Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Register und Registrare

    Es ist kaum zu glauben: Diese Buch über Register und Registrare ist spannender und unterhaltsamer als so mancher Gegenwartsroman, von den literaturwissenschaftlichen Bemühungen der aktuellen Generationen gar nicht zu reden. Seine englische und auch seine deutsche Fassung sind zu Recht in Fachorganen und Feuilletons mit Lob überhäuft worden. Auch ich möchte hier keine Einwände vorbringen, sondern einige Facetten des Buchs benennen, die mir gefallen haben.

    Dennis Duncan, der Autor, ist Linguist und arbeitet am University College in London. Schon in dem von ihm mitherausgegebenen früheren Buch, Book Parts (2019), das an Genettes Paratexte und Morettis Arbeiten anschließt, gab er eine Art kurzgefasster Vorschau zum Thema. Nun aber schöpft er aus dem Vollen und gibt einen umfassenden Einblick in die Entstehungsgeschichte der Register und den Umgang mit ihnen. Indexe sind durch die Digitalisierung alles Schriftlichen keineswegs unwichtiger geworden. Gerade Suchmaschinen, deren Gebrauch oft an die Stelle des Wälzens von Nachschlagewerken, Bibliographien und Registern treten, benötigen zwingend einen Index. Auch die erste Website von Tim Berners-Lee war – ein Sachregister.

    Tim Berner-Lees erster Browser auf einem NeXT-Computer

    Auf dem Weg zum meist hinten angeordneten Buchabschnitt hat der Index begrifflich und materiell einige Entwicklungsschritte durchlaufen. Zum Beispiel gab es in griechisch-römischer Zeit Etiketten an Schriftrollen in Regalen, sogenannte Syllabi, kurze Angaben zum Inhalt. Über die Ordnung der Rollen ist wenig bekannt. Aber ein noch heute genutztes Ordnungsprinzip stand seit der Einführung des Vokalalphabets in Griechenland schon bereit. Die Ilias und die Odyssee wurden später, nämlich von Bibliothekaren der Bibliothek von Alexandria, in je 24 Kapitel aufgeteilt. Das ist die Zahl der Buchstaben des griechischen Alphabets, die auch als Ziffern benutzt wurden.

    Duncan betont, dass die Ordnung eines Index immer leser-orientiert ist und nicht text-orientiert. Seine eigentliche Entwicklung als Referenzsystem setzte ein, als Codices (zusammengefügte Einzelseiten) sich statt Rollen verbreiteten. Seiten sind besser markierbar und zählbar als irgendwelche Abschnitte auf einer Rolle. Allerdings dauerte es geraume Zeit, viele Jahrhunderte, bis sich Seitenzahlen als Standardmarkierung durchsetzten. Die Seitenzahl gehört nicht zum Text und bezieht sich streng genommen auch gar nicht auf ihn, sondern auf das Buch als Gesamtheit.

    Das Register wurde sozusagen zweimal erfunden, einmal als Konkordanz, zum anderen als Index. Eine Konkordanz listet im Prinzip jedes vorkommende Wort auf, während ein Index eine sachlich begründbare Auswahl von Referenzpunkten sammelt. Suchmaschinen und viele digitale Suchverfahren basieren zunächst auf Konkordanzen, also schier endlosen Wortlisten, in denen die Häufigkeit des Vorkommens einzelner Wörter gemessen werden kann. Indexe lassen sich nach der sie steuernden sachlichen Durchdringung unterscheiden. Es gibt Wortregister und Namensregister, die auf einfachen Übereinstimmungen basieren, es gibt aber auch Sachregister, die auch den Kontext einbeziehen und beispielsweise »Nationalsozialismus« notieren, wo eine Person mit positiver oder negativer Verbindung zu ihm vorkommt. Indexe wurden bereits für Handschriften entwickelt, nicht erst für gedruckte Literatur. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts legte Robert Grosseteste, ein anglo-normannischer Bischof, für seine Aristoteles-Übersetzung ein Sachregister an. Parallel zu ihm entwickelte Hugh of St. Cher das Verfahren von Wortindexen.

    Es gab auch schon früh Kritik an Indexen. Galileo murrte, dass Gelehrte sich nun nicht mehr mit Schiffen oder Kanonen befassten, um ihre Eigenschaften zu beschreiben, sondern sich in ihre Studierstuben zurückzogen, um dort einen Index oder Inhaltsverzeichnisse durchzugehen, um herauszufinden, ob bereits Aristoteles etwas Schlaues über den Gegenstand geschrieben hat.

