Gaito Gasdanow war ein 1903 geborener russischer Schriftsteller, der zum Teil in der Ukraine aufwuchs und als 16-Jähriger in der Weißen Armee auf ukrainischem Gebiet gegen die bolschewistischen Truppen kämpfte. Nach der Niederlage der Weißen gelang ihm die Emigration. Er lebte dann überwiegend in Paris.
Der kurze Roman Das Phantom des Alexander Wolf erschien 1948 und ist eine filmreife Geschichte, in der sich der Erzähler und sein Kontrahent zweimal begegnen. Das erste Mal schießen sie im Bürgerkrieg aufeinander, wobei Wolf (fast) ums Leben kommt. Das zweite Mal treffen sie sich in Paris, der Erzähler arbeitet dort als Journalist. Wolf hatte einen Roman über die Begebenheit in »Südrussland« geschrieben, an der er und der Erzähler beteiligt waren. Nun lebt der Erzähler mit der Frau zusammen, die vorher mit Wolf in London verbunden war. Am Ende kommt es wieder zu Schüssen, an denen Wolf nunmehr stirbt.
Der Text ist nicht sonderlich kunstvoll aufgebaut, aber hält eine gewisse Spannung durch die mehrfach verzögerte Offenbarung der Identitäten der beiden Kontrahenten aufrecht. Ein Hauch von Agatha Christie ist vorhanden, gepaart mit einer robusten Zuwendung zu den Tatsachen des Lebens, einschließlich einiger Blicke auf das Leben von Emigranten in Paris.
Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf. München: Hanser, 2012
Die post-jugoslawischen Staatengebilde haben ihrer Bevölkerung durchaus andere Probleme bereitet als die post-sowjetischen. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde 1945 gegründet, aber schon 1948 vollzog der frühere Partisanenführer, dann Parteivorsitzende, Regierungschef und Staatspräsident Tito die Loslösung aus der Ideologie und der administrativen Praxis des stalinistischen sozialistischen Systems. Der jugoslawische Sozialismus war in seinem ersten Jahrzehnt noch aggressiv gegen tatsächliche und vermeintliche NS-Kollaborateure, dann aber weitaus »liberaler«, mit einer »sozialistischen Marktwirtschaft« im Inneren und einer nach außen verkündeten Blockfreiheit. Die Regierung gelang es vier Jahrzehnte lang, die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Differenzen in der jugoslawischen Föderation zu verwischen. Literatur, Kunst und Wissenschaft genossen weitaus größere Freiheiten als in den Warschauer-Pakt-Staaten, es gab keine Reisebeschränkungen für die Bürger.
In der Praxis hieß das für den jugoslawischen Schriftsteller, die lateinisch und kyrillisch geschriebenen Literaturen der jugoslawischen Völker zu kennen, in Zagreb zu leben, in Belgrad verlegt, in Ljubljana, Sarajevo, Skopje und Priština gelesen zu werden. Es bedeutete, ungehindert verschiedene Kulturen zu leben und sie als die eigenen zu erleben. (S. 58)
Als Tito 1980 starb, traten wirtschaftliche Krisenerscheinungen an die Oberfläche, und mit ihnen zerbröselte auch der innere Zusammenhalt des Landes. Durch den Zerfall des Sowjetblocks wurde die sich immer auf auf diesen Block beziehende Sonderrolle Jugoslawiens hinfällig, neben der Blockfreiheit auch sozialistische »Errungenschaften« wie die Arbeiterselbstverwaltung. Anstelle der vom Personenkults um Tito gestützten Einheitspartei eroberten nun nationalistische Gruppierungen in den Teilrepubliken die Macht, erzwangen Abgrenzungen, Umsiedlungen, ethnische Säuberungen und zettelten schließlich Kriege gegeneinander und innerhalb ihrer Gebiete an.
