Kategorie: Rezensionen

  • Der Esel bedeutet immer auch sein Gegenteil

    2023_01_Esel_Deneuve

    Ein Buch für Wissende und Unwissende gleichermaßen. Esel figurieren in der historischen Alltagskommunikation, in literarischen und philosophischen Texten oft als dumm, störrisch und indolent. Ihnen wird absurderweise ihre Langohrigkeit vorgeworfen (Nietzsche betont deshalb das kleine Format seiner eigenen Ohren), zudem ihr passiver Widerstand. Dass Esel in Gefahrensituationen stehenbleiben, ist keine Dummheit, sondern für Tiere, die im Gebirge auf Geröll herumlaufen, lebensrettend. In der Verächtlichmachung von Eseln durch Legenden wie die von Buridans Esel, der unentschieden zwischen zwei Heuhaufen verhungert, steckt offenbar immer eine heimliche Bewunderung der Lebenskraft dieser Tiere. Diese wird in manchen Mythen und Fabeln nicht nur angedeutet, sondern von Lukian bis Shakespeare auch drastisch beschrieben.

    Esel sind keine fehlerhaften Pferde, wie eine ausführliche und kritische Lektüre der Schriften von Buffon bis Darwin ergibt. Buffon erkannte, dass Esel und Pferde getrennte Arten darstellen, weil die aus Kreuzungen hervorgehenden Tiere (in der Regel) nicht fortpflanzungsfähig sind. Da Gott keine Fehler begeht, muss er Esel wohl als eigenständige Art geschaffen haben. Die Nobilitierung dieser Tiere durch Jesus, der auf einer Eselin nach Jerusalem einreitet, spricht zudem für sich. Durch Darwin wird klar, dass sich Esel und Pferd zueinander verhalten wie Menschen und Menschenaffen: sie haben gemeinsame Urahnen.

    Dass Nietzsche sich nicht nur als Antichrist, sondern auch als Antiesel bezeichnet, ist nicht völlig verzeihlich. Die Autorin merkt auch an, dass es ihm besser gestanden hätte, wenn er in Turin einen Esel umarmt hätte statt ein klappriges Pferd.

    Der Esel ist der Bartleby unter den Tieren – das arbeitet Jutta Person sehr gut heraus. Seine Haltung ist nicht einfach passiv, sondern in ihrer Passivität produktiv. Sie macht deutlich, dass dem Esel die Alternative nicht genügt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder einfach weiterzumachen. Der Esel ist ein Zauderer, der gegen eine binäre Entscheidungslogik opponiert und somit auch der Zweckhaftigkeit allen Verhaltens eine Absage erteilt.

    Das Buch kann als Reflexionsgrundlage zu einem Jahresbeginn nur empfohlen werden. Im Anhang finden sich Angaben über die verschiedenen Eselrassen. Überdies ist Esel reich bebildert.

    Franz Kafka: Tagebuch 28.10.1911

    Ich träumte heute von einem windhundartigen Esel, der in seinen Bewegungen sehr zurückhaltend war. Ich beobachtete ihn genau, weil ich mir der Seltenheit der Erscheinung bewußt war, behielt aber nur die Erinnerung daran zurück, daß mir seine schmalen Menschenfüße wegen ihrer Länge und Gleichförmigkeit nicht gefallen wollten. Ich bot ihm frische, dunkelgrüne Zypressenbüschel an, die ich eben von einer alten Züricher Dame (das Ganze spielte sich in Zürich ab) bekommen hatte, er wollte sie nicht, schnupperte nur leicht an ihnen; als ich sie aber dann auf einem Tisch liegen ließ, fraß er mir sie so vollständig auf daß nur ein kaum zu erkennender kastanienähnlicher Kern übrig blieb. Später war die Rede davon, daß dieser Esel noch nie auf Vieren gegangen sei, sondern sich immer menschlich aufrecht halte und seine silbrig glänzende Brust und das Bäuchlein zeige. Das war aber eigentlich nicht richtig.


    Filmstill mit Catherine Deneuve aus dem Film Peau d’âne (1970). R: Jacques Demy.

    Jutta Person: Esel. Fünfte Auflage. Berlin: Matthes & Seitz, 2019

  • Rezensentenelend

    Der Perlentaucher offenbart eine angesichts des Autors und des Sujets leider schon zu erwartende wohlfeile Blindheit der Kritik.

    »Atemlos — mitreißend — hellauf begeistert — überwältigt — glänzend — überzeugt …«, die Rezensionen sind voller positiver Beschreibungen des Buchs und der Erzählweise des Autors.

