Kategorie: Rezensionen

  • Ein Autor entzieht sich

    … und Inspektor Faye ermittelt.

    »Die Kehrseite des Paradieses ist nicht die Hölle, sondern die Literatur.«

    Das Buch schildert die Suche eines jungen, aus dem Senegal stammenden Schriftstellers, der noch in Paris studiert, nach einem fast unbekannten und doch sagenumwobenen Landsmann, der 1938 einen Roman veröffentlicht hat – »Das Labyrinth des Unmenschlichen«. Dieses Buch erzeugte einen Skandal, der seinen Verlag in den Ruin trieb. Kritiker brachten zwei Vorwürfe vor. Ein Ethnologe schrieb, die Geschichte sei die Nacherzählung des Gründungsmythos des Volkes der »Bassari«. Dieser Vorwurf war allerdings von seinem Kritiker erfunden, und nicht nur das, die Bassari-Ethnie selbst war eine Erfindung des Ethnologen, der immerhin am Collège de France lehrte. Die zweite Kritik hingegen war leicht nachvollziehbar, sie betraf viele Plagiate aus literarischen Quellen. Andererseits gab es positive Stimmen, die den Autor T. C. Elimane beispielsweise als »schwarzen Rimbaud« feierten. Das Verlegerpaar nahm das Buch vom Markt, so dass nur sehr wenige Exemplare übrig blieben. Eins davon wird dem Erzähler Diègane Faye von einer älteren senegalesischen Schriftstellerin überlassen, die sich im weiteren Verlauf als eine Verwandte von Elimane entpuppt. Faye verstärkt nun seine Recherchen, er will alles über das weitere Leben von Elimane wissen, der kurz nach der Veröffentlichung seines Romans verschwand.

    Eine sich durch das Buch ziehende Thematik ist die Assimilation von Afrikanern an eine Kultur, die die eigene mit Füßen tritt. Elimane, seine Cousine Siga und auch der Protagonist Faye stehen für individuelle Karrieren dieses Musters. Elimane, von dem Faye durch Gespräche mit Siga direkt und indirekt viel erfährt, rechtfertigte seine literarische Collage als Plünderung von Kulturgütern, quasi als Rache für das, was ihm als »schwarze Jahrmarktsattraktion« angetan wurde. Seine Assimilation hat dabei spielerische Züge: Die Initialen seines Vornamens T und C verweisen auf die Vornamen seines Verlegerpaars, Therèse und Charles.

    Das Verschwinden ist ein weiteres Thema, denn nicht nur Elimane wird für diejenigen, die ihn in Paris kannten, unsichtbar, ohne eine Spur in irgendwelchen Dokumenten zu hinterlassen, auch sein Verleger Charles Ellenstein verschwindet 1942. Bei ihm kann ein Zugriff der NS-Besatzungsmacht vermutet werden, den das naive Verhalten einer früheren Verlagssekretärin gefördert haben könnte.

    Faye findet heraus, dass alle Kritiker des Elimane-Buchs sich zwischen 1938 und 1940 umgebracht haben, mit zwei Ausnahmen – darunter dem Entdecker der literarischen Plagiate. Von Elimane wird ein Brief aus dem Jahr 1940 gefunden, der eine mysteriöse Todesdrohung enthält: »Das grundlegende Buch ist nur grundlegend, weil es tötet. Wer es töten will, stirbt. Wer es in den Tod begleitet, lebt darin.« Personen, die nach Elimane suchen, scheinen von ihm nicht nur in übertragenem Sinne verfolgt zu werden. Dies gilt auch für eine haitianische Autorin, die – wie sie Siga berichtete, die es wiederum Faye erzählt – 1958 in Buenos Aires mit Elimane bekannt wurde und später nach Europa und Afrika reist, um ihn wiederzufinden. Sie war in Buenos Aires die Geliebte von Witold Gombrowicz und kannte auch Ernesto Sabato – und beide waren mit Elimane befreundet …