    Indexe reflektieren die Veränderungen des Leseverhaltens und der Erwartungen der lesenden Gemeinschaften. Sie sind keineswegs durch digitale Buchfassungen und Texte überflüssig geworden. Ein durchdachtes Sachregister hilft Lesern, den Inhalt eines Textes und seine Schwerpunkte zu verstehen. Eine Volltextsuche setzt voraus, dass eine Ahnung vom Inhalt und möglichen vorkommenden Begriffen besteht. Das ist jedoch weder bei Rezipienten von Studienliteratur noch von Forschungsergebnissen gegeben. Auch die bloße Auflistung von Namen und Begriffen allein kann nicht befriedigen. Daher sind auch automatisierte Erstellungsverfahren abzulehnen. Software kann bei der Markierung von Referenzen im Text helfen, aber nicht bei der Auswahl, Formulierung und eventuellen Hierarchisierung der Schlagworte. Fach- und sachkundige Indexer (diesen Berufsstand gibt es, auch eine internationale Vereinigung) ziehen eine neue Ebene in das Werk ein, die Lesern vielfältige Verständnismöglichkeiten anbietet. Übrigens hat auch Duncans Buch selbst einen Index. Dieser wurde nicht von ihm selbst erstellt, sondern von einer professionellen Indexerin, Paula Clarke Bain.

    Mit dem Sortierprinzip, also dem Alphabet, wurde häufig gespielt. Marcel Duchamp inspirierte 1917 eine New Yorker Ausstellung, in der 400 Bilder in der alphabetischen Reihenfolge der Künstlernamen präsentiert wurden. Das Prinzip musste allerdings erst »gelernt« werden. Ein 1604 erschienenes Lexikon, Table Alphabeticall … (der Titel läuft über mehrere Zeilen), enthält eine genaue Gebrauchsanweisung der alphabetischen Ordnung. Allerdings gab es schon bei den Assyrern Tontafeln mit alphabetischen Listen, und in der Bibel gibt es Akrostycha, bei denen die Anfangsbuchstaben von Versen einen alphabetische Reihenfolge aufweisen – zumindest in der hebräischen Fassung (zum Beispiel die Klagelieder und einige Psalmen). Andere frühe Sortierprinzipien wurden in antiken Bibliotheken angewendet. So waren die Schriftrollen in Alexandria nach Genres und dann alphabetisch nach Autoren sortiert. Cicero ließ seine riesige Privatbibliothek etikettieren und ebenfalls sortieren. Plinius ordnet in seiner Naturgeschichte die wichtigsten Edelsteine nach Farben, alle anderen alphabetisch.

    Indexe können auch Werkzeuge in politischen und anderen Auseinandersetzungen sein, Indexer haben eine gewisse Macht. Was, wenn ein Tory ein von einem Whig-Anhänger verfasstes Buch über die politische Geschichte Englands mit einem Index versieht? Zumindest können Indexer die Gewichte eines Textes verändern. Darüber hinaus gibt es zugespitzte Formen: Rogue Index (eine völlig parteiliche und polemische Form) und Mock Index (in dem sich versteckte Scherze befinden). William King war Anfang des 18. Jahrhunderts der König der Rogue Indexer. Er versah einmal eine unautorisierte Auflage eines Buchs mit einem satirischen Index, der die Dumpfheit des Autors vorführen wollte – und hatte Erfolg, er verhinderte die Wahl eines Speakers im Unterhaus. John Gay, der Autor der Beggars’ Opera, veröffentlichte 1716 ein Poem »Trivia, Or the Art of Walking through the Streets of London«, das einen Index enthielt, mit Einträgen wie »Cheese not lov’d by the Author« und »Nose, its Use«. Lewis Carrolls Roman Sylvie and Bruno (1889) enthält einen Index mit ähnlichen Scherzen.

    Immer mal wieder kommen literarische Autoren auf die Idee, mit einem Index zu spielen. Beispiele: J. G. Ballard: The Index (eine SF-Story, die nichts als ein Index ist), Walter Abish: Alphabetical Africa, Andreas Okopenko: Lexikon-Roman, Oswald Wiener: Die Eroberung von Mitteleuropa, Vladimir Nabokov: Pale Fire (ein Roman, der sich als kritische Ausgabe eines Textes gibt). Hartmut Geerkens Buch »kant« hat einen äußerst komplexen und geradezu heimtückischen 90 Seiten langen Index.