    Besonders häufig wird die »postmoderne« Technik Sarrs hervorgehoben: Multiperspektivik, »offene« Erzählstränge ohne Weiterführung oder Auflösung, Zeitsprünge, Schachtelung, von expliziten und verdeckten Zitaten usw. Ich kann nicht erkennen, was daran postmodern ist. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet, und vielfach weitaus kunstvoller, verwickelter und vor allem vergnüglicher als bei Sarr. Laurence Sterne, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Arno Schmidt, Julio Cortáßzar, Italo Calvino und viele andere sind keine Vertreter der »Postmoderne«.

    Beim zweiten Lesen bzw. Durchblättern von Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen fällt das Bemühte der Form noch mehr auf als beim ersten Lesen. Die Gedankenarbeit, mit der die verschiedenen Erzählstränge beim Lesen immer wieder memoriert und verbunden werden, entfällt, und die Formabsicht in all ihrer Witzlosigkeit liegt viel offener zutage.

    Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Literaturkritik – wie auch schon die französische Preisvergabe (Prix Goncourt 2021) vor allem die Identität des Autors honoriert. Ein junger afrikanischer Autor schreibt (beinahe) auf der Höhe der uns vertrauten Reflexion, das muss unbedingt gelobt werden …

  • Der Index allein genügt …

    Jedenfalls scheint das in manchen Fällen so zu sein. Ein Buch wird aufgeschlagen, das Inhaltsverzeichnis überflogen und dann der Index aufgesucht, um zu ermitteln, ob bestimmte Gegenstände oder Namen im Buch überhaupt oder ausreichend behandelt werden.

    Das gilt jedenfalls für gedruckte Bücher, die als wissenschaftliche Publikationen oder Sachbücher auf den Markt kommen. Bei PDFs sind Sach- und Personenverzeichnisse durchaus immer noch ein Gewinn, da sie die Übersicht über Schwerpunkte der Texte ermöglichen. Weiß man einigermaßen über den Inhalt Bescheid, genügt die Suchfunktion – sofern der Text durchsuchbar ist, markiert und kopiert werden kann. Das Erstellen eines Index ist eine aufwendige Arbeit, auch beim Einsatz von digitalen Hilfsmitteln. Mit der Aufnahme jedes Stichworts und Namens sind Gewichtungsentscheidungen verbunden, die mit den Intentionen der Autoren und mit dem Kontext der jeweiligen Stellen abgeglichen werden (sollten). Häufig findet man kurze und zu flüchtig zusammengestellte Indexe, Indizes oder Indices (der Duden lässt alle drei Pluralformen zu). Genauso übel sind aber auch endlose Verzeichnisse, die lauter belanglose Stellen auflisten. Das Titelbild hier stammt aus einem 1668 erschienenen Buch von James Howell und enthält eine Kapitulationserklärung des Verlegers. Der Autor war schon tot, als das Buch, das einen sehr langen Titel hat, veröffentlicht wurde.

    Dieses und viele andere zum Teil vergnügliche Beispiele enthält das Buch von James Duncan Index, a history of, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist.

    Eine Anekdote daraus belegt, dass ein Buch über Verzeichnisse eine unterhaltsame Lektüre sein kann. Viele Menschen googlen gelegentlich ihren Namen. Vor Google gab es den Index. Was ist ein subtiler Scherz unter Buchfreunden? Dieser hier. Der konservative Autor William S. Buckley war ein guter Bekannter von Norman Mailer, mit dem er sich gelegentlich zoffte. Buckley veröffentlichte 1965 ein Buch über eine New Yorker Bürgermeisterwahl, zu dem ihm Mailer einige Zitate aus ihrem gemeinsamen Briefwechsel verweigert hatte. Seine Antwort ist das »Hi!« neben dem Namen Mailers in dem Buchexemplar, das er Mailer zuschickte. Es ist nicht überliefert, ob und unter welchen Umständen Mailer auf den Eintrag gestoßen ist. Dass er ihn ein wenig beschämt hat, ist jedoch anzunehmen.

    Interessant auch für Buchkundige ist die verwickelte Geschichte der Seitenzahlen, die es zeitweilig schon bei Handschriften gab, und der Bogensignaturen bei gedruckten Büchern. Duncan zeigt, wie sich formale Kennzeichnungen allmählich gegenüber inhaltsorientierten durchsetzten. Auch diese hatten manchmal willkürliche Aspekte, wie die Kapitelaufteilungen der Bücher Homers oder der Bibel, die erst im Laufe der Zeit standardisiert wurden.