    Der Roman ist eine Collage aus Erlebnisberichten des Erzählers, Berichten aus zweiter und dritter Hand, Briefen und einigem anderen Material, darunter auch längeren anverwandelten Zitaten von Bolano, Césaire, Fanon und anderen. Trotz häufiger Sprünge in die Erlebniszeit der jeweiligen Erzähler und Berichterstatter verläuft die Erzählung des Lebens von Elimane im wesentlichen chronologisch. Das Rätsel, wer er war und was ihn, der schließlich erst mit 102 Jahren starb, antrieb, wird nicht zur vollen Zufriedenheit gelöst. Er hinterließ Fragmente eines zweiten Buchs, deren Veröffentlichung sich nicht gelohnt hätte. Wovon er eigentlich von 1938 bis 2017 lebte, bleibt völlig im Dunkeln. Allein der Haß auf seine Kritiker und den für den Tod seines Verlegers Ellenstein verantwortlichen deutschen Offizier wird ihn nicht genährt haben.

    Mohamed Mbougar Sarr hat offenbar sein Konzept mehr Spaß gemacht als dessen Ausführung. Im letzten Viertel des Buchs wird die Montage der Textstücke doch eher zur Masche. Wenn sich endlich Vergangenheit und Gegenwart berühren – der Protagonist hält das von Elimane hinterlassene Manuskript in der Hand und vernichtet es schließlich –, bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Sarr wendet das Repertoire erzählerischer, Spannung und Mystifikation erzeugender Techniken sozusagen katalogmäßig an. Oft gewinnt das Leseerlebnis durch seine vielen Perspektiven nichts, der Text wirkt dann eher umstandskrämerisch. Dass in einigen dieser Perspektiven die koloniale und postkoloniale Problematik (nicht nur) kultureller Spannungen zwischen Afrika und Europa beleuchtet wird, ist allerdings unbedingt ein Gewinn.


    Mohamed Mbougar Sarr: Die geheime Erinnerung der Menschen. Berlin: Hanser, 2022

  • Coming of Age

    Ich habe einmal geschworen, keine Bücher von Fünfundzwanzigjährigen zu lesen. Nun habe ich es doch getan, animiert vom freundlichen Verleger des Verbrecher Verlags, der seine Bücher zusammen mit einigen anderen Kleinverlagen in Erik Spiekermanns Werkstatt in der Potsdamer Straße 98a präsentierte. Alle Verrücktheiten und typischen Gedankensprünge, und auch die gefürchteten Banalitäten des FAZ-Redakteurs (und -Autors) Dietmar Dath steckten in dem Buch. Es ist Daths Erstling und gleichzeitig das erste Buch, das 1995 im Verbrecher Verlag erschien. Dath war damals 25 Jahre alt. Die 2021 erschienene Neuauflage wurde um ein paar Zeilen ergänzt, um das Frühwerk an Folgewerke anzuschließen. Aber ich habe diese Passage nicht gefunden, weil ich nach einem Drittel der 375 Seiten aufgegeben habe. Mich interessiert einfach nicht, was der Ich-Erzähler (und manchmal Er-Erzähler) über seine Pennäler-Zeit und -Freundschaften zu berichten hat. Oder seine Freiburger Studentenzeit. Oder seine popmusikalischen Vorlieben (Dath war auch einmal Chefredakteur von Spex). Die essayistischen Einsprengsel mit dem Bildungsgut, das der junge Dath bis dahin angesammelt hatte, mäandern zwischen Blödelei und intellektualistischem Kraftmeiertum. Genau das ist für mich das generationstypische des Buchs.

    Lieber lese ich ein weiteres Mal das Buch eines Dreißigjährigen. Es enthält auch Zumutungen, ist dabei aber viel konzentrierter. Rolf Dieter Brinkmanns Prosa lenkt nicht durch sprunghafte Themen- und Genrewechsel von der Beobachtung eines Erfahrungsprozesses ab. Musik und Film sind in ihr ebenso präsent wie bei Dietmar Dath. Brinkmann täuscht allerdings keine Verarbeitung und Reflexion vor, wie es Dath ständig mit Floskeln und anderen Textbausteinen tut. Dessen Buch wandert jetzt in die Auslage bei booklooker.de.


