Kategorie: Rezensionen

  • Der Knall der Geschichtszeit

    Karl Schlögels Buch ist im Frühjahr 2022 ein Bestseller. Häufig sind anerkennende und bewundernde Sätze zu hören: Schlögel habe schon 2015 all das gesehen und beschrieben, was wir anderen erst heute bemerken und erleben. Es trifft zu, dass Schlögel die generelle Ignoranz gegenüber der Ukraine und die nur oberflächliche Befassung mit den planmäßigen russischen Interventionen schon damals aufgegriffen und gegeißelt hat. Es ist jedoch auch möglich, die Bemerkung umzukehren: Es ist schon verwunderlich, dass Schlögel 2022 in verschiedenen Beiträgen und Interviews nichts anderes sagt als schon 2015, und das oft wortwörtlich. Dabei könnte es sich durchaus lohnen, auch Unterschiede zwischen 2013–15 und heute herauszuarbeiten. Das ist allerdings nicht das Thema hier.

    Einige einleitende Passagen des Buchs sind durchaus schon merkwürdig. Karl Schlögel zwingt seine Leser von Beginn an zur Befassung nicht nur mit den titelgebenden Gegenständen (Ukraine, Lehren aus der Geschichte – diese Erwartung wurde zumindest bei mir erzeugt), sondern auch mit seiner Person. Im Jahr 2015 nutzen annähernd 80% der deutschen Bevölkerung das Internet, und ein 67-jähriger Wissenschaftler und Autor kokettiert damit, er habe »Widerstand gegen das Internet, die jederzeitige Verfügbarkeit« sowie gegen die drohende Infektion mit der »Bildersucht« oder dem Absturz in bloßen »Zeitvertreib«. Aber die veränderten Umstände, nämlich die Annexion der Krim sowie die Unterstützung separatistischer Bestrebungen in der Ost- und Südukraine durch Russland veranlassen ihn zu einem Sinneswandel. Das Internet verwandelt nun auch Schlögels Gelehrtenklause in einen Situation Room, in dem er die Lage an den ukrainischen Fronten verfolgen kann. Also – willkommen im Leben!

    An jeder beliebigen Stelle des Buchs erfahren die Leser vor allem etwas über Karl Schlögel. »In die Beschreibung der Stadtlandschaften fallen die Granaten, die sie zerfetzen«, schreibt er, was ihn nicht davon abgehalten hat, einige dieser Beschreibungen in seinem Buch vorzulegen. Dafür lehnt er 2014 die an ihn für Verdienste auf dem Feld der deutsch-russischen kulturellen Verständigung verliehene Puschkin-Medaille ab – und seitdem in vielen Meinungsbeiträgen auch die Verständigung mit Russland. Bis zur Krim-Annexion bzw. zur Puschkin-Medaille stand Schlögels Verhältnis zu dem Land unter dem Zeichen der »Verzauberung« oder hatte Eigenschaften einer »Verstrickung«. Details dazu benennt er nur spärlich, und alle sind nur interessant für diejenigen, die sich für Karl Schlögel interessieren. Zum Beispiel die Bücherpakete, die er als Schüler und Radionaut von Radio Moskau geschickt bekam. Oder die Erfahrung der Gastfreundschaft einfacher Leute bei Reisen in die Sowjetunion. Das Verschweigen konkreter Bezüge und Begründungen ist ein Charakteristikum der einleitenden Teile, die das erste Viertel des Buchs ausmachen. Schlögel spricht von »Hauptthemen«, ohne welche zu benennen, über »Pseudoerklärungen«, ohne sie aufzuspießen. Viele Themen, von denen nur Überschriften angedeutet werden, lösen sich auf in einen oberflächlichen Erzählstrom.