    Henry Wheatley, ein großer viktorianischer Indexer – What is an Index? London: Index Society, 1878 –, fasst das Wissen seiner Zeit zusammen, in der auffallend viel mit Indexen experimentiert wird. Beispielsweise gab es 1879 die Wiederauflage eines 1775 erschienenen Buchs von Henry Mackenzie, The Man of Feeling, in dem viele Tränen vergossen werden. Der Herausgeber stellt nun dem Buch einen »Index of Tears« voran, wohl weil er sich an der Empfindsamkeit des Autors störte. Allerdings liefert dieser Index keine Aufklärung darüber, warum soviel geweint wird. Dr. Johnson forderte Mitte des 18. Jahrhunderts für die von Samuel Richardson erweiterte Ausgabe des Briefromans Clarissa (7 Bände) ein Sachregister, das tatsächlich erschien. Es ist in Kategorien gegliedert und scheint eine Art Quintessenz des Romans liefern zu wollen. Unter »Duelling«: »An innocent man ought not to run an equal risk with a guilty one«. Eine Ausgabe dieses Index erschien sogar ohne Seitenreferenzen, da unterschiedlich paginierte Ausgaben des Romans auf dem Markt waren.

    »The index as personal history«: Sherlock Holmes indexierte seine Fälle und Einsichten unter diesem Motto. Auch die Idee des Universalindex sämtlicher Wissensgebiete kursierte im viktorianischen England. Dabei tauchte auch erstmalig die Idee des »community tagging« auf, also der Errichtung und Erweiterung eines Index von allen Mitgliedern (der damaligen Index Society).

    Einer gigantischen Aufgabe verschrieb sich Guy Montgomery, ein 1951 gestorbener Literaturwissenschaftler, der bereits mit Computerunterstützung auf 250.000 Karteikarten eine Konkordanz der lyrischen Werke von John Dryden zusammenstellte und in 63 Schuhkartons hinterließ. Seine Kollegin und Nachfolgerin Josephine Miles konvertierte die Karteikarten in Lochkarten und publizierte den Index schließlich. Dazu: Guy Montgomery/Lester A. Hubbard (Hrsg.): Concordance to the Poetical Works of John Dryden. Assisted by Mary Jackman and Helen S. Agoa. Preface by Josephine Miles, Berkeley 1957.

    Und auch: Rachel Sagner Buurma/Laura Heffernan: Search and Replace: Josephine Miles and the Origins of Distant Reading. In: Modernism/modernity 1/2018. Mario Wimmer, Josephine Miles (1911–1985): Doing Digital Humanism With and Without Machines, in: History of Humanities 2/2019, S. 329–334.

    Duncans Buch ist lehrreich, anekdotenreich und verdient eine Nachahmung, in der deutsche Texte fokussiert werden und auch digitale Entwicklungen stärker und kundiger berücksichtigt werden als es Duncan möglich war. Indexe werden auch in der digitalen Welt weiterlebena – auch wenn Kinder und Jugendliche von heute spontan nicht mehr imstande sind, ein Branchentelefonbuch zu benutzen und seine Gliederung und Sortierung zu verstehen. Ach – und Kursbücher!


    Dennis Duncan: Index, A History of the. A Bookish Adventure. London: Penguin, 2021.

  • Schwere Waffen auf beiden Seiten

    Das Kriegstagebuch eines jungen deutschen Soldaten, der Schriftsteller hätte werden können und wollen. Willy Peter Reese wurde 1921 geboren, lebte in Duisburg, machte 1939 Abitur, begann dann auf Wunsch seiner Eltern eine Banklehre, wurde im Frühjahr 1941 zum Kriegsdienst eingezogen und starb nach späteren Ermittlungen höchstwahrscheinlich im Juni 1944 in der Gegend von Witebsk. Er führte ein Tagebuch, das er selbst in Urlaubsphasen in ein Buchmanuskript umarbeitete. Es blieb ein Fragment, aber darauf kommt es nicht an.

    Er las und schrieb fast ununterbrochen. Im Schützengraben stritt er sich mit Kameraden um die einzige verfügbare Kerze, um ein Gedicht zu schreiben oder seine Gedanken in sein Tagebuch einzutragen. In den Reflexionen über Russland sind Lektürespuren – er kannte nicht nur Dostojewski, sondern zählt an einer Stelle zehn russische Autoren auf – erkennbar.