    Dietmar Dath: Cordula killt dich! Roman der Auferstehung. Berlin: Verbrecher Verlag, 2021. Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr [1970]. Reinbek: Rowohlt, 2021

  • Arschbacken auseinander

    Der Vater des Erzählers im Buch, Viktor Jerofejew, war Dolmetscher in der Regierung Stalins, auch seine Mutter hatte als Übersetzerin mit Zugang zu ausländischer Literatur eine privilegierte Position. Von der Mutter ist allerdings im Buch wenig die Rede.

    Einige Male kreist der Text um die Schwierigkeiten, die der Erzähler seinen Eltern bereitete, als er 1979 mit Gleichgesinnten eine avantgardistische Literaturzeitschrift gründen wollte. Ansonsten geht es viel um den Vater, auch um dessen Karriere. Die Darstellung ist dabei manchmal von einem versteckt herabsetzenden, ätzenden Humor geprägt, der die Lektüre gerade nicht zu einem heiteren Erlebnis macht. Der Autor hat offenbar eine Vorliebe für drastische Details – »durch Großmutters offenes Fenster flog der abgerissene Kopf der Nachbarin heraus«.

    Das Buch legt keine Erkenntnisse über den Stalinismus frei, die bei der gewählten familiären Perspektive ein wenig zu erwarten waren. Es enthält keine Reflexionen und widmet sich stattdessen sprunghaft Details, in denen historische Splitter enthalten sein mögen, falls sie nicht erfunden sind.

    Der Außenminister Molotow war längere Zeit der unmittelbare Vorgesetzte des Vaters. Molotows Frau Polina Semjonowa Schemtschuschina wurde 1949 verhaftet und bis zu Stalins Tod in die Verbannung geschickt. Als Grund ist im Buch Jerofejews zu lesen, dass sie vorgeschlagen hätte, »den Juden die Krim zu überlassen«. Diese Version hat ein Alleinstellungsmerkmal unter den vielen Erklärungen ihres Falls, in denen allerdings oft die Beziehungen der Jüdin zu internationalen jüdischen Organisationen eine Rolle spielen. Molotows Karriere als Außenminister und rechte Hand Stalins fand mit der Verhaftung seiner Frau auch ihr Ende. Jerofejews beschreibt die Molotow-Gattin so:

    Da trank die Schemtschuschina im dekolletierten Kleid Sekt auf Kreml-Empfängen, duftete nach Parfüm, erinnerte sich, dass sie Nadja Allilujewa [Stalins zweite Frau, die sich Ende 1932 selbst erschoss] als Letzte lebend gesehen hatte, lächelte majestätisch den Volkskünstlern zu, klopfte dem schönen Tscherkassow, der Iwan den Schrecklichen gespielt hat, auf die Schulter, und nun muss sie auf der Lubjanka nackt ihre Arschbacken auseinander schieben und auf Befehl des Gefängnisarztes ihren Anus zeigen.

    Das unterscheidet sich nur durch seine Drastik von in der Tonart eines Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1949:

    Nach Moskau zurückgekehrt, machte Paulina radikal Schluß mit dem proletarischen Puritanismus der russischen Revolutionäre. Die hatten Puder und Lippenstift verpönt, – als kapitalistische und reaktionäre Attribute der bourgeoisen Frau. Ungepflegter Teint und strähniges Haar galten als die äußeren Zeichen der inneren Gnade kommunistischer Weltanschauung. Mit diesen veralteten Ansichten räumte die Schemtschuschina auf.

    Unter ihrer Leitung färbte eine neue kosmetische Industrie Millionen draller Russenmädchen Wangen und Lippen rot, legte ihnen Dauerwellen und umhauchte sie mit Pariser Parfümdüften.

