Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Schreiben oder Schreiben lassen

    Das Buch ist im wesentlichen eine Sammlung bereits erschienener Aufsätze und enthält einige Überschneidungen und Redundanzen. Die Lektüre lohnt sich jedoch. Bajohrs Text belegt nicht nur seine literaturtheoretische Kompetenz. In den Beiträgen kommen auch die Erfahrungen durch eigene experimentelle Arbeiten auf dem Feld der digitalen Literatur zur Geltung. Einiges findet sich hier.

    Literatur? Das ist eine Frage, die Bajohr immer wieder offen hält. Anders als Schönthaler schaut er nicht mit normativem Blick auf Autorenintentionen und Werke. Er sympathisiert mit der Institutionentheorie der Kunst/Literatur: Was als Literatur verbreitet und akzeptiert wird und sich bewährt, ist eben Literatur. Entscheidend dafür sind die Rezeptionsweisen und die Erwartungen der Rezipienten. Es könnte zunehmend gleichgültig werden, ob und in welchem Maße künstliche Intelligenz an der Produktion von Texten, Bildern usw. beteiligt ist. Statt um den Turing-Test geht es um den »Durkheim-Test«, in dem Mensch und Maschine als gleichberechtigt Handelnde aufgefasst werden: »Der Durkheim-Test entspricht (…) dem Design, der Akzeptanz, dem Gebrauch und der Modifikation eines Systems durch eine Gemeinschaft in Echtzeit.« (Leigh Star 2017: 135). Vertreter einer bornierten, konservativen, an der realistischen Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts orientierten Auffassung – und das sind erstaunlich viele heutige Literaten, Literaturkritiker und Leser – werden Probleme haben, diesen Test zu akzeptieren. Man könnte jedoch mit Bajohr – so schließt sein Buch – darauf setzen, dass eines Tages die Differenz zwischen menschen- und maschinengeschriebenen Texten ihren Sinn verliert. Die Alternative, mit den Maschinen zu verschmelzen – obwohl ich die Formel Kittlers, der die Dreieinigkeit von Menschen, Maschinen und Engeln anrief, attraktiv finde – oder sie zu knechten, verdient auf jeden Fall eine Erweiterung.

    Literatur besteht nicht nur aus langer Prosa, also dem Roman, den Bajohr die »Wunderformel aus Großnarration und Erlebnisgeprotze« nennt, sondern hat viele Genres und Schattierungen. Das Festhalten an historischen Normen und die fehlende Erlebnisoffenheit Neuem gegenüber prägt die Literaturszene (ähnlich wie den Musikmarkt) in erschütternder Weise. Zu den experimentellen Richtungen in der Literatur gehört das »konzeptuelle« Schreiben, das vorhandenem Text eine zweite Form gibt. Der Ubuweb-Gründer Kenneth Goldsmith hat dieser Richtung in seinem Manifest Uncreative Writing ein Denkmal gesetzt – und im Übrigen auch viele eigene Beiträge zu ihr geliefert. Einer der Standardeinwände gegen automatisch erzeugte Kunst ist die angeblich fehlende »Kreativität«. Das Nachdenken über Kreativität hat allerdings kaum erst begonnen. Wenn es nicht der göttliche Funke ist, der genialische Künstler trifft und sie in ihrer Produktivität anfeuert, was ist Kreativität dann? Die Kreativitätsübungen von Designern und Marketingfachleuten zeigen schon lange in eine andere Richtung: Kreativität ist ein Rückkopplungsprozess, meist innerhalb von Teams, der die einfachsten und die verrücktesten Ideen einfängt und sie mit ihrer technischen Ausführbarkeit und Wirtschaftlichkeit arrangiert. In ihrem häufig missverstandenen Artikel The extended mind schlugen Clark & Chalmers 1998 vor, auch Prozesse außerhalb der Köpfe von Menschen als Beiträge zu kognitiven Vorgängen zu verstehen, wenn sie auf ähnliche Weise zu funktionieren scheinen. Bajohr zitiert eine ganze Reihe von Autoren – Ulla Hahn, Daniel Kehlmann, Philipp Schönthaler, Florian Cramer –, die den Weg zur Einbeziehung von Maschinen in Kreativitätskonzepte nicht ganz oder gar nicht mitgehen wollen. Neben der Kreativität als Agens spielt dabei auch das Verständnis von Subjektivität und des »Werks« eine Rolle. Die genannten und viele andere Zeitgenossen sehen sich durch Berichte über Existenz und Funktion der KI in einen Alarmzustand versetzt, der sie eine Koexistenz mit ihr, die nichts mit der Ersetzung der »händischen« (Schönthaler) durch programmierte Literatur zu tun hat, gar nicht in Betracht ziehen lässt. Den Menschen bleibt allerdings beim derzeitigen Entwicklungsstand der KI auf jeden Fall noch eine Art Konzeptgestaltungsmacht (79) – beispielsweise das prompt design.

