Autor: hero

  • Schreiben Schreiben

    Ein neues »literatursoziologisches Grundlagenwerk« sei die Darmstädter Dissertation von Carolin Amlinger, sagen Werbung und Blurbs. Über 800 Seiten stark, aber beileibe kein Grundlagenwerk. Einige, die diesen Namen eher verdienen, werden darin zitiert. Ansonsten ist die Arbeit ein Potpourri vieler Aspekte, die das Schreiben, die Literatur und vor allem den Literaturmarkt betreffen. Viel weniger wäre mehr gewesen. Ich erwarte von einer Doktorarbeit kein systematisches Werk, aber durchaus einige neue Einsichten, die sich angesichts des tausendfach beackerten Feldes nur durch Vertiefungen erreichen ließen. Daran jedoch ermangelt es dieser Arbeit. Hunderte von Themen werden gestreift, sowohl auf der theoretischen wie auch auf der historischen Ebene. Nebenbei muss man unbegründete Behauptungen ertragen wie die über den Feuilletonroman im 19. Jahrhundert, der mit seinen Fortsetzungen angeblich die »Einheit des Werks« aufgebrochen habe. Das Gegenteil ist ja der Fall: Balzac, Sue, Flaubert, Dickens, Dostojewskij – alle veröffentlichten Fortsetzungen, während der Schreibprozess noch munter weiterging, und erst später wurden die Werke zu einer Einheit zwischen Buchdeckeln zusammengefügt.

    Der Blick auf die soziale Lage von Schriftstellern Ende des 19. Jahrhunderts – zwischen Aristokraten der Schrift und Tintensklaven – ist ebenso flüchtig wie knappe Ansätze von Verlagsgeschichte(n), der Geschichte von Produktionstechniken und der Entwicklungen auf dem deutschen Buchmarkt seit 1945. Die Öffentlichkeit, die durch den Literaturbetrieb der 1950er/1960er Jahre gleichermaßen geschaffen wie repräsentiert wird, stilisiert Amlinger zu einer »Gegenöffentlichkeit«, die »literarische Innovationen jenseits des Warenprinzips erprobte« (191). Was sie damit meint, wird nicht deutlich: Mischkalkulation der Verlage (alter Hut)? Literarischer Samisdat und Raubdrucke? Literarische Teilöffentlichkeit als Korrektiv zur institutionell eingehegten politischen Öffentlichkeit? Hinweise fehlen. Ja, die Autorenreports von Fohrbeck & Wiesand sintemalen (in den 1970er Jahren) haben Stichworte wie »fortschreitende Kommodifizierung« des Literaturbetriebs geliefert, ohne allerdings das »Davor« dieses Fortschreitens deutlich zu charakterisieren. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts war das Buch eine Ware, waren hauptberufliche Schriftstellerinnen häufig in prekären ökonomischen Verhältnissen (oder eben nicht hauptberuflich tätig) usw.

    Die im zweiten Teil des Bandes ausgewertete Umfrage zum Schriftstellerberuf enttäuscht ebenfalls. Die Analyse bleibt flach, Begriffe (wie »Institution Literatur«) werden nicht klar analysiert, der Autonomiebegriff bleibt zweischneidig, und die Folgerungen am Ende des Buchs sind nicht weiterführend. Das Buch ist eine einzige Enttäuschung, besonders für jemanden, der die in ihm angerissenen Prozesse seit fünfzig Jahren beobachtet.


    Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Berlin: Suhrkamp, 2021.

  • Gefühle lassen sich nicht lehren

    Alexander Kluge schreibt über den »Nebel des Krieges«, der die Sinne und die Gefühlswelten unberechenbar werden lässt – und die Rezensenten machen sich auf Stellensuche. Der Autor hat sich bekanntlich nicht für die Unterstützung eines militärischen Siegs der Ukraine im gegenwärtigen Krieg ausgesprochen. Er nimmt Stellung gegen den Krieg. Auch nicht für Frieden (wie sollte der auch einfach vom Himmel fallen?), sondern für Anti-Krieg.

