Der Blick vom Gipfel als Medium der Befreiung des Geistes – eine romantische Phantasie des noch nicht emanzipierten Bürgertums. Viel besser gefällt mir die aristokratische Praxis von alpinistischen Reisenden, die sich auf Passhöhen die Augen verbinden ließen. Die Aufladung der Höhe – von »oben« und »unten« – mit Bedeutung hat mehrere Quellen. Die griechischen Götter wohnten auf dem Olymp, und Moses brachte die Gesetzestafeln vom Berg Sinai herunter. Moderne Organigramme setzen diese religiöse Metaphorik fort. Hierarchien wurden allerdings schon von den Physiokraten als ungeeignete Organisations- und Darstellungsform der Naturaneignung kritisiert. Neuerdings werden in Managementmodellen Organisationspyramiden durch kreisförmige Darstellungen von Holokratien ersetzt. Zeit also, die Frage, warum Menschen auf Gipfel steigen sollten, ernsthaft zu reflektieren. Bewunderer von Freakshows und der Bergsteigerei sind da keine guten Gesprächspartner.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination. Aus dem Englischen von Gaby Funk. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021
Le Tellier wird die Mitgliedschaft in der Oulipo-Gruppe nachgesagt, deren Autoren seit 1960 vergnügliche Formexperimente machen. In Die Anomalie gibt es nur einen Hauch von Kombinatorik und eine Reihe von Anspielungen auf Jarry, Perec und andere Größen. Ansonsten ist der Text leider ein triviales, uninteressantes Konstrukt, das einige SF-Elemente und Anspielungen auf Probleme der Gegenwart (Corona, Überwachung, schräge Präsidenten-Persönlichkeiten) verbaut.
Ich bedauere die Ausgabe von 19,99 für das E-Book. Verleitet dazu hat mich ein FAZ-Rezensent und Literaturwissenschaftler, dessen Namen ich gar nicht nochmal nachschlagen will.
Hervé Le Tellier erhielt für den 2020 erschienenen und im laufenden Jahr 2021 spielenden Roman Die Anomalie den Prix Goncourt. Eine hohe Auszeichnung, wenn auch nur mit 10 Euro datiert. Die Story: Dasselbe Flugzeug taucht nach dem Durchqueren einer Gewitterwand zweimal wieder auf, im Abstand von drei Monaten (und ein drittes Mal nach einem halben Jahr). Von der Maschine und allen Insassen existieren jetzt Duplikate. Die amerikanischen Geheimdienste sind erregt, organisieren Befragungen und lassen Hypothesen aufstellen. Sie folgen dabei dem Protokoll Nr. 42, das einige Jahre zuvor von einer Graphentheoretikerin und einem Mathematiker für den Fall einer komplett unwahrscheinlichen Luftfahrt-Katastrophe entwickelt worden war. Die Aufklärung und spätere Zusammenführung der menschlichen Dubletten wird anhand einiger Einzelfälle beschrieben und enthält im Rahmen des Plots nur Erwartbares. Die Hypothesen zur Erklärung des Vorgangs sind ebenfalls nicht sonderlich spannend. Das Flugzeug könnte durch ein Wurmloch geflogen sein, es könnte in eine Art 3-D-Fotokopierer geraten sein (mit der Besonderheit, dass die Kopie früher aus dem Gerät herauskommt als das Original), und es könnte sich um eine Simulation handeln, die durch intelligentere Wesen (oder Menschen aus der Zukunft) aus Studienzwecken konstruiert wurde.
Ich war wohl zwölf Jahre alt. In der Schule wurden Freiwillige für einen Bastelwettbewerb gesucht. Etwa die Hälfte der Klasse meldete sich, ich nach kurzem Zögern auch. Für die Anmeldung musste ein Formular ausgefüllt werden, die Interessenten erhielten einige Tage später in der Schule eine Papprolle mit diversen Inhalten. Darunter war ein großes Foto einer Caravelle, eines in Frankreich entwickelten Düsenflugzeugs, das unter anderem von der Scandinavian Airlines (SAS) eingesetzt wurde und wohl auch transatlantische Strecken bewältigen konnte. Außerdem lagen mehrere Schnittmusterbögen und eine Anleitung zu ihrer Nutzung bei, ferner schöne Pappe und Transparenzpapier. Die Aufgabe bestand darin, ein recht großes Pappmodell (nach meiner Erinnerung nahm es einen halben Küchentisch ein) der Caravelle zusammenzukleben. Das Flugzeug hatte an der Heckflosse das SAS-Logo, die Fluggesellschaft hatte den Wettbewerb organisiert, und die Siegermodelle sollten irgendwo in der Innenstadt ausgestellt werden.
Ich war absolut kein talentierter Bastler, mir fehlten auch Umsicht und Geduld für die komplexe Aufgabe. Der Flugzeugrumpf geriet mir ein wenig beulig, die abgerundete Nase blieb auch nach dem zehnten Versuch eine spitze Tüte. Nach zwei, drei Nachmittagen gab ich auf und legte den Papphaufen auf einen Schrank, mit der halbherzigen Vornahme, nach einer Weile einen Versuch zur Komplettierung zu unternehmen.
Dazu kam es natürlich nicht.
