Kategorie: Rezensionen

  • Manufactum-Literatur

    Das Buch zu lesen ist eine Qual. Lektorat scheint nicht stattgefunden zu haben. Der Autor schüttet unbehelligt den Abraum ausgiebiger Lektüren vor der Leserschaft aus, ohne Rücksicht auf die Erwartungen zu nehmen, die er mit Buchtitel und Zielbestimmung erweckt. Das Werk ist vage bestimmt von der These, dass »der« Mensch als Verfertiger von Texten (zuvörderst wohl literarischen, aber Schönthaler legt sich in dieser Hinsicht nicht fest) nicht durch Automaten ersetzt werden könne. Nun widerspricht diese These den neuesten Wahrnehmungen der Leistungsfähigkeit von KI-Textgeneratoren. Mit denen können nicht nur Sportberichte, sondern auch Schema-Romane verfasst werden, ohne dass es für das Publikum offensichtlich oder auch nur problematisch wäre, einen automatisiert erzeugten Text zu lesen. Schönthaler erwähnt mehrfach GPT-3, weiß also um diese Möglichkeiten. Es geht ihm jedoch offenkundig um etwas anderes: Er will aus Gründen, die er im ganzen Text (473 Seiten plus 102 Seiten Anhang) nicht klar darlegt, das Subjekt vor imaginierten Anfeindungen durch die Maschine retten. Die Austreibung des »Händischen« (»händisch«: eine furchtbare Vokabel, die oft im Buch vorkommt) aus dem Schreibakt ist ihm ebenso unheimlich wie die Kittlersche Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Kittlers provokante These, dass Programmieren die Zukunft des Schreibens sei, zündet bei Schönthaler eine ähnliche Reaktion wie bei vielen Geisteswissenschaftlern vor vierzig Jahren. Da Schönthaler den Kontext der vielen von ihm dargestellten Positionen nie ausreichend berücksichtigt, kann er weder bei Gertrude Stein noch bei Samuel Beckett noch bei den Vertretern der Konkreten Poesie der 1950er und 1960er Jahren erkennen, dass sie immer auch Antworten auf vorherrschende Glaubensrichtungen und Ideologien waren. In keinem Fall ging es darum, das »Schreiben« als mediale Technik und Ausdrucksform möglichst vollständig an Maschinen zu delegieren und dem Subjekt ebenso vollständig den Garaus zu bereiten. Allerdings wenden sich alle diese Positionen gegen bestimmte Erscheinungsformen der Subjektillusion.

    (mehr …)
  • Inkommensurabel

    Wien, 1. August 1914

    Es geht hier um den gerade erschienenen Ran Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer. Ein ganzes Buch über nur einen Tag, das weckt schon einmal das Interesse; auch daran, wie die Autorin mit der Komplexität der Ereignisse an diesem Tag fertig wird. Die Wahl des Datums steigert die Erwartungen noch einmal.

    Der 31. Juli 1914 in Wien – mit überlappenden Rändern, das Buch umfasst 36 Stunden Handlung – ist der Tag vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In Europa zieht eine ganze Generation fröhlich-nationalistisch aufgeputschter junger Männer in den Krieg, von dessen Horror sie sich vorher keine Vorstellung gemacht haben. Die Hauptfigur des Romans ist ein siebzehnjähriger, durchaus gebildeter Pferdeknecht, der in Wien eine Psychoanalytikerin aufsuchen will. Er lernt in deren Haus zwei junge Leute kennen, einen zynischen Adligen und eine kluge Mathematikerin, die in einer besonderen Beziehung zu der Analytikerin steht. Die Drei verbringen den ganzen Tag und die Nacht bis zum Morgen des 1. August miteinander.

    Viele Themen werden angerissen, in manchen Fällen glaubt man Exzerpte zu lesen, wenn es beispielsweise um Massenpsychologie geht oder um mathematische Theorien. Auch parapsychologische Phänomene spielen, der Zeit entsprechend, eine Rolle. Das könnte alles zusammenpassen, das könnte einen erregt-erregenden Zug durch die Hauptstadt Kakaniens anfeuern, aber – das Gegenteil geschieht. Weder passen die Elemente zusammen noch erzeugen sie bei ihrem Aufeinanderstoßen zündende Einsichten. Auch kein Vergnügen. Statt dessen breitet sich beim Lesen eine gewisse Fadheit aus.

