Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Ukraine-Scrapbook (5)

    Weg mit der Russophilie

    Der Artikel von Claus Leggewie FAZ.net zu den russischen Siegesfeiern am 9. Mai 2022 zeigt wieder, dass ehemalige K-Gruppen-Angehörige immer schon gegen »Russophilie« (Leggewie) imprägniert waren. Den ehemaligen Antirevisionisten, zu denen auch Ralf Fücks, Gerd Koenen und Karl Schlögel gehören, nahm Gorbatschow durch sein Versagen kurzfristig das liebste Objekt der Auseinandersetzung. Putin bescherte es ihnen dann unter anderen Vorzeichen (Text der Nationalhymne geändert, Embleme ersetzt) wieder. Etwas bescheidener als in den 1970er Jahren, als sie in ihren verblasenen Phantasien die Lenker der Weltrevolution waren, empfinden sie sich jetzt vermutlich als Staatslenker – nach dem Muster von »wag the dog«. Von damals haben sie den »Kampf zweier Linien« mitgenommen, vulgo Schwarz-Weiß-Denken, womit sie heute die Feuilletons, Talkshows und das Twitterverse aufmischen.

    Bei Claus Leggewie kommt noch eine individuelle Note hinzu. In einem Spiegel-Interview berichtet er 2015:

    Leggewie: (…) Argwohn gegenüber Russland haben Sie in dem rheinisch-katholischen Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, schon mit der Muttermilch aufgesogen. Und dann erleben Sie auch noch, wie diese MSB-Leute Ihren Professor als alten Nazi angreifen, den Historiker Theodor Schieder …

    SPIEGEL: Womit die Spartakus-Leute allerdings recht hatten.

    Leggewie: Sie waren von der Stasi gebrieft worden.

    In seinem aktuellen FAZ-Beitrag findet sich eine merkwürdige und irritierende Nebenbemerkung über den Vater von Gerhard Schröder.

    Am 9. Mai 2005 reagierte Putin, der an diesem Tag von den Opfern seiner eigenen Familie sprach, auf die ›Orange Revolution‹ in der Ukraine. Bundeskanzler Gerhard Schröder, dessen Vater auf dem Rückzug vor der Roten Armee in den Ostkarpaten gefallen war, machte Putin seine Aufwartung. Damals wurde das Tragen des schwarz-orangen Sankt-Georgs-Bandes Pflicht und Mode, das den Stern der Roten Armee ablöste. Der militärische Sieg über die Faschisten wurde damit gewissermaßen gereinigt von der Geschichte des Kommunismus und der bolschewistischen Diktatur.

    Soll das so verstanden werden, dass Schröder, einer von 50 Staats- und Regierungschefs, die 2005 in Moskau anwesend waren, Putin »seine Aufwartung« nicht hätte machen sollen, weil die Rote Armee eines bolschewistischen Diktators seinen Vater getötet hat?

    Auch der 2011 gestorbene Horst-Eberhard Richter muss sich vorwerfen lassen, aus der Ermordung seiner Eltern nicht die richtigen Konsequenzen gezogen zu haben. Stattdessen förderte er in Leggewies Sicht offenbar die deutsche »Russophilie«:

    Die in der deutschen Gesellschaft und Politik verbreitete Friedensliebe brachte das sich nach 1945 ausbreitende Schuld- und Verantwortungsgefühl zum Ausdruck, das nachfolgende Generationen angenommen und noch gesteigert haben – bis zur völligen Ausblendung des Charakters der Sowjetdiktatur und der neoimperialen Bestrebungen des postsowjetischen Russland. Exemplarisch dafür wa­ren Einlassungen des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter, eines der wichtigsten Sprecher der deutschen Friedensbewegung: Dessen ganze politische und berufliche Mission beruhte auf dem Streben nach Verarbeitung seiner Erlebnisse als junger Soldat ab 1942 an der Ostfront, der er sogar die Ermordung seiner Eltern durch sowjetische Soldaten 1945 unterordnen konnte (…)

    Diese kompensatorische Russophilie paarte sich in den Achtzigerjahren in falsch verstandenem Anti-Antikommunismus mit einem haltlosen Antiamerikanismus.