    Bei einem fiktiven Dialog zwischen Ilja Ehrenburg und Wjatscheslaw Molotow, in dem es um das »Durchficken« von Frauen durch die Rote Armee respektive die Faschisten geht, habe ich die Lektüre aufgegeben, auf S. 126 von 409. Das Buch kommt in den nächstgelegenen Bücherschrank in der Parallelstraße.


    Viktor Jerofejew: Der gute Stalin. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin: Matthes & Seitz, 2021

  • Der Knall der Geschichtszeit

    Karl Schlögels Buch ist im Frühjahr 2022 ein Bestseller. Häufig sind anerkennende und bewundernde Sätze zu hören: Schlögel habe schon 2015 all das gesehen und beschrieben, was wir anderen erst heute bemerken und erleben. Es trifft zu, dass Schlögel die generelle Ignoranz gegenüber der Ukraine und die nur oberflächliche Befassung mit den planmäßigen russischen Interventionen schon damals aufgegriffen und gegeißelt hat. Es ist jedoch auch möglich, die Bemerkung umzukehren: Es ist schon verwunderlich, dass Schlögel 2022 in verschiedenen Beiträgen und Interviews nichts anderes sagt als schon 2015, und das oft wortwörtlich. Dabei könnte es sich durchaus lohnen, auch Unterschiede zwischen 2013–15 und heute herauszuarbeiten. Das ist allerdings nicht das Thema hier.

    Einige einleitende Passagen des Buchs sind durchaus schon merkwürdig. Karl Schlögel zwingt seine Leser von Beginn an zur Befassung nicht nur mit den titelgebenden Gegenständen (Ukraine, Lehren aus der Geschichte – diese Erwartung wurde zumindest bei mir erzeugt), sondern auch mit seiner Person. Im Jahr 2015 nutzen annähernd 80% der deutschen Bevölkerung das Internet, und ein 67-jähriger Wissenschaftler und Autor kokettiert damit, er habe »Widerstand gegen das Internet, die jederzeitige Verfügbarkeit« sowie gegen die drohende Infektion mit der »Bildersucht« oder dem Absturz in bloßen »Zeitvertreib«. Aber die veränderten Umstände, nämlich die Annexion der Krim sowie die Unterstützung separatistischer Bestrebungen in der Ost- und Südukraine durch Russland veranlassen ihn zu einem Sinneswandel. Das Internet verwandelt nun auch Schlögels Gelehrtenklause in einen Situation Room, in dem er die Lage an den ukrainischen Fronten verfolgen kann. Also – willkommen im Leben!

    An jeder beliebigen Stelle des Buchs erfahren die Leser vor allem etwas über Karl Schlögel. »In die Beschreibung der Stadtlandschaften fallen die Granaten, die sie zerfetzen«, schreibt er, was ihn nicht davon abgehalten hat, einige dieser Beschreibungen in seinem Buch vorzulegen. Dafür lehnt er 2014 die an ihn für Verdienste auf dem Feld der deutsch-russischen kulturellen Verständigung verliehene Puschkin-Medaille ab – und seitdem in vielen Meinungsbeiträgen auch die Verständigung mit Russland. Bis zur Krim-Annexion bzw. zur Puschkin-Medaille stand Schlögels Verhältnis zu dem Land unter dem Zeichen der »Verzauberung« oder hatte Eigenschaften einer »Verstrickung«. Details dazu benennt er nur spärlich, und alle sind nur interessant für diejenigen, die sich für Karl Schlögel interessieren. Zum Beispiel die Bücherpakete, die er als Schüler und Radionaut von Radio Moskau geschickt bekam. Oder die Erfahrung der Gastfreundschaft einfacher Leute bei Reisen in die Sowjetunion. Das Verschweigen konkreter Bezüge und Begründungen ist ein Charakteristikum der einleitenden Teile, die das erste Viertel des Buchs ausmachen. Schlögel spricht von »Hauptthemen«, ohne welche zu benennen, über »Pseudoerklärungen«, ohne sie aufzuspießen. Viele Themen, von denen nur Überschriften angedeutet werden, lösen sich auf in einen oberflächlichen Erzählstrom.