Einige Wochen später kam der stellvertretende Schulleiter herunter auf den Übungsplatz neben dem Schulgebäude, auf dem wir im Sportunterricht gerade Hochsprung übten. Er rief mich heran und sagte, in Kürze käme Besuch, zwei Herren, die mich sprechen wollten. Sie könnten kein Deutsch, und ich wüsste wohl, wie man sich auf Englisch bedankt. Ich sagte zweimal »Thank you«, und er zog offenbar befriedigt ab. Tatsächlich kamen eine Weile später zwei Männer mit einem sehr großen Karton, steuerten den Sportlehrer an, dieser rief mich heran, und die Beiden redeten intensiv auf mich ein. Ich hatte erst seit einigen Monaten Englischunterricht und verstand kein Wort. Schließlich reichten sie mir den Karton. Ich war verwirrt, aber brachte leise ein »Thank you« heraus, woraufhin sie sich nach einem weiteren unverständlichen Wortschwall entfernten. Es waren Angestellte der Fluggesellschaft SAS, was ich an den Abzeichen an ihren Jacketts erkannt hatte.
Der Sportlehrer war offenbar in das Komplott eingeweht. Er rief alle zusammen, um uns zu erklären, dass ich den Bastelwettbewerb gewonnen hätte und mir gerade der erste Preis übergeben worden sei. Er gratulierte mir und forderte mich auf, den Karton zu öffnen. Er enthielt ein großes Flugzeugmodell aus Blech, eine Caravelle mit SAS-Logo. Es hatte einen Elektromotor und konnte auf dem Boden herumfahren, gesteuert durch eine drahtgebundene Fernbedienung. Ich war sehr verwirrt, merkte jedoch schnell, dass sich meine Mitschüler nicht nur für das Preisgeschenk interessierten, sondern weitere Fragen hatten, die ich nun schlüssig beantworten musste. Die fertigen Pappmodelle mussten nämlich einige Wochen zuvor in der Schule abgegeben werden, und niemand hatte mich mit meinem Modell gesehen. Ich sagte, dass ich es an dem betreffenden Tag nicht der Gefahr hatte aussetzen wollen, in der Straßenbahn beschädigt zu werden und ich es daher am Nachmittag selbst zur SAS, die eine Niederlassung in der Stadt hatte, gebracht hätte.
Zuhause erklärte ich meinen Eltern, es hätte offenbar die Auslosung eines Preises unter den eingeschriebenen Teilnehmern des Wettbewerbs gegeben, und ich hätte dieses Flugzeug gewonnen. Es machte mir übrigens keinen Spaß, es in der Wohnung herumfahren zu lassen, und ich schenkte es nach ein paar Tagen einem drei Jahre jüngeren Jungen, der bei uns im Haus wohnte.
Das preisgekrönte Modell sah ich mir im Foyer der SAS-Niederlassung an. Es war perfekt, ich hätte so etwas nie hinbekommen. Auf einem Schild vor dem Flugzeug stand mein Name. Ich brauchte lange, um mit meiner Verblüffung fertig zu werden. Mit wem hätte ich darüber reden können? Wie hätte ich den offenkundigen Fehler der Preisjury aufklären können? Wie war der Fehler überhaupt zustande gekommen? Bis heute scheint es mir immer noch am wahrscheinlichsten, dass der eigentliche Sieger seinem Modell einen unleserlichen Zettel mit seinem Namen beigegeben hatte und durch Abgleich mit den zuvor abgegebenen Formularen dann die Wahl auf mich fiel. Einige Wochen lang befürchtete ich, dass der eigentliche Gewinner sich nach einer Inspektion des ausgestellten Modells melden und beschweren könnte und ich zu einer peinlichen Befragung durch die Schulleitung oder durch die Fluggesellschaft vorgeladen würde. Das geschah aber nicht.
Für eine Wiedergutmachung ist es jetzt sicher zu spät. Es drängt mich jedoch dazu, vor aller Welt zu erklären: Es tut mir leid, unbekannter Bastler! Du hattest den Preis wirklich verdient.
Der permanente Blutrausch in öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen ist durchaus ein Ärgernis. Morde und deren Aufklärung emotionalisieren, »optimieren« die Reichweite, sind purer Populismus und belegen somit eine Programmstrategie, die absolut nicht dem gesetzlichen Auftrag dieser Sender entspricht.
Aber man kann diese Videos auch anders sehen. Die amerikanische Autorin Jenny Offill mag europäische Krimiserien:
Ich finde es unendlich interessant, mir das Innere der Wohnungen und Arbeitsplätze von Menschen in anderen Ländern anzuschauen. Von mir aus könnte man den Teil mit den Morden weglassen und mir stattdessen Menschen zeigen, die frühstücken und Lebensmittel einkaufen, und ich fände das genauso interessant.
Das ist der Schlüssel für das gelegentliche Vergnügen, das mir die Serie Barnaby bereitet, in der stilvoll eingerichtete englische Landhäuser für mich die Hauptrolle spielen.
Rolf war mein Freund seit 1969, als er in die Bockenheimer Landstraße 111 einzog. Wir schrieben gemeinsam Referate (Germanistik) und Stellungnahmen gegen die Anmaßung studentischer »Arbeiterpolitik«. Dreißig Jahre später tingelten wir mit Konzepten für historische TV-Dokumentationen und Kulturzeitschriften durch die Förderlandschaften Berlins und Sachsen-Anhalts. Dazwischen und danach trafen wir uns bei Rotwein und Zigaretten, zunehmend nur noch seinen. Er rauchte, was das Zeug hielt. Es hielt nur bis jetzt.