    Die Unterstellung, Richter ordne die Ermordung seiner Eltern der Verarbeitung der eigenen Kriegserfahrung unter, ist unzutreffend. Horst-Eberhard Richters Leistung auch bei seiner Selbstdarstellung besteht darin, Unentscheidbares offenzulegen und offenzulassen. Eine Passage aus der Einleitung seines Buchs Der Gotteskomplex von 1979 belegt das:

    Hat Leggewie vielleicht selbst ein ungelöstes Vaterproblem? Über seinen Vater Otto Leggewie, Gymnasiallehrer, später hoher Ministerialbeamter in NRW, sagt er in dem zitierten Spiegel-Interview, der habe ihn zeitlebens belogen, indem er seinen aus opportunistischen Gründen 1937 vollzogenen NSDAP-Eintritt (er wollte Studienrat werden) immer verschwiegen habe. Welche Fragen sich ihm dazu, nach dem Tod des Vaters, gestellt haben, berichtet er nicht.

    Immerhin ist der Import des Begriffs »Multi Kulti« aus dem amerikanischen Sprachgebrauch ein bleibendes Verdienst Claus Leggewies. Im Unterschied zur »Russophilie« hat er nicht den Status eines unbehandelten Symptoms. Erstaunlich eigentlich.

    Leggewie: (…) Ich finde es großartig, wie wir inzwischen in der Regel mit den Flüchtlingen umgehen. Deswegen stehe ich zu Multi Kulti – und zu 68.

    SPIEGEL: Herr Leggewie, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


    Das Titelbild zeigt Horst-Eberhard Richter auf einer Veranstaltung der IPPNW – Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung. Das Foto vom Grab des unbekannten Soldaten in Moskau mit Schröder, Putin und Bush stammt von einer Website des Kreml und ist in der US-Wikipedia zu finden.

  • Schüsse in Kiew

    Russisches Reich um 1900

    Der Krieg/Bürgerkrieg erzeugt bei den handelnden Personen durch das Näherrücken konkreter Kampfhandlungen zwar Aufregung, wird jedoch letztlich gelassen als Gegebenheit akzeptiert. Die Position der Erzählfiguren zu den in der Stadt handelnden Parteien ist eindeutiger als die Positionierung der realen Truppen:

    »– Alles Schweinehunde. Der Hetman wie Petljura. Nur dass Petljura außerdem noch ein Freund von Pogromen ist. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, mir ist langweilig, ich habe schon zu lange keine Bombe mehr geworfen.«

    Bulgakow schreibt – und Alexander Nitzberg übersetzt – lautmalerisch und elliptisch, montiert Dialogfetzen mit Bildfragmenten und inneren Monologen. Sein Roman, der 1924 erschien, bricht ganz und gar mit den Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, Bulgakow ist gewissermaßen ein Anti-Tolstoi. Er konstruiert kein Gesellschaftspanorama, arbeitet auch nicht an der Festigung des Selbstbildes einer der gesellschaftlichen Gruppen. Über die Ukrainizität mancher Stadtbewohner macht er allerdings kritische Bemerkungen. Der Grobianismus, die Rudelhaftigkeit von Versammlungen, die Kriminalität und der radikale Hass auf alles Nicht-Ukrainische tauchen an manchen Stellen als Muster auf. Aus diesem Grund ist das Buch in der Ukraine seit 1991 auch nicht beliebt.

    Ich habe ein Viertel des Buchs zunächst in der früheren Übersetzung von Larissa Robiné gelesen und fand dort, dass zwar die schnellen Sprünge der Montage vorhanden waren, auf der Mikro-Ebene des Textes jedoch, in den einzelnen Sätzen und auch in der Wortwahl eine gewisse Behäbigkeit vorherrscht. Das ist bei Alexander Nitzberg ganz anders. Gerade weil das Buch bei ihm auf allen Ebenen verstörend wirkt, ist diese deutsche Fassung diejenige, die das Buch auch für heutige deutsche Leser zum Ereignis machen kann.


    Michail Bulgakow: Die weiße Garde.

    • Übersetzung von Larissa Robiné und Thomas Reschke. Berlin: Volk und Welt, 1992
    • Übersetzung von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2018
  • Schüsse in der Ukraine

    Gaito Gasdanow war ein 1903 geborener russischer Schriftsteller, der zum Teil in der Ukraine aufwuchs und als 16-Jähriger in der Weißen Armee auf ukrainischem Gebiet gegen die bolschewistischen Truppen kämpfte. Nach der Niederlage der Weißen gelang ihm die Emigration. Er lebte dann überwiegend in Paris.

    Der kurze Roman Das Phantom des Alexander Wolf erschien 1948 und ist eine filmreife Geschichte, in der sich der Erzähler und sein Kontrahent zweimal begegnen. Das erste Mal schießen sie im Bürgerkrieg aufeinander, wobei Wolf (fast) ums Leben kommt. Das zweite Mal treffen sie sich in Paris, der Erzähler arbeitet dort als Journalist. Wolf hatte einen Roman über die Begebenheit in »Südrussland« geschrieben, an der er und der Erzähler beteiligt waren. Nun lebt der Erzähler mit der Frau zusammen, die vorher mit Wolf in London verbunden war. Am Ende kommt es wieder zu Schüssen, an denen Wolf nunmehr stirbt.

