ich beobachtete ihn genau, weil ich mir der Seltenheit der Erscheinung bewußt war, behielt aber nur die Erinnerung daran zurück, daß mir seine schmalen Menschenfüße wegen ihrer Länge und Gleichförmigkeit nicht gefallen wollten. Ich bot ihm frische, dunkelgrüne Zypressenbüschel an, die ich eben von einer alten Züricher Dame (das Ganze spielte sich in Zürich ab) bekommen hatte, er wollte sie nicht, schnupperte nur leicht an ihnen; als ich sie aber dann auf einem Tisch liegen ließ, fraß er mir sie so vollständig auf daß nur ein kaum zu erkennender kastanienähnlicher Kern übrig blieb. Später war die Rede davon, daß dieser Esel noch nie auf Vieren gegangen sei, sondern sich immer menschlich aufrecht halte und seine silbrig glänzende Brust und das Bäuchlein zeige. Das war aber eigentlich nicht richtig.


    Filmstill mit Catherine Deneuve aus dem Film Peau d’âne (1970). R: Jacques Demy.

    Jutta Person: Esel. Fünfte Auflage. Berlin: Matthes & Seitz, 2019

  • Rezensentenelend

    Der Perlentaucher offenbart eine angesichts des Autors und des Sujets leider schon zu erwartende wohlfeile Blindheit der Kritik.

    »Atemlos — mitreißend — hellauf begeistert — überwältigt — glänzend — überzeugt …«, die Rezensionen sind voller positiver Beschreibungen des Buchs und der Erzählweise des Autors.

    Besonders häufig wird die »postmoderne« Technik Sarrs hervorgehoben: Multiperspektivik, »offene« Erzählstränge ohne Weiterführung oder Auflösung, Zeitsprünge, Schachtelung, von expliziten und verdeckten Zitaten usw. Ich kann nicht erkennen, was daran postmodern ist. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet, und vielfach weitaus kunstvoller, verwickelter und vor allem vergnüglicher als bei Sarr. Laurence Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Arno Schmidt, Julio Cortáßzar, Italo Calvino und viele andere sind keine Vertreter der »Postmoderne«.

    Beim zweiten Lesen bzw. Durchblättern von Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen fällt das Bemühte der Form noch mehr auf als beim ersten Lesen. Die Gedankenarbeit, mit der die verschiedenen Erzählstränge beim Lesen immer wieder memoriert und verbunden werden, entfällt, und die Formabsicht in all ihrer Witzlosigkeit liegt viel offener zutage.

    Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Literaturkritik – wie auch schon die französische Preisvergabe (Prix Goncourt 2021) vor allem die Identität des Autors honoriert. Ein junger afrikanischer Autor schreibt (beinahe) auf der Höhe der uns vertrauten Reflexion, das muss unbedingt gelobt werden …

  • Der Index allein genügt …

    Jedenfalls scheint das in manchen Fällen so zu sein. Ein Buch wird aufgeschlagen, das Inhaltsverzeichnis überflogen und dann der Index aufgesucht, um zu ermitteln, ob bestimmte Gegenstände oder Namen im Buch überhaupt oder ausreichend behandelt werden.

    Das gilt jedenfalls für gedruckte Bücher, die als wissenschaftliche Publikationen oder Sachbücher auf den Markt kommen. Bei PDFs sind Sach- und Personenverzeichnisse durchaus immer noch ein Gewinn, da sie die Übersicht über Schwerpunkte der Texte ermöglichen. Weiß man einigermaßen über den Inhalt Bescheid, genügt die Suchfunktion – sofern der Text durchsuchbar ist, markiert und kopiert werden kann. Das Erstellen eines Index ist eine aufwendige Arbeit, auch beim Einsatz von digitalen Hilfsmitteln. Mit der Aufnahme jedes Stichworts und Namens sind Gewichtungsentscheidungen verbunden, die mit den Intentionen der Autoren und mit dem Kontext der jeweiligen Stellen abgeglichen werden (sollten). Häufig findet man kurze und zu flüchtig zusammengestellte Indexe, Indizes oder Indices (der Duden lässt alle drei Pluralformen zu). Genauso übel sind aber auch endlose Verzeichnisse, die lauter belanglose Stellen auflisten. Das Titelbild hier stammt aus einem 1668 erschienenen Buch von James Howell und enthält eine Kapitulationserklärung des Verlegers. Der Autor war schon tot, als das Buch, das einen sehr langen Titel hat, veröffentlicht wurde.

    Dieses und viele andere zum Teil vergnügliche Beispiele enthält das Buch von James Duncan Index, a history of, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist.

    Eine Anekdote daraus belegt, dass ein Buch über Verzeichnisse eine unterhaltsame Lektüre sein kann. Viele Menschen googlen gelegentlich ihren Namen. Vor Google gab es den Index. Was ist ein subtiler Scherz unter Buchfreunden? Dieser hier. Der konservative Autor William S. Buckley war ein guter Bekannter von Norman Mailer, mit dem er sich gelegentlich zoffte. Buckley veröffentlichte 1965 ein Buch über eine New Yorker Bürgermeisterwahl, zu dem ihm Mailer einige Zitate aus ihrem gemeinsamen Briefwechsel verweigert hatte. Seine Antwort ist das »Hi!« neben dem Namen Mailers in dem Buchexemplar, das er Mailer zuschickte. Es ist nicht überliefert, ob und unter welchen Umständen Mailer auf den Eintrag gestoßen ist. Dass er ihn ein wenig beschämt hat, ist jedoch anzunehmen.

    Interessant auch für Buchkundige ist die verwickelte Geschichte der Seitenzahlen, die es zeitweilig schon bei Handschriften gab, und der Bogensignaturen bei gedruckten Büchern. Duncan zeigt, wie sich formale Kennzeichnungen allmählich gegenüber inhaltsorientierten durchsetzten. Auch diese hatten manchmal willkürliche Aspekte, wie die Kapitelaufteilungen der Bücher Homers oder der Bibel, die erst im Laufe der Zeit standardisiert wurden.

    Dennis Duncan hat mit Adam Smyth ein weiteres Buch mit buchgeschichtlichen Anteilen herausgegeben, in dem jedes Kapitel einem bestimmten Teil des Buchs gewidmet ist – vom Vorsatzblatt bis zum Klappentext. Es heißt Book Parts und ist 2019 in der Oxford University Press erschienen.

    Den Index für Duncans Indexbuch hat übrigens Paula Clarke Bain erstellt. Sie ist eine international vernetzte professionelle Indexerin. In Deutschland gibt es zwei miteinander verflochtene Vereinigungen von Indexerstellern, die Fachgruppe Register und Indexing in der Deutschen Gesellschaft für Information und Wissen (DGI) und das Deutsche Netzwerk der Indexer.


    Dennis Duncan: Index, a History of … A Bookish Adventure. London: Allan Lane, 2021. Deutsch: Index, eine Geschichte des. Vom Suchen und Finden. München: Antje Kunstmann Verlag, 2022