    Interessant und lehrreich ist Bajohrs Unterscheidung des sequenziellen und des konnektionistischen Paradigmas der digitalen Literatur. Sequenziell sind die regelbasierten (algorithmischen) Anweisungen, nach denen schon seit 1952 »Literatur« mit dem Computer produziert wird. Konnektionistisch ist die aus Beispielmaterial selbstlernende Netzwerk-Installation, der kein Programmbefehl gegeben wird, sondern die nur abgefragt oder zum Plaudern angeregt werden kann. Es stehen sich gegenüber (156ff.):

    SequenziellKonnektionistisch
    VerfahrensregelnBeispiele
    top-downbottom-up
    explizite Regeln (am Anfang)implizite Regeln (am Ende)
    TransparenzUnerklärbarkeit
    DatenbanklogikStatistische Abhängigkeiten

    Zu sehen ist: Es ist nicht alles Gold an der konnektionistischen KI. Ihre Verfahren sind intransparent, ihre Reaktionsweise gehört eher auf die Couch von Psychologen als auf das Display von Informatikern. Die von GPT-3 vorgeführten Korrelationen weisen merkwürdige Schwächen auf. Nicht alles, was statistisch wahrscheinlich ist, ist auch kausal begründbar und nachvollziehbar. Daher scheint die Domäne der Erzählmaschinen vor allem die Erzeugung surrealistischer Welten und Begebenheiten zu sein. Abgesehen davon machte GPT-3 letzte Woche noch viele Fehler, wenn Quersummen gebildet werden sollten.

    Also: Bajohr lesen.

    Und zum Schluss ein Beispiel, das die derzeitigen Stärken von GPT-3 zeigt. Ein Freund fragte sich, ob die Wissenschaft bereits Maßnahmen gegen das Entstehen von Erdbeben ersonnen hat. Da er gute Erfahrungen mit dem Erzeugen von Dialogen und Film-Trailern gewonnen hat und einen aktivistischen Akzent in seine Frage bringen will, lautet sein Prompt:

    Let’s write a movie trailer in which I fight tectonic plates to the death.

    Die Ausgabe sieht so aus:


    Bajohr, Hannes: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen. Berlin: August Verlag, 2022.

    Leigh Star, Susan: Grenzobjekte und Medienforschung. Bielefeld: transcript Verlag, 2017.

    Goldsmith, Kenneth: Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. Erweiterte deutsche Ausgabe. Berlin: Matthes & Seitz, 2017.

    Clark, Andy; Chalmers, David J: The Extended Mind. Analysis, Jg. 58, Nr. 1, S. 7–19, 1998.