    Der Text ist nicht sonderlich kunstvoll aufgebaut, aber hält eine gewisse Spannung durch die mehrfach verzögerte Offenbarung der Identitäten der beiden Kontrahenten aufrecht. Ein Hauch von Agatha Christie ist vorhanden, gepaart mit einer robusten Zuwendung zu den Tatsachen des Lebens, einschließlich einiger Blicke auf das Leben von Emigranten in Paris.


    Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf. München: Hanser, 2012

  • Ukraine-Scrapbook (4)

    Innerstaatliche Feinderklärung

    Nur wer den Krieg befürwortet, ist geistig gesund. Darauf laufen inzwischen die sich zuspitzenden Kommentare an Social-Media-Stammtischen wie Twitter hinaus. Die Gegenposition, wie sie in einem Offenen Brief in der Emma vertreten wird, ist offenbar schwer zu vermitteln. Verlangt wird keine Kapitulation, sondern ein Waffenstillstand, in den sich die Kriegsparteien einfinden sollten. Dass dieser ein »Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können« sein müsste, wird von der bellizistischen Seite nicht akzeptiert, erst recht nicht der Hinweis, dass bei Fortführung des Krieges das Maß des menschlichen Leids und der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in ein Missverhältnis geraten können. Häufig ist die Antwort zu lesen, die Ukraine müsse selbst entscheiden, ob sie weiterkämpfen will. Die bellizistische Position wirft drei Probleme auf:

    1. Sie scheint auszuschließen, dass zwischen der Ukraine und ihren Unterstützern eine Beratschlagung über den besten Kurs zur Beendigung des Krieges stattfinden könnte. Der Ukraine soll gegeben werden, was sie verlangt, wird vielfach gesagt.
    2. Sie scheint darauf zu bestehen, dass auch »die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ›Kosten‹ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle« – wie es im Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz formuliert ist. Wer im Interesse der unkrainischen Bevölkerung darauf Einfluss nehmen möchte, wird des Paternalismus und Kolonialismus geziehen.
    3. Sie scheint mit der Annahme verbunden zu sein, dass Russland auch und gerade nach einer vertraglichen Niederlegung der Waffen die ukrainische Bevölkerung auf bestialische Weise vernichten wolle.

    Ein Waffenstillstand macht keine der beiden Seiten wehrlos, sondern errichtet ein Regelwerk, dessen Einhaltung unter Umständen von einer dritten Partei kontrolliert wird. Mit einer Kapitulation und einer damit verbundenen Entwaffnung ist er in keiner Weise gleichzusetzen. Das geschieht jedoch in den Feuilletons, und daher werden die zur Zeit veröffentlichten Texte immer unangenehmer. Ihre Autoren sind gewöhnlich zu Differenzierungen imstande, doch jetzt nicht mehr. Das möchte ich allerdings nicht pathologisieren, und als Empathie-Effekt habe ich das schon in den Scrapbook-Teilen 2 und 3 beschrieben.

    Die verbale Aufrüstung geht allerdings weiter. Vinzenz Hediger beispielsweise operiert auf Twitter mit Formeln wie »Manifest neokolonialer Niedertracht« (gemünzt auf den oben zitierten Brief), »krimineller Zynismus des paternalistischen deutschen Kapitulationskitschs« und beschuldigt Alexander Kluge, »der Gerhard Schröder des deutschen Films und Kulturfernsehens« zu sein.

    Die Spaltung der Gesellschaft in Kriegsunterstützer und Kriegsgegner schlägt sich auch auf der Witz-Ebene nieder. Zum Beispiel findet es Ralf Fücks offenbar witzig, die Friedensbewegung hier desavouiert zu sehen:

    Robert Habeck in einem Fernsehinterview: »Wir sind gegenüber der Ukraine im Minus gestartet.« Damit spielt er einerseits auf die deutsche Okkupation des ukrainischen Territoriums und die damit verbundenen systematischen Grausamkeiten im 1. und besonders im 2. Weltkrieg an, andererseits auch auf die Defizite der Lagebeurteilung durch die deutschen Regierungen seit 2014. Die Konsequenz daraus ist dennoch nicht unbedingt zwingend, wenn sie nämlich darauf hinausläuft, dass sich Deutschland im Hinblick auf die Lagebeurteilung und den einzuschlagenden Kurs den Maßstäben der Ukraine unterwirft und auf die Entwicklung eigener verzichtet.

