Der permanente Blutrausch in öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen ist durchaus ein Ärgernis. Morde und deren Aufklärung emotionalisieren, »optimieren« die Reichweite, sind purer Populismus und belegen somit eine Programmstrategie, die absolut nicht dem gesetzlichen Auftrag dieser Sender entspricht.
Aber man kann diese Videos auch anders sehen. Die amerikanische Autorin Jenny Offill mag europäische Krimiserien:
Ich finde es unendlich interessant, mir das Innere der Wohnungen und Arbeitsplätze von Menschen in anderen Ländern anzuschauen. Von mir aus könnte man den Teil mit den Morden weglassen und mir stattdessen Menschen zeigen, die frühstücken und Lebensmittel einkaufen, und ich fände das genauso interessant.
Das ist der Schlüssel für das gelegentliche Vergnügen, das mir die Serie Barnaby bereitet, in der stilvoll eingerichtete englische Landhäuser für mich die Hauptrolle spielen.
Rolf war mein Freund seit 1969, als er in die Bockenheimer Landstraße 111 einzog. Wir schrieben gemeinsam Referate (Germanistik) und Stellungnahmen gegen die Anmaßung studentischer »Arbeiterpolitik«. Dreißig Jahre später tingelten wir mit Konzepten für historische TV-Dokumentationen und Kulturzeitschriften durch die Förderlandschaften Berlins und Sachsen-Anhalts. Dazwischen und danach trafen wir uns bei Rotwein und Zigaretten, zunehmend nur noch seinen. Er rauchte, was das Zeug hielt. Es hielt nur bis jetzt.
An Helmut Heißenbüttels literatur- und musikkritischen Texten habe ich immer bewundert, dass er sich um die Herausarbeitung von positiven Aspekten der von ihm besprochenen Werke bemühte. So wurde 1984 Paul Wührs Das falsche Buch, das bei der Kritik auf Unverständnis stieß, zum »richtigen« Buch, weil in ihm eine »Summe« von Schreib- und Lebenserfahrungen steckte. Und Hubert Fichtes ethnographisch-autobiographische Texte, die bei Erscheinen oft sehr distanziert zur Kenntnis genommen wurden (»Realismus als l’art pour l’art« – Reinhard Baumgart), bevor Fichte posthum eine Karriere als »homosexueller Popliterat« machte, waren für Heißenbüttel vor allem als beispielhafte »Selbstentblößung« interessant.
Vor der Lektüre von Michael Seemanns Buch Die Macht der Plattformen habe ich mir fest vorgenommen, den H-Punkt (Heißenbüttel-Punkt) in ihm zu finden. Das ist mir von Anfang an sehr schwergefallen. Das Buch distanziert zunächst durch sein potthässliches Cover. Die 1927 von Paul Renner entworfene Futura weist nicht gerade darauf hin, dass brennend aktuelle Probleme des 21. Jahrhunderts behandelt werden. Ich habe einen Schreck bekommen, als ich las, dass der Autor dem Graphiker für dessen »wunderbare« Gestaltung dankt. Nun gut, jedenfalls legen die in Andeutung übereinander gestapelten dreidimensionalen Rechtecke auch hinter dem Autorennamen die Frage nahe, auf welchen Erkenntnissen anderer Seemann aufsetzt. Da das Buch auf einer Dissertation basiert, gibt es reichhaltige Quellennachweise, denen es sich nachzugehen lohnt.
Die Plattform-Metapher ist eine der verludertsten im neuländischen Sprachgebrauch. Sogenannte Handelsplattformen, auf denen sich Käufer und Verkäufer treffen, sind begrifflich noch hinnehmbar. Eigentlich sind es Marktplätze, aber auch der Marktbegriff mit seinen metaphorischen Wucherungen ist problematisch. Dennoch wäre der Ausdruck virtueller Marktplatz teilweise durchaus treffend, weil er das Geschehen auf den Plattformen konkreter adressiert als die Plattform. Produktionsplattformen für Kraftfahrzeuge – also die gemeinsame technische Basis für Fahrzeuge von Volkswagen, Audi, Seat, Skoda und andere – erhalten zunehmend andere Bezeichnungen, bei VW ist die frühere Plattform jetzt ein »Modularer Querbaukasten«. Seemann unternimmt weitreichende definitorische Bemühungen, aber kommt letztlich zu keinem klaren Schluss, was er als Plattform bezeichnen bzw. nicht bezeichnen möchte. Zudem fehlen Begründungen dafür, warum die ins Auge gefassten SNS (Social Network Sites), Angebots- und Handelsportale etc. überhaupt als Plattformen bezeichnet werden sollten oder sogar müssen.