    Die ideologischen und mythologischen Orientierungen offizieller Vertreter Russlands rücken seit dem Amtsantritt von Putin immer mehr in den Fokus von Kommentatoren. Dabei werden die wuchernden vaterländischen Mythen und im Lichte westeuropäischer Standards ganz fremd gewordene Ruhm- und Ehre-Begriffe oft mit wenig überzeugenden Idealen und Moralbegriffen gekontert. Mythen lassen sich nicht widerlegen, aber vielleicht doch interpretieren und erklären, um ihnen anders als durch die schlichte Konfrontation mit der eigenen, »faktenbasierten« Überzeugung zu begegnen. Mehrfach weist Schlögel auf den Unterschied zwischen »fact und fiction«, »Wahrheit und Lüge« hin, bemüht sich jedoch nicht um die Analyse der Verankerung von »Fakten« in der sozialen Kommunikation der russischen Bevölkerung. Offenkundig entspricht sein Bild der Propagandawirkung der russischen Regierungspolitik und ihrer Medien der Vorstellung der »magic bullets«, die der frühe Behaviorismus entwickelte. Fakt und Fiktion sollen unterschieden werden, sagt Schlögel, um nicht noch einmal den von Julian Benda so benannten »Verrat der Intellektuellen« zu begehen. Dass die Verrats-Formel bei Benda gegen Intellektuelle gerichtet war, die sich im Sturm der Leidenschaft einer politischen Richtung zugesellten, anstatt gegenüber dem politischen und ideologischen Treiben in der Umgebung distanziert zu bleiben, nimmt Schlögel dabei nicht zur Kenntnis – er selbst will ja eigentlich das Gegenteil: die Mobilisierung der Gefühle für die Sache der Ukraine und gegen Russland. (Eine schöne und kurze Rezension des Buchs von Julien Benda schrieb übrigens 1928 Walter Benjamin.)

    Völlig misslungen ist der Versuch, die »Frontier«-These von Frederick Jackson Turner auf die Ukraine zu übertragen. Turners Narrativ – die Verwandlung einer angeblichen Wildnis in Zivilisation einschließlich der Zivilisierung der Siedler (und de facto ein systematischer Landraub und die Dezimierung der Ureinwohner) – findet in der ukrainischen Geschichte keinen Vergleichsanker.

    Dass die russische Aggression ein Katalysator für die Bildung der ukrainischen Nation sei, wird im Buch gesagt und ist auch 2022 eine gängige These. Was unter »Nation« zu verstehen ist, wird im Buch wie auch in der aktuellen Diskussion häufig nicht ausgeführt. Zu beobachten ist allerdings die Ausbreitung nationalistischen Nebels, an der die tägliche Propagandaarbeit des in dieser Hinsicht geübten ukrainischen Präsidenten eine gehörigen Anteil hat. Die Schlögelsche Formel, es geschehe eine »Selbstverständigung der Nation über sich selbst« ist allerdings kategorial problematisch und bleibt somit inhaltsleer. Bestehen Allgemeinbegriffe wie »Nation« oder »Gesellschaft« denn aus miteinander kommunizierenden und deliberierenden Subjekten? Ein weiterer inhaltsleerer Begriff ist »Europa«: Russland will »Europa« destabilisieren, die Ukraine liegt »mitten in Europa«, in der Ukraine steht »Europa« auf dem Spiel.

    Das Buch ist voller Redundanzen und vermittelt in vielen Passagen kaum etwas, das über die Selbstbezogenheit des Autors hinausginge. Die Städte-Kapitel, die den größeren Teil des Buchs ausmachen, sind Kiew, Odessa, Jalta, Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk, Czernowitz und Lemberg gewidmet. Die behandelten Gegenstände und der Ton entsprechen der bildungsbürgerlichen Tradition des Baedeker (den Schlögel auch mehrfach erwähnt). Der Autor ist kein Ethnograph – aber muss er deshalb seine Darstellung im Prinzip menschenleer gestalten? Sie enthält über viele Seiten Aufzählungen »prächtiger« Bauwerke und der Umgebungen, in denen sich bis zur Bolschewisierung der Ukraine ein bürgerlicher Lebensstil entfaltete. Der Unterschied Stadt – Land wird nicht thematisiert. Andere Historiker weisen allerdings permanent darauf hin, dass im wesentlichen die frühere Landbevölkerung als »ukrainisch« bezeichnet werden kann, während die Städte eher polnisch, jüdisch, russisch und in manchen Fällen auch deutsch geprägt waren.