    Dennis Duncan hat mit Adam Smyth ein weiteres Buch mit buchgeschichtlichen Anteilen herausgegeben, in dem jedes Kapitel einem bestimmten Teil des Buchs gewidmet ist – vom Vorsatzblatt bis zum Klappentext. Es heißt Book Parts und ist 2019 in der Oxford University Press erschienen.

    Den Index für Duncans Indexbuch hat übrigens Paula Clarke Bain erstellt. Sie ist eine international vernetzte professionelle Indexerin. In Deutschland gibt es zwei miteinander verflochtene Vereinigungen von Indexerstellern, die Fachgruppe Register und Indexing in der Deutschen Gesellschaft für Information und Wissen (DGI) und das Deutsche Netzwerk der Indexer.


    Dennis Duncan: Index, a History of … A Bookish Adventure. London: Allan Lane, 2021. Deutsch: Index, eine Geschichte des. Vom Suchen und Finden. München: Antje Kunstmann Verlag, 2022

  • Ein Autor entzieht sich

    … und Inspektor Faye ermittelt.

    »Die Kehrseite des Paradieses ist nicht die Hölle, sondern die Literatur.«

    Das Buch schildert die Suche eines jungen, aus dem Senegal stammenden Schriftstellers, der noch in Paris studiert, nach einem fast unbekannten und doch sagenumwobenen Landsmann, der 1938 einen Roman veröffentlicht hat – »Das Labyrinth des Unmenschlichen«. Dieses Buch erzeugte einen Skandal, der seinen Verlag in den Ruin trieb. Kritiker brachten zwei Vorwürfe vor. Ein Ethnologe schrieb, die Geschichte sei die Nacherzählung des Gründungsmythos des Volkes der »Bassari«. Dieser Vorwurf war allerdings von seinem Kritiker erfunden, und nicht nur das, die Bassari-Ethnie selbst war eine Erfindung des Ethnologen, der immerhin am Collège de France lehrte. Die zweite Kritik hingegen war leicht nachvollziehbar, sie betraf viele Plagiate aus literarischen Quellen. Andererseits gab es positive Stimmen, die den Autor T. C. Elimane beispielsweise als »schwarzen Rimbaud« feierten. Das Verlegerpaar nahm das Buch vom Markt, so dass nur sehr wenige Exemplare übrig blieben. Eins davon wird dem Erzähler Diègane Faye von einer älteren senegalesischen Schriftstellerin überlassen, die sich im weiteren Verlauf als eine Verwandte von Elimane entpuppt. Faye verstärkt nun seine Recherchen, er will alles über das weitere Leben von Elimane wissen, der kurz nach der Veröffentlichung seines Romans verschwand.

    Eine sich durch das Buch ziehende Thematik ist die Assimilation von Afrikanern an eine Kultur, die die eigene mit Füßen tritt. Elimane, seine Cousine Siga und auch der Protagonist Faye stehen für individuelle Karrieren dieses Musters. Elimane, von dem Faye durch Gespräche mit Siga direkt und indirekt viel erfährt, rechtfertigte seine literarische Collage als Plünderung von Kulturgütern, quasi als Rache für das, was ihm als »schwarze Jahrmarktsattraktion« angetan wurde. Seine Assimilation hat dabei spielerische Züge: Die Initialen seines Vornamens T und C verweisen auf die Vornamen seines Verlegerpaars, Therèse und Charles.

    Das Verschwinden ist ein weiteres Thema, denn nicht nur Elimane wird für diejenigen, die ihn in Paris kannten, unsichtbar, ohne eine Spur in irgendwelchen Dokumenten zu hinterlassen, auch sein Verleger Charles Ellenstein verschwindet 1942. Bei ihm kann ein Zugriff der NS-Besatzungsmacht vermutet werden, den das naive Verhalten einer früheren Verlagssekretärin gefördert haben könnte.

    Faye findet heraus, dass alle Kritiker des Elimane-Buchs sich zwischen 1938 und 1940 umgebracht haben, mit zwei Ausnahmen – darunter dem Entdecker der literarischen Plagiate. Von Elimane wird ein Brief aus dem Jahr 1940 gefunden, der eine mysteriöse Todesdrohung enthält: »Das grundlegende Buch ist nur grundlegend, weil es tötet. Wer es töten will, stirbt. Wer es in den Tod begleitet, lebt darin.« Personen, die nach Elimane suchen, scheinen von ihm nicht nur in übertragenem Sinne verfolgt zu werden. Dies gilt auch für eine haitianische Autorin, die – wie sie Siga berichtete, die es wiederum Faye erzählt – 1958 in Buenos Aires mit Elimane bekannt wurde und später nach Europa und Afrika reist, um ihn wiederzufinden. Sie war in Buenos Aires die Geliebte von Witold Gombrowicz und kannte auch Ernesto Sabato – und beide waren mit Elimane befreundet …