  • Manufactum-Literatur

    Das Buch zu lesen ist eine Qual. Lektorat scheint nicht stattgefunden zu haben. Der Autor schüttet unbehelligt den Abraum ausgiebiger Lektüren vor der Leserschaft aus, ohne Rücksicht auf die Erwartungen zu nehmen, die er mit Buchtitel und Zielbestimmung erweckt. Das Werk ist vage bestimmt von der These, dass »der« Mensch als Verfertiger von Texten (zuvörderst wohl literarischen, aber Schönthaler legt sich in dieser Hinsicht nicht fest) nicht durch Automaten ersetzt werden könne. Nun widerspricht diese These den neuesten Wahrnehmungen der Leistungsfähigkeit von KI-Textgeneratoren. Mit denen können nicht nur Sportberichte, sondern auch Schema-Romane verfasst werden, ohne dass es für das Publikum offensichtlich oder auch nur problematisch wäre, einen automatisiert erzeugten Text zu lesen. Schönthaler erwähnt mehrfach GPT-3, weiß also um diese Möglichkeiten. Es geht ihm jedoch offenkundig um etwas anderes: Er will aus Gründen, die er im ganzen Text (473 Seiten plus 102 Seiten Anhang) nicht klar darlegt, das Subjekt vor imaginierten Anfeindungen durch die Maschine retten. Die Austreibung des »Händischen« (»händisch«: eine furchtbare Vokabel, die oft im Buch vorkommt) aus dem Schreibakt ist ihm ebenso unheimlich wie die Kittlersche Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Kittlers provokante These, dass Programmieren die Zukunft des Schreibens sei, zündet bei Schönthaler eine ähnliche Reaktion wie bei vielen Geisteswissenschaftlern vor vierzig Jahren. Da Schönthaler den Kontext der vielen von ihm dargestellten Positionen nie ausreichend berücksichtigt, kann er weder bei Gertrude Stein noch bei Samuel Beckett noch bei den Vertretern der Konkreten Poesie der 1950er und 1960er Jahren erkennen, dass sie immer auch Antworten auf vorherrschende Glaubensrichtungen und Ideologien waren. In keinem Fall ging es darum, das »Schreiben« als mediale Technik und Ausdrucksform möglichst vollständig an Maschinen zu delegieren und dem Subjekt ebenso vollständig den Garaus zu bereiten. Allerdings wenden sich alle diese Positionen gegen bestimmte Erscheinungsformen der Subjektillusion.

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  • Inkommensurabel

    Wien, 1. August 1914

    Es geht hier um den gerade erschienenen Ran Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer. Ein ganzes Buch über nur einen Tag, das weckt schon einmal das Interesse; auch daran, wie die Autorin mit der Komplexität der Ereignisse an diesem Tag fertig wird. Die Wahl des Datums steigert die Erwartungen noch einmal.

    Der 31. Juli 1914 in Wien – mit überlappenden Rändern, das Buch umfasst 36 Stunden Handlung – ist der Tag vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In Europa zieht eine ganze Generation fröhlich-nationalistisch aufgeputschter junger Männer in den Krieg, von dessen Horror sie sich vorher keine Vorstellung gemacht haben. Die Hauptfigur des Romans ist ein siebzehnjähriger, durchaus gebildeter Pferdeknecht, der in Wien eine Psychoanalytikerin aufsuchen will. Er lernt in deren Haus zwei junge Leute kennen, einen zynischen Adligen und eine kluge Mathematikerin, die in einer besonderen Beziehung zu der Analytikerin steht. Die Drei verbringen den ganzen Tag und die Nacht bis zum Morgen des 1. August miteinander.

    Viele Themen werden angerissen, in manchen Fällen glaubt man Exzerpte zu lesen, wenn es beispielsweise um Massenpsychologie geht oder um mathematische Theorien. Auch parapsychologische Phänomene spielen, der Zeit entsprechend, eine Rolle. Das könnte alles zusammenpassen, das könnte einen erregt-erregenden Zug durch die Hauptstadt Kakaniens anfeuern, aber – das Gegenteil geschieht. Weder passen die Elemente zusammen noch erzeugen sie bei ihrem Aufeinanderstoßen zündende Einsichten. Auch kein Vergnügen. Statt dessen breitet sich beim Lesen eine gewisse Fadheit aus.

    Leider hatte ich das Buch schon fast durchgelesen, als ich auf diese Rezension von Alexander Solloch stieß. In ihr steht alles Nötige, und ich verzichte hier auf die Ausbreitung weiterer Details meines Lektüreerlebnisses.


    Bild: Weltkriegsrekruten in Wien

    Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta, 2023.

  • Mittel gegen Hass und Hetze

    Gniffke rules

    Die in der FAZ zitierten Sätze des neuen ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke – aus einem Interview mit der dpa – lassen nicht erwarten, dass die ARD einen Beitrag zur fälligen Transformation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkapparate in ein online-taugliches Plattformangebot leisten wird.

    Wenn wir sehen, was im Moment an Hass und Hetze grassiert, wie viel Desinformation es gibt, stellen wir doch fest: Es hagelt ganz schön rein ins Dach der Demokratie … Und wir möchten dazu beitragen, dieses Dach wieder abzudichten. Und wir möchten diejenigen sein, die helfen, Wirklichkeit und Fälschung auseinanderzuhalten … Unabhängiger Journalismus ist im Moment auf dem Rückzug, und deshalb wäre der Schritt, jetzt unsere Vielfalt in Deutschland weiter einzuschränken, aus meiner Sicht falsch.