    Antirevisionisten, die zweite

    Ralf Fücks, Gerd Koenen, Karl Schlögel und andere antirevisionistische Kämpen aus der K-Gruppen-Zeit hatten in den 1970er Jahren keine Chance, den deutschen Staatsapparat in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Jetzt, im Abendsonnenschein ihres Lebens, haben sie einen zweiten Anlauf unternommen und die Diskursmacht beinahe erobert. Aus ihrem Offenen Brief vom 04.05.2022:

    Wenn Putins bewaffneter Revisionismus in der Ukraine Erfolg hat, wächst die Gefahr, dass der nächste Krieg auf dem Territorium der Nato stattfindet. Und wenn eine Atommacht damit durchkommt, ein Land anzugreifen, das seine Atomwaffen gegen internationale Sicherheitsgarantien abgegeben hat, ist das ein schwerer Schlag gegen die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.

    Ein Schelm könnte hier übrigens noch anmerken, dass der zweite Satz so kraus formuliert ist, dass ihm eine Sympathie für die Weiterverbreitung von Atomwaffen unterstellt werden kann.

    Die militärische Lage

    Ausführungen von Militärs und Militärforschern zur Lage und den Aussichten der Ukraine haben meist einen erheblich weiteren Blick und berücksichtigen erheblich größere Komplexität als die anderer Fakultäten. Sehr merkwürdig kriegslüstern klingen vor allem einige Historiker.

    Karl Schlögel in der NZZ vom 25.04.2022 zieht eine Linie von literarischen Denkmälern früherer Belagerungs- und Kesselschlachten (Leningrad, Warschau, Königsberg, Stalingrad) zu Mariupol: »Asowstal ist in diesen Tagen die Festung, in der nicht nur Mariupol, nicht nur die Ukraine verteidigt wird, sondern Europa, das die Kraft nicht aufbringt, der Stadt zu Hilfe zu eilen.«

    Daniel Marc Segesser, Schweizer Militärhistoriker, versucht in einem Interview eine Einordnung der aktuellen russischen Kriegsverbrechen. Es erscheint in einem von Gundula Gahlen zusammengestellten militärgeschichtlichen Miniportal zur Ukraine. Segesser:

    Für diejenige Seite, die angegriffen wird, und die, wie im Fall der Ukraine, nicht über das gleiche militärische Potential verfügt wie der Angreifer, sind Bilder von Gräueltaten auch ein wichtiges Instrument zur Rechtfertigung des eigenen Ausharrens und zur Mobilisierung eigener wie fremder Ressourcen, denn Bilder vermögen uns viel stärker emotional zu berühren als Texte. Wie Gerhard Paul kürzlich sagte, sollten wir deshalb nicht glauben, dass uns die Bilder aus dem Kriegsgebiet ein umfassendes Bild der Lage zu vermitteln vermögen. Sie nehmen vielmehr immer eine bestimmte Perspektive ein. Deutlich wird daraus aber auch, dass Krieg ein brutales Handwerk ist, auf das Menschen in verantwortlichen Positionen – ob zivil oder militärisch – wenn immer möglich verzichten sollten. Der Krieg an sich ist eine Gräueltat und damit das eigentliche Verbrechen.

    Die Poesie des Atomkriegs

    aus DER SPIEGEL 45/1954:

    Daran beginnt Linus Reichlin möglicherweise auch zu denken. Ob sein Sohn wohl imstande ist, Beduinen-Instinkte zu entwickeln?



  • Nationalistischer Folklorekitsch

    Die post-jugoslawischen Staatengebilde haben ihrer Bevölkerung durchaus andere Probleme bereitet als die post-sowjetischen. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde 1945 gegründet, aber schon 1948 vollzog der frühere Partisanenführer, dann Parteivorsitzende, Regierungschef und Staatspräsident Tito die Loslösung aus der Ideologie und der administrativen Praxis des stalinistischen sozialistischen Systems. Der jugoslawische Sozialismus war in seinem ersten Jahrzehnt noch aggressiv gegen tatsächliche und vermeintliche NS-Kollaborateure, dann aber weitaus »liberaler«, mit einer »sozialistischen Marktwirtschaft« im Inneren und einer nach außen verkündeten Blockfreiheit. Die Regierung gelang es vier Jahrzehnte lang, die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Differenzen in der jugoslawischen Föderation zu verwischen. Literatur, Kunst und Wissenschaft genossen weitaus größere Freiheiten als in den Warschauer-Pakt-Staaten, es gab keine Reisebeschränkungen für die Bürger.