    Leider hatte ich das Buch schon fast durchgelesen, als ich auf diese Rezension von Alexander Solloch stieß. In ihr steht alles Nötige, und ich verzichte hier auf die Ausbreitung weiterer Details meines Lektüreerlebnisses.


    Bild: Weltkriegsrekruten in Wien

    Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta, 2023.

  • Eselshaut

    Der Film Peau d’âne des Nouvelle-Vague-Regisseurs Jacques Demy, der mit Agnès Varda verheiratet war, rückt die Gattung der Esel in kein gutes Licht. Lebend fungiert der Esel für seinen König als Bankier, indem er Goldstücke und Diamanten scheißt. Tot, als Eselshaut, verstärkt er in den Augen der Bevölkerung die (gewollte) Unansehnlichkeit der Prinzessin und ihren üblen Geruch. Es handelt sich um einen Märchenfilm, dessen zentraler Konflikt allerdings der Inzestwunsch eines Königs ist, der keine schönere Frau als Nachfolgerin seiner gestorbenen Frau findet als seine eigene Tochter. Auf Anraten ihrer Patin, einer Fee, lässt sie sich von ihrem Vater mehrere Wünsche erfüllen, deren letzter die Abhäutung des Bankiers ist.

    Die Geschichte entstammt einem von Charles Perrault Ende des 17. Jahrhunderts aufgeschriebenen Märchen und ist in Szenerie, Garderobe und Verhalten der Protagonisten einem Kinderfilm sehr ähnlich. Kleinere Teile des Dialogs werden gesungen, womit Demy an frühere Filme anschließt. Seine bekannteste Produktion ist Les parapluies de Cherbourg (1964), in der alle Dialoge gesungen werden. Hier wie dort spielt Catherine Deneuve die Hauptrolle. Den König mimt Jean Marais. In seinem Reich haben die Dienstboten und die Pferde eine blaue Haut. In einem anderen Königreich, dessen Prinzen die Prinzessin Eselshaut schließlich heiratet, eine rote. Die Musik stammt von Michel Legrand.

    Der Film ist in einer deutsch untertitelten Version bei einigen Streaming-Anbietern zu sehen, zum Beispiel bei Mubi.

  • Der Esel bedeutet immer auch sein Gegenteil

    2023_01_Esel_Deneuve

    Ein Buch für Wissende und Unwissende gleichermaßen. Esel figurieren in der historischen Alltagskommunikation, in literarischen und philosophischen Texten oft als dumm, störrisch und indolent. Ihnen wird absurderweise ihre Langohrigkeit vorgeworfen (Nietzsche betont deshalb das kleine Format seiner eigenen Ohren), zudem ihr passiver Widerstand. Dass Esel in Gefahrensituationen stehenbleiben, ist keine Dummheit, sondern für Tiere, die im Gebirge auf Geröll herumlaufen, lebensrettend. In der Verächtlichmachung von Eseln durch Legenden wie die von Buridans Esel, der unentschieden zwischen zwei Heuhaufen verhungert, steckt offenbar immer eine heimliche Bewunderung der Lebenskraft dieser Tiere. Diese wird in manchen Mythen und Fabeln nicht nur angedeutet, sondern von Lukian bis Shakespeare auch drastisch beschrieben.

    Esel sind keine fehlerhaften Pferde, wie eine ausführliche und kritische Lektüre der Schriften von Buffon bis Darwin ergibt. Buffon erkannte, dass Esel und Pferde getrennte Arten darstellen, weil die aus Kreuzungen hervorgehenden Tiere (in der Regel) nicht fortpflanzungsfähig sind. Da Gott keine Fehler begeht, muss er Esel wohl als eigenständige Art geschaffen haben. Die Nobilitierung dieser Tiere durch Jesus, der auf einer Eselin nach Jerusalem einreitet, spricht zudem für sich. Durch Darwin wird klar, dass sich Esel und Pferd zueinander verhalten wie Menschen und Menschenaffen: sie haben gemeinsame Urahnen.