    Die Rezensenten und andere Kommentatoren, denen ohne weiteres unterstellt werden kann, dass sie weder Kluges Buch gelesen noch die in ihm verlinkten Videos angesehen haben, fahnden nach verdächtigen Textpassagen, die für sie belegen, dass Kluge ein unsicherer Kantonist ist. Sie akzeptieren keine Ungewissheit, keine produktiven Grauzonen und Erschöpfungszustände, aus denen vielleicht plötzlich der Wille zur Waffenruhe entstehen könnte. Die meisten kennen offenbar auch nicht Bertolt Brechts Kriegsfibel, die auf 69 Bilddokumenten und Zeitungsausschnitten basierende Gedichte enthält, die lehren sollen, die wiedergegebenen Bilder zu lesen. Das Buch erschien erst 1955, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und von Brechts Sammlung.

    Eine Zeitenwende beobachtete schon Brecht. Damals eine Tragödie. Inzwischen ein wohlfeiles Narrativ.

    Beklagt wird, dass der Autor nicht eindeutig im Sinne des Unbezweifelbaren und Richtigen Stellung nimmt, sondern vieles offen lässt. Die Sucht nach dem Unbezweifelbaren und Richtigen, die Berufung auf nicht verhandelbare Werte, Welterklärungen aus einem Guss: das sind lehrbuchartige Kennzeichen von Ideologie. Kluge besteht auf hinterfragbaren Argumenten, stellt an manchen Orten im Buch sogar zwei Varianten nebeneinander, auch im Hinblick auf die Interpretation der Absichten des russischen Präsidenten.

    Kriege wie die amerikanischen Angriffe auf den Irak und Afghanistan basieren nicht auf dem Ratschluss einzelner mächtiger Individuen. »Es gab aggressive Vorbereitung durch Lobbyisten und republikanisch gesinnte Wissenschaftler in den Stiftungen in Washington. Hier in den Stiftungen entstanden die Pläne für die Besiegung des Islam, die Niederlage des Iran, die Generallösung im Nahen Osten.« (96) Deutsche Institute und Stiftungen – zuvörderst die Wiederauflage des Deutschen Wehrvereins, das »Zentrum Liberale Moderne« – machen sich seit Beginn des Jahres 2022 mit aggressiv-militaristischen Tönen bemerkbar und verfolgen verbal jeden, der sich dem Einstieg in die Todesspirale der militärischen Teilnahme am Krieg – zur Abwehr der russischen Aggression – widersetzt.


    Kluge, Alexander: Kriegsfibel 2023. Berlin: Suhrkamp, 2023.

  • Workflow mit Markdown (2)

    Zu Teil 1

    In den letzten sechs Jahren habe ich mich hauptsächlich mit soziologischen und medienwissenschaftlichen Fragen beschäftigt und auch viel geschrieben. Ein Buch, ein buchlanges Manuskript, eine Reihe von Vorträgen und Artikeln – alles wurde und wird in einer um einen Markdown-Editor herum organisierten Umgebung verfasst. Das war zunächst Ulysses, dann Typora, jetzt Obsidian.

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  • Sehnsucht nach dem Richtigen