    Die Auseinandersetzung mit dem Krieg selbst und der eigenen Rolle als Soldat zieht sich durch das ganze Buch. Reese ist auch ein Leser von Ernst Jünger, direkt zitiert er den Arbeiter. Aber auch die häufig wiederkehrende Bezeichnung des Krieges als Abenteuer weist in die Richtung Jüngers.

    »Die Zeit der Abenteuer begann, doch im Anfrang war der Krieg nur ein Spiel … Die Truppe wurde zur Kampfeinheit gemacht, der Einzelne zum Glied einer Maschine … So erhielt das Kanonenfutter seinen letzten Schliff … Das Material erhielt seine Form, und ich nahm die Maske des Soldaten genauer und meisterhafter an.«

    Begegnungen mit Menschen aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, häufig unmittelbar an der Front, schildert Reese immer warmherzig und interessiert. Die Kommunikation mit diesen »Feinden« gelingt ihm besser als mit den Kameraden.

    »Nie fand ich Feinde unter fremden Völkern, immer führte bald eine Brücke von Mensch zu Mensch. Sie ahnten den Friedensmenschen unter meiner Uniform. Feinde fand ich nur in meiner Nachbarschaft und in mir selbst, das Ich kämpfte gegen mein Schicksal und gefährdete meine Gestalt.«

    Er beobachtet den brutalen Umgang mit russischen Kriegsgefangenen in der »Etappe«: »Ich setzte mich auf einen Stapel Bretter, fühlte müde die warme Sonne und sah russischen Kriegsgefangenen bei ihrer Arbeit zu. Bärtige Gesichter, ungepflegte Haare, leere Augen und zerrissene Uniformen schufen ein Bild heimatloser Traurigkeit. Jede Bewegung geschah träge, widerwillig, und die Wächter fluchten, schlugen sie mit Stöcken und den Kolben ihrer Gewehre. Ich fühlte keinen Zorn über die Mißhandlung der Wehrlosen und kein Mitleid mit ihnen. Ich sah nur ihre Faulheit und ihren Trotz; ich wußte noch nicht, daß sie hungerten.«

    Bereits im ersten halben Jahr seiner »Reise« macht Reese permanent eigene körperliche Grenzerfahrungen. Er ist eigentlich ein zarter und unsportlicher Typ, aber muss marschieren wie alle anderen. Sommerhitze, entzündete Füße, Ungeziefer, Schlamm machen ihm zu schaffen. Nebenbei zerlegt er die Phantasien von Kameradschaft, die sich manchmal in den 1950er und 1960er Jahren in private Berichte über Kriegserfahrungen einschlichen und den breiten Strom der Landser-Literatur prägten.

    »Verbittert betrachteten wir Hunger, Frost, Not und unsere verschollene Stellung. Alle waren überreizt und krank. Ausbrüche von Jähzorn und Haß, Neid, Schlägereien, Hohn und Wut zerstörten den Rest der Kameradschaft … Die Gefallenen beachteten wir nicht und scharrten sie auch nicht ein, zogen nur ihre Mäntel noch an und ihre Handschuhe.«

    Auch die Strukturen innerhalb der Wehrmacht brutalisieren sich. Reese berichtet über eine Reihe von Todesurteilen gegen Soldaten aus geringsten Anlässen und aufgrund abstruser Unterstellungen. »Der Krieg war zum Wahnsinn geworden, nur auf das Morden kam es noch an, gleichgültig, wen es traf.«

    Vom Prozess der Entmenschlichung nimmt sich Reese nicht aus, wendet aber die Erkenntnis dieses Prozesses auch gleichzeitig gegen sich selbst. Ihm wird bewusst, dass er sich in seinem Tagebuch an den eigenen Tod heranschreibt und ist schon früh bereit, den Tod auch zu akzeptieren oder ihn sich sogar herbeizuwünschen:

    »Ich ahnte die Verheerungen des Krieges in mir, sah die verwüsteten Gärten meiner Jugend und wußte mich zu einem Schattendasein im Hexenkessel der Erinnerung verurteilt, fühlte mich von Gott und meinen Engeln verlassen, ausgesetzt in einem eisigen Weltall, zwischen fernsten Sternen im Nichts.«