    Dass Nietzsche sich nicht nur als Antichrist, sondern auch als Antiesel bezeichnet, ist nicht völlig verzeihlich. Die Autorin merkt auch an, dass es ihm besser gestanden hätte, wenn er in Turin einen Esel umarmt hätte statt ein klappriges Pferd.

    Der Esel ist der Bartleby unter den Tieren – das arbeitet Jutta Person sehr gut heraus. Seine Haltung ist nicht einfach passiv, sondern in ihrer Passivität produktiv. Sie macht deutlich, dass dem Esel die Alternative nicht genügt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder einfach weiterzumachen. Der Esel ist ein Zauderer, der gegen eine binäre Entscheidungslogik opponiert und somit auch der Zweckhaftigkeit allen Verhaltens eine Absage erteilt.

    Das Buch kann als Reflexionsgrundlage zu einem Jahresbeginn nur empfohlen werden. Im Anhang finden sich Angaben über die verschiedenen Eselrassen. Überdies ist Esel reich bebildert.

    Franz Kafka: Tagebuch 28.10.1911

    Ich träumte heute von einem windhundartigen Esel, der in seinen Bewegungen sehr zurückhaltend war. Ich beobachtete ihn genau, weil ich mir der Seltenheit der Erscheinung bewußt war, behielt aber nur die Erinnerung daran zurück, daß mir seine schmalen Menschenfüße wegen ihrer Länge und Gleichförmigkeit nicht gefallen wollten. Ich bot ihm frische, dunkelgrüne Zypressenbüschel an, die ich eben von einer alten Züricher Dame (das Ganze spielte sich in Zürich ab) bekommen hatte, er wollte sie nicht, schnupperte nur leicht an ihnen; als ich sie aber dann auf einem Tisch liegen ließ, fraß er mir sie so vollständig auf daß nur ein kaum zu erkennender kastanienähnlicher Kern übrig blieb. Später war die Rede davon, daß dieser Esel noch nie auf Vieren gegangen sei, sondern sich immer menschlich aufrecht halte und seine silbrig glänzende Brust und das Bäuchlein zeige. Das war aber eigentlich nicht richtig.


    Filmstill mit Catherine Deneuve aus dem Film Peau d’âne (1970). R: Jacques Demy.

    Jutta Person: Esel. Fünfte Auflage. Berlin: Matthes & Seitz, 2019

  • Rezensentenelend

    Der Perlentaucher offenbart eine angesichts des Autors und des Sujets leider schon zu erwartende wohlfeile Blindheit der Kritik.

    »Atemlos — mitreißend — hellauf begeistert — überwältigt — glänzend — überzeugt …«, die Rezensionen sind voller positiver Beschreibungen des Buchs und der Erzählweise des Autors.

    Besonders häufig wird die »postmoderne« Technik Sarrs hervorgehoben: Multiperspektivik, »offene« Erzählstränge ohne Weiterführung oder Auflösung, Zeitsprünge, Schachtelung, von expliziten und verdeckten Zitaten usw. Ich kann nicht erkennen, was daran postmodern ist. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet, und vielfach weitaus kunstvoller, verwickelter und vor allem vergnüglicher als bei Sarr. Laurence Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Arno Schmidt, Julio Cortáßzar, Italo Calvino und viele andere sind keine Vertreter der »Postmoderne«.

    Beim zweiten Lesen bzw. Durchblättern von Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen fällt das Bemühte der Form noch mehr auf als beim ersten Lesen. Die Gedankenarbeit, mit der die verschiedenen Erzählstränge beim Lesen immer wieder memoriert und verbunden werden, entfällt, und die Formabsicht in all ihrer Witzlosigkeit liegt viel offener zutage.

    Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Literaturkritik – wie auch schon die französische Preisvergabe (Prix Goncourt 2021) vor allem die Identität des Autors honoriert. Ein junger afrikanischer Autor schreibt (beinahe) auf der Höhe der uns vertrauten Reflexion, das muss unbedingt gelobt werden …