    In den Stadtbeschreibungen werden Erwartungen, dass eine historische Spurensuche etwas über den Alltag der früheren Bewohner und Nutzer der jeweiligen Städte aufdeckt, enttäuscht. Was nicht durch Glanz oder Größe imponiert, wird gleich ausgesondert und nicht behandelt, seien es Stadtviertel in ihrer architektonischen Gestalt oder ihre Bewohner. Es bleibt auch bei der Würdigung der Städte als Handelsplätze oder Verkehrszentren beim Blick von oben, zum Beispiel im Hinblick auf die planmäßige Stadtentwicklung in Kiew im 18. Jahrhundert und das Wachstum der Stadt im Verlauf der Industrialisierung. Beim Durchgang durch die historischen Phasen – Zarismus, Erster Weltkrieg und folgende Wirren, Bolschewisierung, deutsche Besatzung usw. – fällt auf, dass zwar die systematische Eliminierung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer thematisiert wird, nicht aber die teilweise durchaus umfangreichen Pogrome vor der Konsolidierung der Sowjetherrschaft in der Ukraine. Vor allem Kiew war ein Schauplatz solcher Akte. Schlögel erwähnt Pogrome nur ganz punktuell mit wenigen Worten. Beispielsweise Bulgakows Weiße Garde zeigt, wie präsent Judenmorde in der Zeit von 1917 bis 1921 gewesen sein müssen.

    Die Lektüre des Bandes wird immer wieder durch das romantisierende und selbstverliebte Pathos Schlögels erschwert. Im Czernowitz-Kapitel zitiert er anrührende Schtetl-Beschreibungen, an denen sich die Leserschaft des Zeit-Reiseteils sicher delektieren würde. An einer anderen Stelle – im Donezk-Kapitel – gibt der Autor jegliche Selbstdisziplin auf und wechselt auf mehreren Seiten zu gonzofeuilletonischen Beschreibungen über. Ein Satz von vielen: »Die Erwachsenen haben sich schon an den Ton der Alarmsirenen, der sie sonst erschreckt hatte, gewöhnt, und die Kinder können bald nicht mehr schlafen, wenn der Gefechtslärm einmal verstummt.« So könnte es bei Familien im Raum Donezk 2014 gewesen sein – aber weder hat der Autor dort die Situation der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten miterlebt noch nennt er Quellen für diese Szenen.

    Ich habe vor einigen Jahren Schlögels Buch Terror und Traum (erschienen 2008) gelesen, in dem das Moskau des Jahres 1937 den Ausgangspunkt zu Betrachtungen über Politik und Kultur in der damaligen Sowjetunion bildet. Das narrative Geschichtsfeuilleton, das dabei auf 800 Seiten entsteht, war leichtverdaulich, aber hat mich zurückgelassen wie die Lektüre einer kompletten Spiegel-Ausgabe, bei der ich hinterher auch nicht mehr sagen kann, was eigentlich drinsteht. Am deutlichsten in Erinnerung habe ich einen Abschnitt über das Staatsbegräbnis eines Volkskommissars, der Selbstmord begangen hatte. Jedenfalls lebte hier der Historiker seinen Erzähldrang aus, während aus dem Buch Entscheidung in Kiew am ehesten der Privatmensch spricht. Dieser hat einige Reisen in die Ukraine und Russland unternommen und liefert nun seinen Freunden und Bekannten Erlebnisberichte, durchmischt mit Einschätzungen zur Weltlage, speziell zur Situation und möglichen Entwicklung des Konflikts in und um die Ukraine. Die Offenbarung der privaten Position ist mit Risiken verbunden, weshalb ich den Versuch, ganz »aus dem Gefühl« heraus zu schreiben, durchaus achte. Am Ende haben die Leser allerdings das Problem, dass sie über viele Seiten mit »Haltungen« und Meinungen konfrontiert wurden, die sie nur bejahen oder ablehnen können; eine argumentative Auseinandersetzung mit diesen Anteilen des Texts ist kaum möglich. Dass für den Autor die aggressive Vorgehensweise Russlands eine »metaphysische Kränkung« darstellt, wie er schreibt, muss mich wirklich nicht interessieren. Im Gegenteil, ich möchte davon verschont bleiben.

    Doch nun auf einmal: Die Geschichtszeit meldete sich mit einem großen Knall zurück, unterbrach das Kontinuum der Zeit, individuelle Lebenszeit und Geschichtszeit traten mit einem Male schroff und schmerzhaft auseinander. (…) Jedenfalls gab es Grund zu einer Beunruhigung, in der sich etwas zurückgemeldet hatte, was früher einmal als »unheimlich« bezeichnet worden war.