    Die ideologischen und mythologischen Orientierungen offizieller Vertreter Russlands rücken seit dem Amtsantritt von Putin immer mehr in den Fokus von Kommentatoren. Dabei werden die wuchernden vaterländischen Mythen und im Lichte westeuropäischer Standards ganz fremd gewordene Ruhm- und Ehre-Begriffe oft mit wenig überzeugenden Idealen und Moralbegriffen gekontert. Mythen lassen sich nicht widerlegen, aber vielleicht doch interpretieren und erklären, um ihnen anders als durch die schlichte Konfrontation mit der eigenen, »faktenbasierten« Überzeugung zu begegnen. Mehrfach weist Schlögel auf den Unterschied zwischen »fact und fiction«, »Wahrheit und Lüge« hin, bemüht sich jedoch nicht um die Analyse der Verankerung von »Fakten« in der sozialen Kommunikation der russischen Bevölkerung. Offenkundig entspricht sein Bild der Propagandawirkung der russischen Regierungspolitik und ihrer Medien der Vorstellung der »magic bullets«, die der frühe Behaviorismus entwickelte. Fakt und Fiktion sollen unterschieden werden, sagt Schlögel, um nicht noch einmal den von Julian Benda so benannten »Verrat der Intellektuellen« zu begehen. Dass die Verrats-Formel bei Benda gegen Intellektuelle gerichtet war, die sich im Sturm der Leidenschaft einer politischen Richtung zugesellten, anstatt gegenüber dem politischen und ideologischen Treiben in der Umgebung distanziert zu bleiben, nimmt Schlögel dabei nicht zur Kenntnis – er selbst will ja eigentlich das Gegenteil: die Mobilisierung der Gefühle für die Sache der Ukraine und gegen Russland. (Eine schöne und kurze Rezension des Buchs von Julien Benda schrieb übrigens 1928 Walter Benjamin.)

    Völlig misslungen ist der Versuch, die »Frontier«-These von Frederick Jackson Turner auf die Ukraine zu übertragen. Turners Narrativ – die Verwandlung einer angeblichen Wildnis in Zivilisation einschließlich der Zivilisierung der Siedler (und de facto ein systematischer Landraub und die Dezimierung der Ureinwohner) – findet in der ukrainischen Geschichte keinen Vergleichsanker.

    Dass die russische Aggression ein Katalysator für die Bildung der ukrainischen Nation sei, wird im Buch gesagt und ist auch 2022 eine gängige These. Was unter »Nation« zu verstehen ist, wird im Buch wie auch in der aktuellen Diskussion häufig nicht ausgeführt. Zu beobachten ist allerdings die Ausbreitung nationalistischen Nebels, an der die tägliche Propagandaarbeit des in dieser Hinsicht geübten ukrainischen Präsidenten eine gehörigen Anteil hat. Die Schlögelsche Formel, es geschehe eine »Selbstverständigung der Nation über sich selbst« ist allerdings kategorial problematisch und bleibt somit inhaltsleer. Bestehen Allgemeinbegriffe wie »Nation« oder »Gesellschaft« denn aus miteinander kommunizierenden und deliberierenden Subjekten? Ein weiterer inhaltsleerer Begriff ist »Europa«: Russland will »Europa« destabilisieren, die Ukraine liegt »mitten in Europa«, in der Ukraine steht »Europa« auf dem Spiel.