    Es ist seit Jahren dasselbe Mantra, das die Vertreter der Anstalten, ihrer Gremien und auch diverse Unterstützer herunterbeten: Die Demokratie ist in Gefahr, deshalb brauchen wir die unabhängigen öffentlich-rechtlichen Medien – und wenn es sie nicht schon gäbe, müsste man sie gerade jetzt erfinden.

    »Unsere Vielfalt«, das ist auch die fortgesetzte Koexistenz der Fernsehsysteme von ARD und ZDF, koste es, was es wolle. Damit werden auch weiterhin die Mittel gebunden, die für eine konsequente Transformation der Apparate in Online-Medien notwendig wären. Konsequent sein bedeutet zum Beispiel, dass nur eine einzige öffentlich-rechtliche Mediathek sinnvoll ist. Konsequent wäre, dass Inhalte und Formate für alle Beitragszahler entwickelt werden und die Priorisierung der älteren, nur fernsehenden Generationen beendet wird. Dazu gehört, dass auch ausländische Mitbürger und Menschen migrantischer Herkunft angesprochen werden – es handelt sich hier um etwa 25 Prozent der Bevölkerung. Sie bilden einen weitestgehend ignorierten Teil der nach dem Verfassungsauftrag zu adressierenden Allgemeinheit. Konsequent wäre, die mehrfach von Verfassungsrichtern als Systemmerkmal formulierte Ausrichtung der Programmangebote nach anderen als nach Marktkriterien umzusetzen. Und schließlich wäre es konsequent, die Mechanismen der Meinungsbildung in Onlinemedien endlich zu akzeptieren und die Mediatheken konsequent für Nutzerdialoge zu öffnen – auch wenn das viel Geld und Personaleinsatz erfordert.

    Die öffentlich-rechtliche Abwehr von Hass und Hetze, von der Gniffke spricht, wo findet sie denn statt? Bei Rote Rosen oder im Tatort? Bei Bares für Rares oder in der Küchenschlacht? Gniffke erwähnt die in einigen Ländern vollzogenen oder drohenden Veränderungen der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien. In Großbritannien, Frankreich und Dänemark brechen nach seiner Logik also die Dämme gegenüber medieninduzierten Hass- und Hetzkampagnen.

    Das Bedrohungsnarrativ ist und bleibt ein billiges und in sich brüchiges PR-Argument. Gniffke sollte seine Aufgabe als ARD-Vorsitzender wahrnehmen und für ein konsequentes Umsteuern des Systems eintreten.

  • Eselshaut

    Der Film Peau d’âne des Nouvelle-Vague-Regisseurs Jacques Demy, der mit Agnès Varda verheiratet war, rückt die Gattung der Esel in kein gutes Licht. Lebend fungiert der Esel für seinen König als Bankier, indem er Goldstücke und Diamanten scheißt. Tot, als Eselshaut, verstärkt er in den Augen der Bevölkerung die (gewollte) Unansehnlichkeit der Prinzessin und ihren üblen Geruch. Es handelt sich um einen Märchenfilm, dessen zentraler Konflikt allerdings der Inzestwunsch eines Königs ist, der keine schönere Frau als Nachfolgerin seiner gestorbenen Frau findet als seine eigene Tochter. Auf Anraten ihrer Patin, einer Fee, lässt sie sich von ihrem Vater mehrere Wünsche erfüllen, deren letzter die Abhäutung des Bankiers ist.

    Die Geschichte entstammt einem von Charles Perrault Ende des 17. Jahrhunderts aufgeschriebenen Märchen und ist in Szenerie, Garderobe und Verhalten der Protagonisten einem Kinderfilm sehr ähnlich. Kleinere Teile des Dialogs werden gesungen, womit Demy an frühere Filme anschließt. Seine bekannteste Produktion ist Les parapluies de Cherbourg (1964), in der alle Dialoge gesungen werden. Hier wie dort spielt Catherine Deneuve die Hauptrolle. Den König mimt Jean Marais. In seinem Reich haben die Dienstboten und die Pferde eine blaue Haut. In einem anderen Königreich, dessen Prinzen die Prinzessin Eselshaut schließlich heiratet, eine rote. Die Musik stammt von Michel Legrand.

    Der Film ist in einer deutsch untertitelten Version bei einigen Streaming-Anbietern zu sehen, zum Beispiel bei Mubi.