    In der Praxis hieß das für den jugoslawischen Schriftsteller, die lateinisch und kyrillisch geschriebenen Literaturen der jugoslawischen Völker zu kennen, in Zagreb zu leben, in Belgrad verlegt, in Ljubljana, Sarajevo, Skopje und Priština gelesen zu werden. Es bedeutete, ungehindert verschiedene Kulturen zu leben und sie als die eigenen zu erleben. (S. 58)

    Als Tito 1980 starb, traten wirtschaftliche Krisenerscheinungen an die Oberfläche, und mit ihnen zerbröselte auch der innere Zusammenhalt des Landes. Durch den Zerfall des Sowjetblocks wurde die sich immer auf auf diesen Block beziehende Sonderrolle Jugoslawiens hinfällig, neben der Blockfreiheit auch sozialistische »Errungenschaften« wie die Arbeiterselbstverwaltung. Anstelle der vom Personenkults um Tito gestützten Einheitspartei eroberten nun nationalistische Gruppierungen in den Teilrepubliken die Macht, erzwangen Abgrenzungen, Umsiedlungen, ethnische Säuberungen und zettelten schließlich Kriege gegeneinander und innerhalb ihrer Gebiete an.

    Es darf daher nicht wundern, dass der Umbruch ab 1990 in Jugoslawien nicht als Befreiung, sondern als Absturz in den Atavismus beschrieben werden kann. Und an dieser Stelle entstehen die Probleme, die Dubravka Ugrešič in ihrer 1994 zusammengestellten Essay-Sammlung aufgreift. Die Texte wurden auf Kroatisch geschrieben, das Buch erschien jedoch nicht in Kroatien. Die Autorin musste aufgrund vieler Anfeindungen das Land verlassen und lebt hauptsächlich in Amsterdam. Der Grund ihres Gangs in das Exil findet sich in einer Anekdote, die sie im Buch und auch bei anderer Gelegenheit erzählt. In Zagreber Läden tauchten plötzlich Dosen im Stil von Cola-Dosen auf, deren Inhalt »Saubere Kroatische Luft« war. Für Ugrešič war das ein Symbol für ethnische Reinheit, deren Herstellung mit aller Brutalität auch betrieben wurde. Die Räumung und Sprengung von Wohnhäusern, pogromartige Aktionen und Diskriminierungen, die Wiedererweckung nationaler Symbolfiguren, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs antisemitische Säuberungen verordnet haben, die Vernichtung von Büchern der anderen Volksgruppen, all das konnte offenbar öffentlich nicht mehr kritisiert werden.

    Die »Demokratisierung« der jugoslawischen Republiken brachte nicht mehr Freiheit und nicht mehr Wohlstand. Die Länder wurden ärmer und die Menschen unglücklicher.

    Anstelle wirklicher Demokratie haben sie (die einen als Verteidiger, die anderen als Angreifer) kleine, totalitäre Gemeinwesen errichtet. Sie haben den Bürger zur gehorsamen Nummer gemacht; statt freier Medien gibt es deren strenge Kontrolle; … statt einer freien Rechtsprechung gibt es eine reglementierte; statt zu demilitarisieren, wird eine angeblich notwendige Militarisierung betrieben. (S. 66)

    Begleitet wurden diese Veränderungen von symbolischen Aktionen, die Ugrešič als nationalistischen Kitsch bezeichnet. Diese Aktionen beförderten die Transformation vom Fiktiven ins Reale, in eine mythische Zeit, in der die Trennung zwischen existenter und nicht-existenter Welt aufgehoben ist. Ein Faktor dabei ist der »Terror des Erinnerns«, die künstliche Erzeugung nationaler Identitäten und ihrer Wurzeln. Ein anderer Faktor ist der Krieg.

    Das Buch motiviert dazu, die Geschichte(n) der unterschiedlichen Entwicklungen ost- und südosteuropäischer Länder noch einmal genauer nachzuverfolgen. Die Nennung von Städtenamen wie Sarajevo und Srebenica ruft einige Bilder auf, die seit den 1990er Jahren zu passenden Anlässen immer verbreitet werden. Zusammenhänge werden mit solchen Medienbildern nicht erklärt, die Bilder geraten stattdessen in einen mythischen Raum und werden für beliebige Darstellungen einsetzbar. Davor bewahrt Dubravka Ugrešič die Leser, zumindest für die Geschichte des Zerfalls der jugoslawischen Einheit.


    Zwei Interviews und ein Vortrag von Dubravka Ugrešič finden sich bei Youtube.


    Dubravka Ugrešič: Die Kultur der Lüge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995