Es darf daher nicht wundern, dass der Umbruch ab 1990 in Jugoslawien nicht als Befreiung, sondern als Absturz in den Atavismus beschrieben werden kann. Und an dieser Stelle entstehen die Probleme, die Dubravka Ugrešič in ihrer 1994 zusammengestellten Essay-Sammlung aufgreift. Die Texte wurden auf Kroatisch geschrieben, das Buch erschien jedoch nicht in Kroatien. Die Autorin musste aufgrund vieler Anfeindungen das Land verlassen und lebt hauptsächlich in Amsterdam. Der Grund ihres Gangs in das Exil findet sich in einer Anekdote, die sie im Buch und auch bei anderer Gelegenheit erzählt. In Zagreber Läden tauchten plötzlich Dosen im Stil von Cola-Dosen auf, deren Inhalt »Saubere Kroatische Luft« war. Für Ugrešič war das ein Symbol für ethnische Reinheit, deren Herstellung mit aller Brutalität auch betrieben wurde. Die Räumung und Sprengung von Wohnhäusern, pogromartige Aktionen und Diskriminierungen, die Wiedererweckung nationaler Symbolfiguren, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs antisemitische Säuberungen verordnet haben, die Vernichtung von Büchern der anderen Volksgruppen, all das konnte offenbar öffentlich nicht mehr kritisiert werden.
Die »Demokratisierung« der jugoslawischen Republiken brachte nicht mehr Freiheit und nicht mehr Wohlstand. Die Länder wurden ärmer und die Menschen unglücklicher.
Anstelle wirklicher Demokratie haben sie (die einen als Verteidiger, die anderen als Angreifer) kleine, totalitäre Gemeinwesen errichtet. Sie haben den Bürger zur gehorsamen Nummer gemacht; statt freier Medien gibt es deren strenge Kontrolle; … statt einer freien Rechtsprechung gibt es eine reglementierte; statt zu demilitarisieren, wird eine angeblich notwendige Militarisierung betrieben. (S. 66)
Begleitet wurden diese Veränderungen von symbolischen Aktionen, die Ugrešič als nationalistischen Kitsch bezeichnet. Diese Aktionen beförderten die Transformation vom Fiktiven ins Reale, in eine mythische Zeit, in der die Trennung zwischen existenter und nicht-existenter Welt aufgehoben ist. Ein Faktor dabei ist der »Terror des Erinnerns«, die künstliche Erzeugung nationaler Identitäten und ihrer Wurzeln. Ein anderer Faktor ist der Krieg.
Das Buch motiviert dazu, die Geschichte(n) der unterschiedlichen Entwicklungen ost- und südosteuropäischer Länder noch einmal genauer nachzuverfolgen. Die Nennung von Städtenamen wie Sarajevo und Srebenica ruft einige Bilder auf, die seit den 1990er Jahren zu passenden Anlässen immer verbreitet werden. Zusammenhänge werden mit solchen Medienbildern nicht erklärt, die Bilder geraten stattdessen in einen mythischen Raum und werden für beliebige Darstellungen einsetzbar. Davor bewahrt Dubravka Ugrešič die Leser, zumindest für die Geschichte des Zerfalls der jugoslawischen Einheit.
Zwei Interviews und ein Vortrag von Dubravka Ugrešič finden sich bei Youtube.
Dubravka Ugrešič: Die Kultur der Lüge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995
Dubravka Ugrešić wurde 1949 in Kroatien geboren und lebt seit 1993 in Amsterdam.
Dieser post-jugoslawische autofiktionale Roman spielt überwiegend im niederländischen Exil-Ambiente der Erzählerin. Sie ist in Amsterdam Dozentin für serbokroatische Literatur und hat Studenten, die ebenso wie sie aus ehemals jugoslawischen Regionen stammen. Sie bilden über zwei Semester hinweg eine feste Gruppe, deren Mitglieder sich gegenseitig stabilisieren. Die meisten haben traumatische Kriegserfahrungen ins Exil mitgebracht. Es gibt unter ihnen auch zweifache Opfer, zunächst des Miloševič-Regimes und dann der Nato-Bombardierung Jugoslawiens. Sie studieren serbokroatische Literatur, weil es für sie das einfachste Fach ist und sie auf diese Weise ein Aufenthaltsrecht haben. Der Student Uroš verübt allerdings Selbstmord, was die Gruppe und die Dozentin sehr belastet.