Der Titel des Buchs ist ohnehin irreführend. Seemann geht es gar nicht um die Macht von Plattformen, sondern um die Macht der Unternehmen, die diese auf der einen Seite ertragreichen, auf der anderen Seite populären Gebilde gegründet haben und betreiben. Nicht der Spielsalon hat »Macht« und zieht Profit aus dem Verhalten der Spielsüchtigen, sondern dessen Betreiber. Der Plattformbegriff lenkt die Aufmerksamkeit eher auf das Geschehen zwischen Nutzern und nicht auf die Organisation des Betriebs. Insofern ist er in meinen Augen recht eigentlich überflüssig und sollte weitgehend abgeräumt werden.
Die Geschichte von Napster, einem damals manchmal als Tauschbörse bezeichneten Portal, das Zugang zu den Musik-Bibliotheken aller angeschlossenen Teilnehmer gewährte, zieht sich episodisch durch das Buch hindurch. Das könnte so gemeint sein, dass Napster eine Muster-Plattform bzw. ein Plattform-Muster darstellte: Ein Peer-to-Peer-Netzwerk, das einem klar definierbaren Zweck dient. Napsters Betreiber waren allerdings nicht imstande, die technischen, rechtlichen und ökonomischen Probleme zu lösen, die mit ihrer schnell wachsenden Einrichtung verbunden waren. Insofern bleibt das Beispiel bei Seemann in der Luft hängen.
Der Anspruch Seemanns, eine »trans«disziplinäre Plattformtheorie zu entwickeln, endet, um es ganz hart zu sagen, in einem multidisziplinären Feuilleton. Schon der durch nichts begründete und höchstens einmal durch ein Luhmann-Zitat versuchsweise legitimierte Anspruch, eine allgemeine Plattformtheorie müsse zu allen vorhandenen und denkbaren Plattformen passen, sollte eine immer wieder patchworkartig und anekdotisch vorangetriebene Darstellung von allem möglichen Plattformartigen ausschließen. Daraus besteht das Buch jedoch über weite Strecken.
An der Beschreibung des Geschehens auf den Plattformen ist – außer an der Begrifflichkeit – nicht viel auszusetzen. Plattformen ermöglichen und vereinfachen und formen »Interaktionsselektionen«. Das ist keine unerwartete Kennzeichnung, würde aber problematisch, wenn man sich die Mühe machte, jeder einzelnen der von Seemann erwähnten »Plattformen« (zum Beispiel das Sytem /360 von IBM, Uber und Twitter) in dieser Hinsicht auf den Zahn zu fühlen. Die (von Jonathan Zittrain übernommen: »Generativität«) Einflüsse von Plattformen auf Verhaltensweisen und Erwartungsstrukturen sind unbestreitbar – solche Einflüsse gingen und gehen allerdings auch von vielen Institutionen aus und erzeugen in der medialen und interpersonalen Kommunikation Vorbilder und Muster. Generativität allein medialen Einflüssen zuzusprechen, reduziert allerdings die Komplexität der Alltagskommunikation zu sehr, in der nach allen Erkenntnissen der Medienpsychologie die Face-to-face-Variante immer noch die höchste Relevanz für Entscheidungsänderungen und Verhaltensdispositionen hat.
Die »Theorie« enthält viel verbales Bling-Bling. »Das Internet ist weniger eine Medienrevolution als eine Medienrevolutionsfabrik.« Eine Speicherung ist eine »Erwartungserwartung«. Hinzu kommen Kalauer wie »Die Welt wird zu einer Google« – die vielleicht ein Kitzel für den Doktorvater Pörksen sind, nicht aber für mich.
Leserinnen und Leser bekommen Schnipsel aus der Mediengeschichte geboten, wie etwas über das Selbstwahlverfahren in der Telephonie oder über die Datenbank-Abfrage per SQL. Auch dabei gibt es dann abgehobene Wortkaskaden wie diesen Satz: »Diensteplattformen sind somit invertierte, automatisierte Plattformfabriken. Je mächtiger die Query-Technologien werden, desto komplexere Erwartungserwartungen lassen sich als Selektionsselektionen automatisieren.« An dieser Stelle wollte ich das Buch eigentlich schon schließen, nach erst 17% bewältigten Texts.
Ich könnte endlos weiterklagen, über Oberflächlichkeiten, Beliebigkeiten, Stilblüten und irrelevante Abschweifungen.