    Das Buch ist voller Redundanzen und vermittelt in vielen Passagen kaum etwas, das über die Selbstbezogenheit des Autors hinausginge. Die Städte-Kapitel, die den größeren Teil des Buchs ausmachen, sind Kiew, Odessa, Jalta, Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk, Czernowitz und Lemberg gewidmet. Die behandelten Gegenstände und der Ton entsprechen der bildungsbürgerlichen Tradition des Baedeker (den Schlögel auch mehrfach erwähnt). Der Autor ist kein Ethnograph – aber muss er deshalb seine Darstellung im Prinzip menschenleer gestalten? Sie enthält über viele Seiten Aufzählungen »prächtiger« Bauwerke und der Umgebungen, in denen sich bis zur Bolschewisierung der Ukraine ein bürgerlicher Lebensstil entfaltete. Der Unterschied Stadt – Land wird nicht thematisiert. Andere Historiker weisen allerdings permanent darauf hin, dass im wesentlichen die frühere Landbevölkerung als »ukrainisch« bezeichnet werden kann, während die Städte eher polnisch, jüdisch, russisch und in manchen Fällen auch deutsch geprägt waren.

    In den Stadtbeschreibungen werden Erwartungen, dass eine historische Spurensuche etwas über den Alltag der früheren Bewohner und Nutzer der jeweiligen Städte aufdeckt, enttäuscht. Was nicht durch Glanz oder Größe imponiert, wird gleich ausgesondert und nicht behandelt, seien es Stadtviertel in ihrer architektonischen Gestalt oder ihre Bewohner. Es bleibt auch bei der Würdigung der Städte als Handelsplätze oder Verkehrszentren beim Blick von oben, zum Beispiel im Hinblick auf die planmäßige Stadtentwicklung in Kiew im 18. Jahrhundert und das Wachstum der Stadt im Verlauf der Industrialisierung. Beim Durchgang durch die historischen Phasen – Zarismus, Erster Weltkrieg und folgende Wirren, Bolschewisierung, deutsche Besatzung usw. – fällt auf, dass zwar die systematische Eliminierung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer thematisiert wird, nicht aber die teilweise durchaus umfangreichen Pogrome vor der Konsolidierung der Sowjetherrschaft in der Ukraine. Vor allem Kiew war ein Schauplatz solcher Akte. Schlögel erwähnt Pogrome nur ganz punktuell mit wenigen Worten. Beispielsweise Bulgakows Weiße Garde zeigt, wie präsent Judenmorde in der Zeit von 1917 bis 1921 gewesen sein müssen.

    Die Lektüre des Bandes wird immer wieder durch das romantisierende und selbstverliebte Pathos Schlögels erschwert. Im Czernowitz-Kapitel zitiert er anrührende Schtetl-Beschreibungen, an denen sich die Leserschaft des Zeit-Reiseteils sicher delektieren würde. An einer anderen Stelle – im Donezk-Kapitel – gibt der Autor jegliche Selbstdisziplin auf und wechselt auf mehreren Seiten zu gonzofeuilletonischen Beschreibungen über. Ein Satz von vielen: »Die Erwachsenen haben sich schon an den Ton der Alarmsirenen, der sie sonst erschreckt hatte, gewöhnt, und die Kinder können bald nicht mehr schlafen, wenn der Gefechtslärm einmal verstummt.« So könnte es bei Familien im Raum Donezk 2014 gewesen sein – aber weder hat der Autor dort die Situation der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten miterlebt noch nennt er Quellen für diese Szenen.