Den Besuch des Internationalen Tribunals über Angeklagte aus dem früheren Jugoslawien bricht die Protagonistin ab, weil dort offenbar wird, dass niemand sich in irgendeiner Weise als schuldig bekennt.
Nach zwei Semestern ist ihr Job an der Universität beendet, den ihr der Ehemann einer kroatischen Migrantin besorgt hatte. Einer der Studenten ihrer Gruppe besucht sie in ihrer Wohnung, fesselt und knebelt sie und fügt ihr Schnitte mit einer Rasierklinge zu. Sie übersteht diese Attacke bemerkenswert stoisch und zieht in die Wohnung um, die ihr eine ihrer Studentinnen überlassen hat. Statt im Rotlichtviertel Amsterdams lebst sie nun in ›Klein-Casablanca‹, wie der Amsterdamer Vorort genannt wird. Die Protagonistin ordnet sich der Migranten-Population ihres Viertels zu, den ›Barbaren‹.
Das Buch wird im letzten Viertel immer fragmentarischer und dunkler.
Transitorische Mutanten nennt die Erzählerin die Exilanten, die es ›geschafft‹ haben, die sich erfolgreich ›integriert‹ haben. Sie selbst lebt weiterhin mit ihrem Trauma und Bildern, in denen sich ältere und aktuelle Erfahrungen in einem düsteren und hoffnungslos stimmenden Amalgam verbinden. Die ›Balkan-Litanei‹ wird zeitlebens ein Teil von ihr bleiben.
Der – allerdings durchaus mehrdeutige – Titel des Buchs bezieht sich auf einen Laden mit sado-masochistischen Requisiten im Amsterdamer Rotlichtviertel.
Dubravka Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2005
Andrej Kurkow ist der zeitgenössische ukrainische Bestsellerautor. Mehr als zehn Bücher von ihm sind auch auf Deutsch erschienen. Darunter der Roman, dessen Originaltitel übersetzt eigentlich »Guter Todesengel« lautet, der aber nun Petrowitsch heißt, nach dem Chameleon, das die Hauptfigur in der zweiten Hälfte des Romans von Kasachstan bis in die Westukraine begleitet. Die Handlung bedient sich in Andeutungen einiger Elemente von Fantasy-Romanen. Die Hauptfigur Kolja (ein russischer Ukrainer) entdeckt in einem Buch ein zweites, das ihn auf Umwegen zu einem Toten führt, in dessen Grab er Hinweise auf irgendwo in Kasachstan versteckte Tagebücher des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko findet. Er reist auf abenteuerliche Weise dorthin und wieder zurück, ständig begleitet von ethnischen Ressentiments zwischen Russen und Ukrainern. Der Clou der Reise ist der Rücktransport einer Fuhre Sand aus Kasachstan, der auf irgendeine Weise vom Sperma Schewtschenkos imprägniert ist und nach dem Willen des Protagonisten und seiner Begleitung in Sandkästen ukrainischer Kindergärten verstreut werden soll, um dort den Geist des Patriotismus auszustrahlen.
Gelesen habe ich den Roman hauptsächlich, weil Tatjana Hofmann ihn in ihrem Buch über Literarische Ethnografien in der Ukraine als eins der Beispiele für den nationalen Diskurs anführt, der fast unvermeidlich die literarische Produktion ukrainischer Schriftsteller in den letzten 25 Jahren leitet. Was sie meint, ist durchweg erkennbar, ansonsten ist das Buch nur an einigen Stellen erträglich, an denen es etwas seltener Abenteuer-, Krimi- und Spionageklischees bedient und der Humor etwas hintergründiger ist.
Andrej Kurkow: Petrowitsch. Zürich: Diogenes, 2000. Die Titelvignette ist ein Clip aus der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg
Lea Ypi, geboren 1979 in Albanien, lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics. Ihr autobiographischer Roman Free ist auch auf Deutsch erschienen und heißt hier einfach Frei. Die Cola-Dose auf dem Cover ist ein Element ihrer Erzählung: In Tirana wurden in den 1980er Jahren leere Cola-Dosen gehandelt und wie Ikonen auf den Wohnzimmerschrank gestellt. Die von Leas Familie erworbene Dose verschwand eines Tages und tauchte bei den Nachbarn auf, die jedoch einen Diebstahl leugneten.