    Reese ist völlig bewusst, dass er sich als Teilnehmer am gegenseitigen Massenmorden schuldig macht. Wie viele andere ist er nicht freiwillig in den Krieg gezogen und sträubt sich auch innerlich gegen die Befehle, die alle gleichwohl befolgt werden. Gedanken an Rebellion oder Selbstmord werden verworfen. »Aber wir gaben uns lieber dem Zufall eines Gefechts, dem Spottbild des Soldatenglücks hin, als dem sicheren Tod durch das Gesetz. Ob wir erschüttert, mutig oder zitternd, tollkühn oder feige, bereit oder verzweifelt in den Kampf gingen, wag nichts vor der Tatsache, daß keiner freiwillig ging. Nur manchmal, am Rande des Wahnsinns, geschah ein heroischer Opfergang von Einzelnen, die nicht mehr an ihr Leben glaubten.«

    Die zunehmenden inneren Verwüstungen bringen Reese dazu, nach einem Genesungsurlaub (aufgrund einer zweiten kleineren Verwundung) freiwillig wieder an die Front zu wollen. »Ich wollte das Feuer durch das Feuer besiegen, den Krieg durch den Krieg.«

    Er fühlt sich in Russland schließlich mehr zuhause als in seiner Heimat. Allerdings war der »Abnutzungskrieg« mit überschaubar intensiven Kampfhandlungen schon im September 1943 zu Ende, von da an war die Wehrmacht an der Ostfront im Prinzip auf der Flucht. Befehle zum unbedingten Halten von Stellungen bewirkten noch den Tod von vielen hunderttausend Soldaten. Wie dem von Willy Peter Reese.


    Willy Peter Reese: Mir selber seltsam fremd. Die Unmenschlichkeit des Krieges. Russland 1941–44. Berlin: List, 2004

  • Schreiben Schreiben

    Ein neues »literatursoziologisches Grundlagenwerk« sei die Darmstädter Dissertation von Carolin Amlinger, sagen Werbung und Blurbs. Über 800 Seiten stark, aber beileibe kein Grundlagenwerk. Einige, die diesen Namen eher verdienen, werden darin zitiert. Ansonsten ist die Arbeit ein Potpourri vieler Aspekte, die das Schreiben, die Literatur und vor allem den Literaturmarkt betreffen. Viel weniger wäre mehr gewesen. Ich erwarte von einer Doktorarbeit kein systematisches Werk, aber durchaus einige neue Einsichten, die sich angesichts des tausendfach beackerten Feldes nur durch Vertiefungen erreichen ließen. Daran jedoch ermangelt es dieser Arbeit. Hunderte von Themen werden gestreift, sowohl auf der theoretischen wie auch auf der historischen Ebene. Nebenbei muss man unbegründete Behauptungen ertragen wie die über den Feuilletonroman im 19. Jahrhundert, der mit seinen Fortsetzungen angeblich die »Einheit des Werks« aufgebrochen habe. Das Gegenteil ist ja der Fall: Balzac, Sue, Flaubert, Dickens, Dostojewskij – alle veröffentlichten Fortsetzungen, während der Schreibprozess noch munter weiterging, und erst später wurden die Werke zu einer Einheit zwischen Buchdeckeln zusammengefügt.

    Der Blick auf die soziale Lage von Schriftstellern Ende des 19. Jahrhunderts – zwischen Aristokraten der Schrift und Tintensklaven – ist ebenso flüchtig wie knappe Ansätze von Verlagsgeschichte(n), der Geschichte von Produktionstechniken und der Entwicklungen auf dem deutschen Buchmarkt seit 1945. Die Öffentlichkeit, die durch den Literaturbetrieb der 1950er/1960er Jahre gleichermaßen geschaffen wie repräsentiert wird, stilisiert Amlinger zu einer »Gegenöffentlichkeit«, die »literarische Innovationen jenseits des Warenprinzips erprobte« (191). Was sie damit meint, wird nicht deutlich: Mischkalkulation der Verlage (alter Hut)? Literarischer Samisdat und Raubdrucke? Literarische Teilöffentlichkeit als Korrektiv zur institutionell eingehegten politischen Öffentlichkeit? Hinweise fehlen. Ja, die Autorenreports von Fohrbeck & Wiesand sintemalen (in den 1970er Jahren) haben Stichworte wie »fortschreitende Kommodifizierung« des Literaturbetriebs geliefert, ohne allerdings das »Davor« dieses Fortschreitens deutlich zu charakterisieren. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts war das Buch eine Ware, waren hauptberufliche Schriftstellerinnen häufig in prekären ökonomischen Verhältnissen (oder eben nicht hauptberuflich tätig) usw.