Lieber möchte ich jedoch zum »H-Punkt« kommen. Dieser ist für mich eindeutig die ausführliche Behandlung der Graph-Aneignung, von Seemann Graphnahme genannt, um verzichtbarerweise auf Carl Schmitts Landnahme (im Nomos der Erde) anzuspielen. Verzichtbar, weil »Aneignung« mir treffender erscheint als »Nahme«, da beim Nehmen das möglicherweise freiwillige Geben mitgedacht wird, bei der Aneignung jedoch der unzivile Akt des Diebstahls zumindest mit adressiert ist. Zudem kommt die Auseinandersetzung mit Schmitt über ein paar Sätze aus dem »Best of Schmitt«-Zitatenschatz nicht hinaus (sozusagen unvermeidlich: auch der Satz über den Ausnahmezustand wird hervorgekramt), obwohl sie gerade im Hinblick auf das durch die Praktiken der Plattform-Unternehmen in Bewegung geratene Verhältnis von Gewalt und Recht mehr Raum verdient hätte.
Die Ordnung des Plattformbetriebs durch die Auswertung umfassender Daten aller ihrer Nutzer und deren Kommunikationen (zumindest auf einer nicht-semantischen Ebene), also die graphengesteuerte Politik dieser Plattform, ist das Thema, bei dem Seemann mich gewinnt. Auch wenn er hier viel Anekdotisches verbreitet und sich nicht die Mühe einer stärkeren Systematisierung macht, die seinen Theorie-Anspruch erfüllen würde, ist für mich das Kapitel über »Strategien der Graphnahme« das Zentrum seiner Arbeit, über das sich weiter nachzudenken lohnt.
Die dann noch folgenden Kapitel über Plattformpolitik und die politische Ökonomie sind trotz der vielversprechenden Überschriften wieder anekdotisch basiertes medienwissenschaftliches Feuilleton im Pörksen-Style.
Die in einem Epilog enthaltenen zehn Prognosen zur Entwicklung von Plattformpolitiken bieten keine Überraschung (Zentralisierung von Podcast-Angeboten, Kampf um die Dominanz in der Unterhaltungsbranche, ideologische Ausdifferenzierung von Plattformen, Nationalisierungsbestrebungen im Netz usw.). Eine Ausnahme bildet die zehnte Prognose: Das Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie. Dort findet sich der Satz: »Die repräsentative Demokratie braucht repräsentative Medien.« Die Öffentlichkeit und ihre Medien sind seit dem Absolutismus erfreulicherweise nicht mehr repräsentativ verfasst, und das gilt auch für die verfassten Zustände der aktuellen deutschen Republik. Bestenfalls »repräsentieren« Medien – und darauf spielt Seemann auch an – Tendenzen und Stimmungen der Bürger und Konsumenten – wobei die »privaten« Medien in Deutschland unter dem Tendenzschutz, den sie genießen, das auch dürfen und sollen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht, der soll das ganze Bild liefern, ohne eine einzelne Tendenz zu repräsentieren. Dass die inzwischen für die politische und kulturelle Kommunikation relevanten Netzmedien Unruhe in die Ordnung überschaubarer Tendenzen und Positionen bringen und fluktuierende Stimmungen abbilden, ist für massenmedial Sozialisierte schwer erträglich, wie auch am Regulierungsdiskurs der Medienpolitik zu beobachten ist. Forderungen nach »Disziplinierung der Algorithmen«, und das womöglich von Staats wegen, sind aufgetaucht und werden von Seemann (der das Schlagwort erwähnt) leider nicht zurückgewiesen.
Fazit: Die Arbeit enthält viele wissenswerte und unterhaltsame Details, wird dem Anspruch einer »Theorie« der Plattform nicht gerecht, aber: Kapitel Fünf!
Es wird von Jahr zu Jahr schlimmmer. Vor 15 Jahren wurden die grünen Biester noch im Kölner Volksgarten bestaunt, und man fragte sich, wo sie wohl ausgebrochen waren. Sie bildeten kleine Gruppen, und ihr Geschrei hielt sich akustisch in Grenzen. Jetzt sind sie überall im südlichen Rheinland. Sie bilden Rotten von 50 Vögeln, die gemeinsam und schreiend in die Gärten einfallen umd frische Triebe von Nadelbäumen reißen. Ein ruhiges Frühstück auf der Terrasse ist im Juli nicht möglich. Feinde, vor denen sie Respekt hätten, scheint es nicht zu geben. Nicht einmal große Krähen nähern sich an, wohl weil sie um ihr Gehör fürchten. An Werktagen übertönen sie mühelos die Laubbläser von Vonovia auf der Straßenseite gegenüber. Ihre Ausbreitung hat pandemische Ausmaße; ich weiß nicht, ob ein Umzug nach Bremen genügend Sicherheit gewährt.