    Renegaten noch und noch: Friedenstauben werden zu Falken (wer hätte das bei Toni Hofreiter geahnt?), Marxisten-Leninisten zu Partnern der – wie sie damals sagten – »aggressivsten Fraktion des Monopolkapitals«, vormalig kritisch-analytische Geister zu penetranten Legendenverbreitern. Ich erkläre mir das unter anderem als Sehnsucht nach dem Eindeutigen, Richtigen, Unbezweifelbaren. Der Mainstream liefert diese Pharmaka nicht. Wie schon vor dem 1. Weltkrieg vergrößert sich die Verstörung auch kluger Geister, die irgendwie das Ganze zu fassen bekommen wollen, es aber nicht finden und formulieren können. Durch den Eintritt in einen geordneten Raum (autoritäre Parteiorganisationen, George-Kreis) und den Anschluss an geordnete Welterklärungen (Historischer Materialismus, Rassenideologien) konnte damals die Unruhe für zeitweilig gedämpft werden. Die aktuellen Überläufer zu den Querdenkern usw. haben – sofern sie eher meiner Generation angehören – oft eine Vergangenheit in kommunistischen Parteisekten. Da gibt es eine Gruppe, die zur Zeit erfolgreich den Mainstream vor sich hertreibt. Die fast kriegslüsternen Russland-Ukraine-Kommentare von Schlögel, Koenen, Fücks, Beck, Bütikofer et al. erinnern an ihre wüsten »antirevisionistischen« Schimpfkanonaden der 1970er. Dass es dabei nun zu Bündnissen mit der deutschen Waffenlobby (Strack-Zimmermann) kommt, stört sie überhaupt nicht. Die andere Gruppe ist schon vor einigen Jahren zur Achse des Guten, zu Tichys Einblick, zu den Nachdenkseiten und den noch eindeutigeren Foren und Gruppierungen übergelaufen. Dutzende früherer Linker (von Sponti bis ML) sind diesen Weg gegangen sind und geistern nun zum Teil bei den Identitären herum. Eine dritte Gruppe zieht offenbar aus DDR-Erfahrungen ähnliche Konsequenzen (Michael Meyen, Uwe Tellkamp).

    Oft wird, vor allem von sozialdemokratisch geprägten Zeitgenossen, die »gemeinsame« Basis für die gesellschaftliche Kommunikation, Deliberation und Konfliktlösung beschworen. Sie sei durch spaltende Menschen und Medien bedroht, wenn nicht gar schon vernichtet worden. Der Sozialdemokratie ist die Arbeiterklasse als Massenbasis entschwunden – wobei ohnehin Zweifel an dieser Beschreibung angebracht sind –, und stellt nun fest, dass auch die »Mitte« aus vielen Partikularinteressen zusammengesetzt ist. Allerdings stimmt die Wahrnehmung des Verlusts der Gemeinsamkeit wohl gar nicht. Die gemeinsame Basis oder der gemeinsame Hintergrund der gesellschaftlichen Kommunikation wird in einigen Studien durchaus bestätigt. Das Informationsbudget auch der systemkritischen Gruppen enthält immer auch die Mainstream-Medien. Gerade diese Gruppen sind nicht Opfer einer Filterblase, sondern wählen selbstbewusst Informationsquellen aus. Ebenso sind Echokammern ihre aktive Wahl, diese bestätigen ihnen (zumindest vermeintlich) die ersehnte Selbstwirksamkeit.

    Mit der Darstellung von Algorithmen als Täter und Mediennutzern als Opfer (besonders spezialisiert darauf hat sich Carsten Brosda, ein schlimmer medienrechtlicher Unterstützer dieser Sicht ist Rolf Schwartmann) wollen sich Medienpolitiker und Institutionen wie die Landesmedienanstalten die Legitimation für ihr Regulierungshandeln verschaffen. Zu beobachten ist das bei Social Media, jetzt auch bei ChatGPT. Ich halte das in manchen Auswüchsen (Schwartmann will die Metas und Alphabets zu einer »zweiten Säule« von Klickvorschlägen verpflichten, die den staatlichen Vorstellungen von Ausgewogenheit entsprechen) für geradezu demokratiegefährdend. Brosda äußert sich gerade wieder in der FAZ: Zwar wüsste momentan noch niemand, ob und wie die KI die öffentliche Kommunikation verändern wird, aber wir stehen hier an »Kipppunkten«, unsere demokratische Souveränität ist in Gefahr, vor allem durch chinesische KI-Angebote. Welche das sind, um welche konkreten Auswirkungen es gehen könnte usw., führt Brosda nicht aus. Ihm ist offenbar vor allem wichtig, ein erregendes Thema gefunden zu haben, mit dem die Regulatoren die Öffentlichkeit mobilisieren können. Die China-Keule passt einfach überall.