    Der Roman ist eine Collage aus Erlebnisberichten des Erzählers, Berichten aus zweiter und dritter Hand, Briefen und einigem anderen Material, darunter auch längeren anverwandelten Zitaten von Bolano, Césaire, Fanon und anderen. Trotz häufiger Sprünge in die Erlebniszeit der jeweiligen Erzähler und Berichterstatter verläuft die Erzählung des Lebens von Elimane im wesentlichen chronologisch. Das Rätsel, wer er war und was ihn, der schließlich erst mit 102 Jahren starb, antrieb, wird nicht zur vollen Zufriedenheit gelöst. Er hinterließ Fragmente eines zweiten Buchs, deren Veröffentlichung sich nicht gelohnt hätte. Wovon er eigentlich von 1938 bis 2017 lebte, bleibt völlig im Dunkeln. Allein der Haß auf seine Kritiker und den für den Tod seines Verlegers Ellenstein verantwortlichen deutschen Offizier wird ihn nicht genährt haben.

    Mohamed Mbougar Sarr hat offenbar sein Konzept mehr Spaß gemacht als dessen Ausführung. Im letzten Viertel des Buchs wird die Montage der Textstücke doch eher zur Masche. Wenn sich endlich Vergangenheit und Gegenwart berühren – der Protagonist hält das von Elimane hinterlassene Manuskript in der Hand und vernichtet es schließlich –, bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Sarr wendet das Repertoire erzählerischer, Spannung und Mystifikation erzeugender Techniken sozusagen katalogmäßig an. Oft gewinnt das Leseerlebnis durch seine vielen Perspektiven nichts, der Text wirkt dann eher umstandskrämerisch. Dass in einigen dieser Perspektiven die koloniale und postkoloniale Problematik (nicht nur) kultureller Spannungen zwischen Afrika und Europa beleuchtet wird, ist allerdings unbedingt ein Gewinn.


    Mohamed Mbougar Sarr: Die geheime Erinnerung der Menschen. Berlin: Hanser, 2022

  • Coming of Age

    Ich habe einmal geschworen, keine Bücher von Fünfundzwanzigjährigen zu lesen. Nun habe ich es doch getan, animiert vom freundlichen Verleger des Verbrecher Verlags, der seine Bücher zusammen mit einigen anderen Kleinverlagen in Erik Spiekermanns Werkstatt in der Potsdamer Straße 98a präsentierte. Alle Verrücktheiten und typischen Gedankensprünge, und auch die gefürchteten Banalitäten des FAZ-Redakteurs (und -Autors) Dietmar Dath steckten in dem Buch. Es ist Daths Erstling und gleichzeitig das erste Buch, das 1995 im Verbrecher Verlag erschien. Dath war damals 25 Jahre alt. Die 2021 erschienene Neuauflage wurde um ein paar Zeilen ergänzt, um das Frühwerk an Folgewerke anzuschließen. Aber ich habe diese Passage nicht gefunden, weil ich nach einem Drittel der 375 Seiten aufgegeben habe. Mich interessiert einfach nicht, was der Ich-Erzähler (und manchmal Er-Erzähler) über seine Pennäler-Zeit und -Freundschaften zu berichten hat. Oder seine Freiburger Studentenzeit. Oder seine popmusikalischen Vorlieben (Dath war auch einmal Chefredakteur von Spex). Die essayistischen Einsprengsel mit dem Bildungsgut, das der junge Dath bis dahin angesammelt hatte, mäandern zwischen Blödelei und intellektualistischem Kraftmeiertum. Genau das ist für mich das generationstypische des Buchs.

    Lieber lese ich ein weiteres Mal das Buch eines Dreißigjährigen. Es enthält auch Zumutungen, ist dabei aber viel konzentrierter. Rolf Dieter Brinkmanns Prosa lenkt nicht durch sprunghafte Themen- und Genrewechsel von der Beobachtung eines Erfahrungsprozesses ab. Musik und Film sind in ihr ebenso präsent wie bei Dietmar Dath. Brinkmann täuscht allerdings keine Verarbeitung und Reflexion vor, wie es Dath ständig mit Floskeln und anderen Textbausteinen tut. Dessen Buch wandert jetzt in die Auslage bei booklooker.de.


    Dietmar Dath: Cordula killt dich! Roman der Auferstehung. Berlin: Verbrecher Verlag, 2021. Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr [1970]. Reinbek: Rowohlt, 2021