    Die Re-Mystifizierung der Geschichte aus der verlässlichen Quelle moralischer Empfindungen ist etwas, worauf Deutschland offenbar schon allzulange verzichten musste.


    Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. München: Hanser, 2015

  • Schüsse in Kiew

    Russisches Reich um 1900

    Der Krieg/Bürgerkrieg erzeugt bei den handelnden Personen durch das Näherrücken konkreter Kampfhandlungen zwar Aufregung, wird jedoch letztlich gelassen als Gegebenheit akzeptiert. Die Position der Erzählfiguren zu den in der Stadt handelnden Parteien ist eindeutiger als die Positionierung der realen Truppen:

    »– Alles Schweinehunde. Der Hetman wie Petljura. Nur dass Petljura außerdem noch ein Freund von Pogromen ist. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, mir ist langweilig, ich habe schon zu lange keine Bombe mehr geworfen.«

    Bulgakow schreibt – und Alexander Nitzberg übersetzt – lautmalerisch und elliptisch, montiert Dialogfetzen mit Bildfragmenten und inneren Monologen. Sein Roman, der 1924 erschien, bricht ganz und gar mit den Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, Bulgakow ist gewissermaßen ein Anti-Tolstoi. Er konstruiert kein Gesellschaftspanorama, arbeitet auch nicht an der Festigung des Selbstbildes einer der gesellschaftlichen Gruppen. Über die Ukrainizität mancher Stadtbewohner macht er allerdings kritische Bemerkungen. Der Grobianismus, die Rudelhaftigkeit von Versammlungen, die Kriminalität und der radikale Hass auf alles Nicht-Ukrainische tauchen an manchen Stellen als Muster auf. Aus diesem Grund ist das Buch in der Ukraine seit 1991 auch nicht beliebt.

    Ich habe ein Viertel des Buchs zunächst in der früheren Übersetzung von Larissa Robiné gelesen und fand dort, dass zwar die schnellen Sprünge der Montage vorhanden waren, auf der Mikro-Ebene des Textes jedoch, in den einzelnen Sätzen und auch in der Wortwahl eine gewisse Behäbigkeit vorherrscht. Das ist bei Alexander Nitzberg ganz anders. Gerade weil das Buch bei ihm auf allen Ebenen verstörend wirkt, ist diese deutsche Fassung diejenige, die das Buch auch für heutige deutsche Leser zum Ereignis machen kann.


    Michail Bulgakow: Die weiße Garde.

    • Übersetzung von Larissa Robiné und Thomas Reschke. Berlin: Volk und Welt, 1992
    • Übersetzung von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2018
  • Schüsse in der Ukraine

    Gaito Gasdanow war ein 1903 geborener russischer Schriftsteller, der zum Teil in der Ukraine aufwuchs und als 16-Jähriger in der Weißen Armee auf ukrainischem Gebiet gegen die bolschewistischen Truppen kämpfte. Nach der Niederlage der Weißen gelang ihm die Emigration. Er lebte dann überwiegend in Paris.

    Der kurze Roman Das Phantom des Alexander Wolf erschien 1948 und ist eine filmreife Geschichte, in der sich der Erzähler und sein Kontrahent zweimal begegnen. Das erste Mal schießen sie im Bürgerkrieg aufeinander, wobei Wolf (fast) ums Leben kommt. Das zweite Mal treffen sie sich in Paris, der Erzähler arbeitet dort als Journalist. Wolf hatte einen Roman über die Begebenheit in »Südrussland« geschrieben, an der er und der Erzähler beteiligt waren. Nun lebt der Erzähler mit der Frau zusammen, die vorher mit Wolf in London verbunden war. Am Ende kommt es wieder zu Schüssen, an denen Wolf nunmehr stirbt.

    Der Text ist nicht sonderlich kunstvoll aufgebaut, aber hält eine gewisse Spannung durch die mehrfach verzögerte Offenbarung der Identitäten der beiden Kontrahenten aufrecht. Ein Hauch von Agatha Christie ist vorhanden, gepaart mit einer robusten Zuwendung zu den Tatsachen des Lebens, einschließlich einiger Blicke auf das Leben von Emigranten in Paris.


    Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf. München: Hanser, 2012

  • Nationalistischer Folklorekitsch

    Die post-jugoslawischen Staatengebilde haben ihrer Bevölkerung durchaus andere Probleme bereitet als die post-sowjetischen. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde 1945 gegründet, aber schon 1948 vollzog der frühere Partisanenführer, dann Parteivorsitzende, Regierungschef und Staatspräsident Tito die Loslösung aus der Ideologie und der administrativen Praxis des stalinistischen sozialistischen Systems. Der jugoslawische Sozialismus war in seinem ersten Jahrzehnt noch aggressiv gegen tatsächliche und vermeintliche NS-Kollaborateure, dann aber weitaus »liberaler«, mit einer »sozialistischen Marktwirtschaft« im Inneren und einer nach außen verkündeten Blockfreiheit. Die Regierung gelang es vier Jahrzehnte lang, die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Differenzen in der jugoslawischen Föderation zu verwischen. Literatur, Kunst und Wissenschaft genossen weitaus größere Freiheiten als in den Warschauer-Pakt-Staaten, es gab keine Reisebeschränkungen für die Bürger.

    In der Praxis hieß das für den jugoslawischen Schriftsteller, die lateinisch und kyrillisch geschriebenen Literaturen der jugoslawischen Völker zu kennen, in Zagreb zu leben, in Belgrad verlegt, in Ljubljana, Sarajevo, Skopje und Priština gelesen zu werden. Es bedeutete, ungehindert verschiedene Kulturen zu leben und sie als die eigenen zu erleben. (S. 58)

    Als Tito 1980 starb, traten wirtschaftliche Krisenerscheinungen an die Oberfläche, und mit ihnen zerbröselte auch der innere Zusammenhalt des Landes. Durch den Zerfall des Sowjetblocks wurde die sich immer auf auf diesen Block beziehende Sonderrolle Jugoslawiens hinfällig, neben der Blockfreiheit auch sozialistische »Errungenschaften« wie die Arbeiterselbstverwaltung. Anstelle der vom Personenkults um Tito gestützten Einheitspartei eroberten nun nationalistische Gruppierungen in den Teilrepubliken die Macht, erzwangen Abgrenzungen, Umsiedlungen, ethnische Säuberungen und zettelten schließlich Kriege gegeneinander und innerhalb ihrer Gebiete an.

    Es darf daher nicht wundern, dass der Umbruch ab 1990 in Jugoslawien nicht als Befreiung, sondern als Absturz in den Atavismus beschrieben werden kann. Und an dieser Stelle entstehen die Probleme, die Dubravka Ugrešič in ihrer 1994 zusammengestellten Essay-Sammlung aufgreift. Die Texte wurden auf Kroatisch geschrieben, das Buch erschien jedoch nicht in Kroatien. Die Autorin musste aufgrund vieler Anfeindungen das Land verlassen und lebt hauptsächlich in Amsterdam. Der Grund ihres Gangs in das Exil findet sich in einer Anekdote, die sie im Buch und auch bei anderer Gelegenheit erzählt. In Zagreber Läden tauchten plötzlich Dosen im Stil von Cola-Dosen auf, deren Inhalt »Saubere Kroatische Luft« war. Für Ugrešič war das ein Symbol für ethnische Reinheit, deren Herstellung mit aller Brutalität auch betrieben wurde. Die Räumung und Sprengung von Wohnhäusern, pogromartige Aktionen und Diskriminierungen, die Wiedererweckung nationaler Symbolfiguren, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs antisemitische Säuberungen verordnet haben, die Vernichtung von Büchern der anderen Volksgruppen, all das konnte offenbar öffentlich nicht mehr kritisiert werden.

    Die »Demokratisierung« der jugoslawischen Republiken brachte nicht mehr Freiheit und nicht mehr Wohlstand. Die Länder wurden ärmer und die Menschen unglücklicher.