Die FAZ bringt einen Text von drei Mitarbeitern der im Juni veröffentlichen Stellungnahme einer interdisziplinären Leopoldina-Arbeitsgruppe »Digitalisierung und Demokratie«. Ein Informatiker, ein Medienwissenschaftler und eine Ethikerin formulieren drei »Thesen« genannte Forderungen, wie mit der Entwicklung globaler Online-Plattformen umgegangen werden sollte.
Auffällig dabei ist das häufig verwendete »Wir«. Hierbei handelt es sich nicht um die Autoren der Stellungnahme, sondern um die virtuellen Regulatoren einer »plattformisierten« Medienlandschaft, deren Weiterentwicklung nicht dem Markt überlassen werden soll. Kennzeichnend für die Studie und auch den FAZ-Beitrag ist zudem, dass die algorithmische Angebotslogik der Plattformen als »Kuratierung« bezeichnet wird, womit den Plattformbetreibern eine Art redaktioneller Eigenleistung zugesprochen wird und nicht nur eine technische Dienstleistung. In den USA gibt es seit Jahren, auch wieder angefacht durch Trump, die Diskussion über Section 230, eine Bestimmung des Telekommunikationsgesetzes, das den Plattformen bislang Immunität in Bezug auf rechtsverletzende Inhalte gewährt, die auf ihnen veröffentlicht werden. Ein Protecting Americans from Dangerous Algorithms Act soll diese Bestimmung ergänzen und die algorithmische Verstärkung aufhetzender und radikalisierender Inhalte unter Strafe stellen.
Die deutsche Medienregulierung hat hierfür noch keine expliziten Bestimmungen. Der Medienstaatsvertrag verpflichtet »Medienintermediäre« zur Transparenz im Hinblick auf inhaltliche Auswahlentscheidungen. Bei Urheberrechtsverletzungen auf Plattformen müssen die Betreiber illegales Handeln ihrer Nutzer unterbinden, sind jedoch nicht selbst verantwortlich haftbar für Rechtswidrigkeiten. Die medienwissenschaftlich äußerst fragliche und unzureichend belegte demokratiegefährdende Verstärkung von »Hetzreden« durch Algorithmen von Social Network Sites sowie die aus kommerziellen Gründen eingeschränkte Vielfalt von Informationsquellen (bzw. erwünschten Inhalten), mit denen ihre Nutzer in Kontakt gelangen können, wird seit einigen Jahren von regulierungswütigen Juristen (z. B. Dörr und Schwartmann) angeführt, um ein neues Regulierungsfeld für die Landesmedienanstalten oder weitere Instanzen zu öffnen.
Die Autoren fordern nichts weniger als die Mitgestaltung der Geschäftsmodelle von Plattformanbietern »auf demokratischer Basis«. Warum Youtube und Instagram nicht gleich verstaatlichen? Ferner sollen neue Formen des Journalismus gefördert werden – von wem und wie?
»Drittens sollten wir anders als bisher über Fragen der Medienkompetenz nachdenken.« Das ist ebenso wie die beiden vorherigen Punkte keine These. Und alles ist schief an diesem Satz. Wie denken »wir« denn jetzt über Fragen der Medienkompetenz nach? Wer sind »wir« eigentlich (siehe die Vermutung oben: der virtuelle Gesamtregulator)? Wie soll dieses »anders« aussehen? Digitale Medien sind nicht mehr nur »Mittel der Information und Kommunikation« – warum wird nicht auch die überwiegende Nutzungsform erwähnt, nämlich Unterhaltung? –, sondern sammeln nun auch Daten. »Ein breiteres Verständnis von digitaler Medienkompetenz umfasst also nicht nur Kompetenzen im Umgang mit Medien, sondern auch Kenntnisse über ihre algorithmischen Funktionsweisen sowie die zugrunde liegenden Geschäftsmodelle. Es ist entscheidend, solche Kompetenzen alters- und kontextgerecht von der Kita an über Schule und Studium, in Aus- und Weiterbildung zu vermitteln.« Auf Kitas kommt also wohl die Anforderung zu, neben dem Chinesischunterricht für Vierjährige nun auch noch das Curriculum in SEO zu bewältigen.
Das Fazit des Beitrags setzt sich kühn über die schlechte digitale Wirklichkeit hinweg und fordert einfach eine andere. Der Plan besteht darin, eine alternative Medienwelt unmittelbar aus dem regulatorischen Normenhimmel abzuleiten: »Wir müssen unser Mediensystem vor dem Hintergrund einer durchdringenden Digitalisierung neu erfinden. Und neu erfinden heißt erst einmal, offen an die Frage heranzugehen, wie ein Mediensystem in einer demokratischen, digitalen Gesellschaft aussehen sollte, um dann im zweiten Schritt die Frage zu stellen, wie man dahin gelangen kann.«