Das ganze Buch besteht aus einer Unmenge von Anekdoten, jeweils aus der kindlichen und jugendlichen Sicht der Autorin erzählt. Der Strom der Geschichten beginnt Mitte der 1980er Jahre und endet 1997, gefolgt von einem Epilog.
Die Autorin stellte ihr Buch am 15.03.2022 in Frankfurt in einem langen Gespräch mit Steffen Mau vor, das als Video dokumentiert ist:
In dem Video erzählt sie die Geschichte eines Albaners, die im Buch nicht enthalten ist. Es handelt sich um den Sohn einer sowjetrussischen Mutter und eines albanischen Vaters. Diese Konstellation war im antisowjetischen System Enver Hoxhas grundsätzlich verdächtig. Der junge Mann wurde ständig von der Polizei beobachtet, die einen Vorwand suchte, ihn hinter Gitter zu bringen. Sie machte eines Tages eine Wohnungsdurchsuchung und fand eine CD von Joe Cocker. Ob sie ihm gehöre und ob er sie höre, wurde der junge Mann gefragt. Er bejahte, wurde festgenommen und blieb bis zum Zusammenbruch des realstalinistischen Systems zehn Jahre im Gefängnis. Er reist in den Westen und besucht ein Joe-Cocker-Konzert. Dort dringt er bis zu seinem Idol vor, hält ihm seine CD, die er immer noch besitzt, zum Signieren hin und ruft, er sei seinetwegen zehn Jahre im Gefängnis gewesen. Joe Cocker macht sich nicht die Mühe, hinter die Aufregung des Albaners zu dringen, sagt nur: »Wir haben alle mal Drogen genommen« und lässt die Polizei kommen, um den Belästiger abzuführen.
In Albanien fiel 1990 nach dem Tod Enver Hoxhas, der das Land mit seinen 3 Millionen Einwohnern über 45 Jahre unter ein stalinistisches Zwangsregime gestellt hatte, die Mauer in der Weise, dass Hunderttausende über die Adria nach Italien fahren wollten, um den liberalen Westen zu erleben. Die Kontakte mit den Bürgern westlichen Staaten waren dann schnell ernüchternd: »Plötzlich kamst du nicht mehr aus einem gescheiterten Staat, sondern du warst eine gescheiterte Person«.
Die Übergangsphase, die 1991 mit den ersten pluralistischen Wahlen begann – bei der die regierenden Kommunisten noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit errangen – entwickelte sich recht chaotisch. Ein Kulminationspunkt war der manchmal Lotterieaufstand genannte Bürgerkrieg 1997, der durch den Einsatz von 6.000 ausländischen Soldaten aufgrund eines Uno-Mandats beendet wurde. Einige Firmen hatten Pyramidensysteme aufgezogen und Tausenden von naiven Albanern um ihr Erspartes gebracht, und die Regierung hatte nichts gegen die betrügerischen Umtriebe unternommen.
Die Autorin, väterlicherseits Urenkelin des kurzfristigen albanischen Ministerpräsidenten Xhafer Ypi (1922) und mütterlicherseits Enkelin eines muslimischen Gläubigen, der sich 1947 mit dem Ruf Allahu akbar! von einem Hochhaus stürzte, erfuhr diese und viele andere Details ihrer Familiengeschichte erst nach der Befreiung des Landes vom Stalinismus. Nach ihrem Schulabschluss und dem Tod von Großmutter und Vater verließ sie Albanien. So ist es nicht nur der zeitliche, sondern auch der räumliche Abstand, der es ihr ermöglicht, heiter und ohne Bitterkeit ihre Geschichte zu erzählen.
Lea Ypi: Free/Frei. London: Allen Lane, 2021/Berlin: Suhrkamp, 2022