    Anstelle wirklicher Demokratie haben sie (die einen als Verteidiger, die anderen als Angreifer) kleine, totalitäre Gemeinwesen errichtet. Sie haben den Bürger zur gehorsamen Nummer gemacht; statt freier Medien gibt es deren strenge Kontrolle; … statt einer freien Rechtsprechung gibt es eine reglementierte; statt zu demilitarisieren, wird eine angeblich notwendige Militarisierung betrieben. (S. 66)

    Begleitet wurden diese Veränderungen von symbolischen Aktionen, die Ugrešič als nationalistischen Kitsch bezeichnet. Diese Aktionen beförderten die Transformation vom Fiktiven ins Reale, in eine mythische Zeit, in der die Trennung zwischen existenter und nicht-existenter Welt aufgehoben ist. Ein Faktor dabei ist der »Terror des Erinnerns«, die künstliche Erzeugung nationaler Identitäten und ihrer Wurzeln. Ein anderer Faktor ist der Krieg.

    Das Buch motiviert dazu, die Geschichte(n) der unterschiedlichen Entwicklungen ost- und südosteuropäischer Länder noch einmal genauer nachzuverfolgen. Die Nennung von Städtenamen wie Sarajevo und Srebenica ruft einige Bilder auf, die seit den 1990er Jahren zu passenden Anlässen immer verbreitet werden. Zusammenhänge werden mit solchen Medienbildern nicht erklärt, die Bilder geraten stattdessen in einen mythischen Raum und werden für beliebige Darstellungen einsetzbar. Davor bewahrt Dubravka Ugrešič die Leser, zumindest für die Geschichte des Zerfalls der jugoslawischen Einheit.


    Zwei Interviews und ein Vortrag von Dubravka Ugrešič finden sich bei Youtube.


    Dubravka Ugrešič: Die Kultur der Lüge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995

  • Das Trauma bleibt

    Dubravka Ugrešić wurde 1949 in Kroatien geboren und lebt seit 1993 in Amsterdam.

    Dieser post-jugoslawische autofiktionale Roman spielt überwiegend im niederländischen Exil-Ambiente der Erzählerin. Sie ist in Amsterdam Dozentin für serbokroatische Literatur und hat Studenten, die ebenso wie sie aus ehemals jugoslawischen Regionen stammen. Sie bilden über zwei Semester hinweg eine feste Gruppe, deren Mitglieder sich gegenseitig stabilisieren. Die meisten haben traumatische Kriegserfahrungen ins Exil mitgebracht. Es gibt unter ihnen auch zweifache Opfer, zunächst des Miloševič-Regimes und dann der Nato-Bombardierung Jugoslawiens. Sie studieren serbokroatische Literatur, weil es für sie das einfachste Fach ist und sie auf diese Weise ein Aufenthaltsrecht haben. Der Student Uroš verübt allerdings Selbstmord, was die Gruppe und die Dozentin sehr belastet.

    Den Besuch des Internationalen Tribunals über Angeklagte aus dem früheren Jugoslawien bricht die Protagonistin ab, weil dort offenbar wird, dass niemand sich in irgendeiner Weise als schuldig bekennt.

    Nach zwei Semestern ist ihr Job an der Universität beendet, den ihr der Ehemann einer kroatischen Migrantin besorgt hatte. Einer der Studenten ihrer Gruppe besucht sie in ihrer Wohnung, fesselt und knebelt sie und fügt ihr Schnitte mit einer Rasierklinge zu. Sie übersteht diese Attacke bemerkenswert stoisch und zieht in die Wohnung um, die ihr eine ihrer Studentinnen überlassen hat. Statt im Rotlichtviertel Amsterdams lebst sie nun in ›Klein-Casablanca‹, wie der Amsterdamer Vorort genannt wird. Die Protagonistin ordnet sich der Migranten-Population ihres Viertels zu, den ›Barbaren‹.

    Das Buch wird im letzten Viertel immer fragmentarischer und dunkler.

    Transitorische Mutanten nennt die Erzählerin die Exilanten, die es ›geschafft‹ haben, die sich erfolgreich ›integriert‹ haben. Sie selbst lebt weiterhin mit ihrem Trauma und Bildern, in denen sich ältere und aktuelle Erfahrungen in einem düsteren und hoffnungslos stimmenden Amalgam verbinden. Die ›Balkan-Litanei‹ wird zeitlebens ein Teil von ihr bleiben.

    Der – allerdings durchaus mehrdeutige – Titel des Buchs bezieht sich auf einen Laden mit sado-masochistischen Requisiten im Amsterdamer Rotlichtviertel.


    Dubravka Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2005