Family Affairs (4)

The Gadfly. Der 1897 erschienene Roman der in Cork (Irland) geborenen und in Lancashire (England) aufgewachsenen jüngsten Tochter von George Boole, Ethel Lilian, war weltweit und vor allem in Irland, in der Sowjetunion und später in China ein großer Verkaufserfolg, in England allerdings nicht. Ethel Boole, 1864 geboren, lernte während ihres Musikstudiums in Berlin (1882–1885) einen russischen Sozialrevolutionär kennen, Sergei Krawtschinski, der sich Stepniak nannte und 1879 in St. Petersburg den Chef der russischen Geheimpolizei auf offener Straße erstochen hatte. Sie pflegte die Bekanntschaft dann in London weiter und hielt sich 1887 bis 1889 in Russland auf, wo sie bei Krawtschinskis Schwägerin Preskowia Karaulow wohnte und als Gouvernante arbeitete. Spätestens seit dieser Periode begeisterte sie sich selbst für revolutionäre Ideen. Wieder in London gab sie zusammen mit Krawtschinski-Stepniak die Zeitschrift Free Russia heraus und lernte Persönlichkeiten wie Eleanor Marx, Friedrich Engels, William Morris, George Bernard Shaw und Oscar Wilde kennen. Zum Kreis der Zeitschrift stieß 1890 der polnische Revolutionär Wilfrid Voynich, der dann zusammen mit Ethel Boole und anderen den Export revolutionärer Literatur nach Russland organisierte. Er gründete 1897 ein erfolgreiches Antiquariat mit mehreren Filialen in europäischen Städten und auch in New York. Das Unternehmen war auch mit der Herstellung russischer Schriften beschäftigt. Im Jahr 1912 entdeckte Voynich in einem Jesuitenkolleg in Frascati eine bis heute rätselhafte und nicht entschlüsselte reichhaltig bebilderte Handschrift – das sogenannte Voynich-Manuskript. Voynichs Leiden als Sträfling in Warschau und in Sibirien, die schwere körperliche Schäden bei ihm hinterließen, mögen Ethel zur Schilderung des angegriffenen körperlichen Zustands der »Stechfliege« veranlasst haben. Eine andere Variante ist, dass Ethel eine Liaison mit dem britischen Geheimagenten Sidney Reilly (Sidney Rosenblum) hatte, der mit ihr durch Italien tourte und ihr abenteuerliche Geschichten über seine Vergangenheit in Russland erzählte, die sie dann im Roman verarbeitete. Reilly soll das Vorbild für die Figur von James Bond gewesen sein. Er war an einem versuchten Attentat auf Lenin beteiligt und wurde selbst 1925 ermordet.

Der Roman spielt im Milieu der bürgerlichen Untergrundbewegung in Italien Mitte des 19. Jahrhunderts, die eine Befreiung von der österreichischen Herrschaft, auch vom politischen Papsttum, und eine Vereinigung der italienischen Regionen anstrebte (risorgimento). Hauptfiguren sind ein englischer Student, der eigentlich das Kind eines italienischen Geistlichen ist, und eine revolutionär und idealistisch gesonnene Tochter aus gutem Hause, Arthur und Gemma. Arthur wird als Mitglied des Jungen Italienverfolgt, von einem Priester verraten und ist auch in Missverständnisse mit Gemma verwickelt. Er täuscht seinen Tod vor und flieht außer Landes. Im zweiten Teil des Romans ist er nach 13-jähriger Abwesenheit wieder in Italien, körperlich zerschunden und zynisch geworden. Er wird »Stechfliege« genannt und ist ein scharfzünginger Journalist und Mitorganisator von bewaffneten Untergrundaktivitäten. Er enthüllt niemandem gegenüber seine wahre Identität und lässt auch Gemma bis zum Ende in Zweifel darüber, ob er tatsächlich Arthur ist. Aufgrund seiner aus Südamerika mitgebrachten vielen Wunden und Behinderungen erkennt sie ihn nicht spontan wieder. Im dritten Teil spitzen sich die politischen und persönlichen Konflikte zu. Die Stechfliege wird als Organisator eines Waffenschmuggels verhaftet, verletzt und im Gefängnis gequält. Sein Vater, inzwischen Kardinal, kann ihm nicht helfen – und Arthur will sich nicht helfen lassen, weil sein Vater sich nicht von Kirche und Religion lossagen will. Die körperlichen Qualen und auch die Hinrichtung Arthurs werden detailliert beschrieben. Ein hohes Pathos zieht sich durch das ganze Buch und war wohl auch ein Faktor für seine Beliebtheit in manchen Ländern.

Die Autorin hat ein merkwürdiges Faible für revolutionären Heroismus und Gewalt:

Voynich’s reputation as a writer is largely based on The Gadfly, but she published other novels featuring revolutionary heroes, such as Jack Raymond (1901), the story of a rebel and a Polish patriot’s widow; Olive Latham (1904), about an English nurse and a Russian revolutionary; and An Interrupted Friendship (1910), which continues the story of The Gadfly. None of her later novels are considered the equal of her first, and are chiefly characterized by an obsession with violence and physical suffering (aus Women in World History: A Biographical Encyclopedia).

The Gadfly ist dreimal ins Deutsche übersetzt worden und in einigen Verlagen erschienen. Die Titel wechselten: Der Stachel, Die Stechfliege, Der Sohn des Kardinals. Derzeit erhältlich ist die Wiederauflage (auch als eBook) einer schon 1957 von Alice Wagner übersetzten und im Verlag Neues Leben (DDR) erschienenen Fassung.


Filme und Musik

Ovod, 1955, R: Aleksandr Faintsimmer, früherer Lenfilm-Kanal bei Youtube, jetzt archive.org. Das Drehbuch schrieb der Literaturtheoretiker und Schriftsteller Viktor Schklowski. Die Filmmusik wurde von Dmitri Schostakowitsch komponiert, Filmversion bei Youtube mit dem Ukrainischen Nationalen Symphonieorchester, D: Theodore Kuchar, rekonstruierte Version der Filmmusik mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, D: Mark Fitz-Gerald. Levon Atovmyan arrangierte eine Gadfly-Suite, die vielfach aufgeführt und aufgenommen wurde, zum Beispiel vom Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi, D: Maxim Rysanov.

Ovod, 1980, R: Nikolai Mashchenko, Teil 1, Teil 2.