    Die im zweiten Teil des Bandes ausgewertete Umfrage zum Schriftstellerberuf enttäuscht ebenfalls. Die Analyse bleibt flach, Begriffe (wie »Institution Literatur«) werden nicht klar analysiert, der Autonomiebegriff bleibt zweischneidig, und die Folgerungen am Ende des Buchs sind nicht weiterführend. Das Buch ist eine einzige Enttäuschung, besonders für jemanden, der die in ihm angerissenen Prozesse seit fünfzig Jahren beobachtet.


    Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Berlin: Suhrkamp, 2021.

  • Gefühle lassen sich nicht lehren

    Alexander Kluge schreibt über den »Nebel des Krieges«, der die Sinne und die Gefühlswelten unberechenbar werden lässt – und die Rezensenten machen sich auf Stellensuche. Der Autor hat sich bekanntlich nicht für die Unterstützung eines militärischen Siegs der Ukraine im gegenwärtigen Krieg ausgesprochen. Er nimmt Stellung gegen den Krieg. Auch nicht für Frieden (wie sollte der auch einfach vom Himmel fallen?), sondern für Anti-Krieg.

    Die Rezensenten und andere Kommentatoren, denen ohne weiteres unterstellt werden kann, dass sie weder Kluges Buch gelesen noch die in ihm verlinkten Videos angesehen haben, fahnden nach verdächtigen Textpassagen, die für sie belegen, dass Kluge ein unsicherer Kantonist ist. Sie akzeptieren keine Ungewissheit, keine produktiven Grauzonen und Erschöpfungszustände, aus denen vielleicht plötzlich der Wille zur Waffenruhe entstehen könnte. Die meisten kennen offenbar auch nicht Bertolt Brechts Kriegsfibel, die auf 69 Bilddokumenten und Zeitungsausschnitten basierende Gedichte enthält, die lehren sollen, die wiedergegebenen Bilder zu lesen. Das Buch erschien erst 1955, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und von Brechts Sammlung.

    Eine Zeitenwende beobachtete schon Brecht. Damals eine Tragödie. Inzwischen ein wohlfeiles Narrativ.

    Beklagt wird, dass der Autor nicht eindeutig im Sinne des Unbezweifelbaren und Richtigen Stellung nimmt, sondern vieles offen lässt. Die Sucht nach dem Unbezweifelbaren und Richtigen, die Berufung auf nicht verhandelbare Werte, Welterklärungen aus einem Guss: das sind lehrbuchartige Kennzeichen von Ideologie. Kluge besteht auf hinterfragbaren Argumenten, stellt an manchen Orten im Buch sogar zwei Varianten nebeneinander, auch im Hinblick auf die Interpretation der Absichten des russischen Präsidenten.

    Kriege wie die amerikanischen Angriffe auf den Irak und Afghanistan basieren nicht auf dem Ratschluss einzelner mächtiger Individuen. »Es gab aggressive Vorbereitung durch Lobbyisten und republikanisch gesinnte Wissenschaftler in den Stiftungen in Washington. Hier in den Stiftungen entstanden die Pläne für die Besiegung des Islam, die Niederlage des Iran, die Generallösung im Nahen Osten.« (96) Deutsche Institute und Stiftungen – zuvörderst die Wiederauflage des Deutschen Wehrvereins, das »Zentrum Liberale Moderne« – machen sich seit Beginn des Jahres 2022 mit aggressiv-militaristischen Tönen bemerkbar und verfolgen verbal jeden, der sich dem Einstieg in die Todesspirale der militärischen Teilnahme am Krieg – zur Abwehr der russischen Aggression – widersetzt.


    Kluge, Alexander: Kriegsfibel 2023. Berlin: Suhrkamp, 2023.

  • Workflow mit Markdown (2)

    Zu Teil 1

    In den letzten sechs Jahren habe ich mich hauptsächlich mit soziologischen und medienwissenschaftlichen Fragen beschäftigt und auch viel geschrieben. Ein Buch, ein buchlanges Manuskript, eine Reihe von Vorträgen und Artikeln – alles wurde und wird in einer um einen Markdown-Editor herum organisierten Umgebung verfasst. Das war zunächst Ulysses, dann Typora, jetzt Obsidian.

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