    Ich habe vor einigen Jahren Schlögels Buch Terror und Traum (erschienen 2008) gelesen, in dem das Moskau des Jahres 1937 den Ausgangspunkt zu Betrachtungen über Politik und Kultur in der damaligen Sowjetunion bildet. Das narrative Geschichtsfeuilleton, das dabei auf 800 Seiten entsteht, war leichtverdaulich, aber hat mich zurückgelassen wie die Lektüre einer kompletten Spiegel-Ausgabe, bei der ich hinterher auch nicht mehr sagen kann, was eigentlich drinsteht. Am deutlichsten in Erinnerung habe ich einen Abschnitt über das Staatsbegräbnis eines Volkskommissars, der Selbstmord begangen hatte. Jedenfalls lebte hier der Historiker seinen Erzähldrang aus, während aus dem Buch Entscheidung in Kiew am ehesten der Privatmensch spricht. Dieser hat einige Reisen in die Ukraine und Russland unternommen und liefert nun seinen Freunden und Bekannten Erlebnisberichte, durchmischt mit Einschätzungen zur Weltlage, speziell zur Situation und möglichen Entwicklung des Konflikts in und um die Ukraine. Die Offenbarung der privaten Position ist mit Risiken verbunden, weshalb ich den Versuch, ganz »aus dem Gefühl« heraus zu schreiben, durchaus achte. Am Ende haben die Leser allerdings das Problem, dass sie über viele Seiten mit »Haltungen« und Meinungen konfrontiert wurden, die sie nur bejahen oder ablehnen können; eine argumentative Auseinandersetzung mit diesen Anteilen des Texts ist kaum möglich. Dass für den Autor die aggressive Vorgehensweise Russlands eine »metaphysische Kränkung« darstellt, wie er schreibt, muss mich wirklich nicht interessieren. Im Gegenteil, ich möchte davon verschont bleiben.

    Doch nun auf einmal: Die Geschichtszeit meldete sich mit einem großen Knall zurück, unterbrach das Kontinuum der Zeit, individuelle Lebenszeit und Geschichtszeit traten mit einem Male schroff und schmerzhaft auseinander. (…) Jedenfalls gab es Grund zu einer Beunruhigung, in der sich etwas zurückgemeldet hatte, was früher einmal als »unheimlich« bezeichnet worden war.

    Die Re-Mystifizierung der Geschichte aus der verlässlichen Quelle moralischer Empfindungen ist etwas, worauf Deutschland offenbar schon allzulange verzichten musste.


    Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. München: Hanser, 2015

  • Schüsse in Kiew

    Russisches Reich um 1900

    Der Krieg/Bürgerkrieg erzeugt bei den handelnden Personen durch das Näherrücken konkreter Kampfhandlungen zwar Aufregung, wird jedoch letztlich gelassen als Gegebenheit akzeptiert. Die Position der Erzählfiguren zu den in der Stadt handelnden Parteien ist eindeutiger als die Positionierung der realen Truppen:

    »– Alles Schweinehunde. Der Hetman wie Petljura. Nur dass Petljura außerdem noch ein Freund von Pogromen ist. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, mir ist langweilig, ich habe schon zu lange keine Bombe mehr geworfen.«

    Bulgakow schreibt – und Alexander Nitzberg übersetzt – lautmalerisch und elliptisch, montiert Dialogfetzen mit Bildfragmenten und inneren Monologen. Sein Roman, der 1924 erschien, bricht ganz und gar mit den Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, Bulgakow ist gewissermaßen ein Anti-Tolstoi. Er konstruiert kein Gesellschaftspanorama, arbeitet auch nicht an der Festigung des Selbstbildes einer der gesellschaftlichen Gruppen. Über die Ukrainizität mancher Stadtbewohner macht er allerdings kritische Bemerkungen. Der Grobianismus, die Rudelhaftigkeit von Versammlungen, die Kriminalität und der radikale Hass auf alles Nicht-Ukrainische tauchen an manchen Stellen als Muster auf. Aus diesem Grund ist das Buch in der Ukraine seit 1991 auch nicht beliebt.

    Ich habe ein Viertel des Buchs zunächst in der früheren Übersetzung von Larissa Robiné gelesen und fand dort, dass zwar die schnellen Sprünge der Montage vorhanden waren, auf der Mikro-Ebene des Textes jedoch, in den einzelnen Sätzen und auch in der Wortwahl eine gewisse Behäbigkeit vorherrscht. Das ist bei Alexander Nitzberg ganz anders. Gerade weil das Buch bei ihm auf allen Ebenen verstörend wirkt, ist diese deutsche Fassung diejenige, die das Buch auch für heutige deutsche Leser zum Ereignis machen kann.


    Michail Bulgakow: Die weiße Garde.

    • Übersetzung von Larissa Robiné und Thomas Reschke. Berlin: Volk und Welt, 1992
    • Übersetzung von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2018