    Die von Sunstein, Pariser und anderen auf anekdotischer Basis heraufbeschworenen Erscheinungen finden eigentlich nur bei einer Gruppe von Mediennutzern einen Grund: den Nur-Fernsehern der Seniorenklasse. Die kennen die Welt nur noch aus den Heute- und Tagesschau-Nachrichten und können sich wunderbar darüber austauschen, welche Farbe das Kleid von Annalena Baerbock bei ihrem G7-Auftritt hatte. Die Angemessenheit der Weltsicht, die über die Fernsehnachrichten vermittelt wird, scheint mir ein wesentlich wichtigeres und auch Erregung verdienendes Thema zu sein als Phantastereien über den chinesischen Einfluss auf die hiesige Meinungsbildung.


    Foto: Senator Carsten Brosda ©Hernandez für Behörde für Kultur und Medien Hamburg

  • Ablage B

    – wie Bücherschrank an der nächsten Straßenecke.

    Manche Bücher laden für eine gewisse Zeit zur Lektüre und Auseinandersetzung ein. Voraussetzung dafür ist nicht unbedingt die Sympathie für Autoren, Stoffe, Schreibweise, Argumentationsform. Vor einem Jahr kam bei Vielen das Gefühl auf, nun müsse endlich die immer wieder einmal aufgeschobene Beschäftigung mit der russischen und/oder ukrainischen Geschichte nachgeholt werden. Auch bei mir. Nicht einmal die verbale Militanz, mit der Karl Schlögel und Gerd Koenen in den ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine für fast grenzenlose Vergeltung eintraten, hat mich abgeschreckt, ihre Bücher zu lesen. Das habe ich hier in meinem Blog von März bis Mai 2022 auch mehrfach dokumentiert. Von Koenen, einem früheren zeitweiligen Mitbewohner in einer Frankfurter WG, mit dessen frisch erworbener proletarischer Attitüde 1970 die große Mickey Mouse auf der Speisekammertür nicht vereinbar war, las ich dann auch noch sein Buch über seine Sicht der Studentenrevolte, des kommunistischen Parteigründungsklamauks und der Gewaltspirale der RAF-Melancholiker. Es ist ein schwaches Buch, voller Selbstrechtfertigung und fehlender Selbstkritik. »Der rote Großvater erzählt« hieß ein in den 1970er Jahren vielgelesenes Buch mit autobiographischen Berichten von linken Arbeitern. Da gab es nicht Meinung, sondern Erlebnis. Im »roten Jahrzehnt« gibt es nur Meinung und weder Erlebnis noch durchdachte Geschichte. Ähnlich geht es auch in seinem Russland-Buch zu. Ein roter Faden wird erfunden, um an ihm ausgewählte Ereignisse aufzuhängen, die ein Geschichtsbild abgeben sollen. Ohne hier die Diskussion aufnehmen zu wollen, wie Geschichte denn sonst »erzählt« werden kann, möchte ich nur sagen: Die Erzählweise dieses Buch verlangt die Identifikation mit der Perspektive des Erzählers Koenen, und dafür stehe ich nicht zur Verfügung. Ich habe mich dem Zwang ausgesetzt, das Buch auszulesen, aber nun möchte ich es nicht mehr um mich haben. Ähnliches gilt auch für das Werk von Karl Schlögel, über dessen kulinarische und selbstverliebte Schreibweise ich mich hier im Blog schon geäußert habe. Bücher, die ihre Leser quasi zwingen, sich mit ihren Autoren und ihrer Sicht mehr zu befassen als mit ihren Gegenständen, sind bei einer gewissen Spielart der Literaturkritik beliebt (»Literarisches Leben«), aber mich interessiert nicht der Fabulierer, sondern die Fabel. Ich möchte beim Lesen einer »Geschichtserzählung« erleben, wie Ereignisse quasi von innen von den Strukturen Besitz ergreifen (wie Ricœur des einmal formuliert hat). Bloßes subjektives Fabulieren langweilt.

    Daher: Keine Wiedervorlage oder erneute Lektüre, sondern Ablage B.