Aktuelle Vergeblichkeitsforschung

  • Das Trauma bleibt

    Dubravka Ugrešić wurde 1949 in Kroatien geboren und lebt seit 1993 in Amsterdam.

    Dieser post-jugoslawische autofiktionale Roman spielt überwiegend im niederländischen Exil-Ambiente der Erzählerin. Sie ist in Amsterdam Dozentin für serbokroatische Literatur und hat Studenten, die ebenso wie sie aus ehemals jugoslawischen Regionen stammen. Sie bilden über zwei Semester hinweg eine feste Gruppe, deren Mitglieder sich gegenseitig stabilisieren. Die meisten haben traumatische Kriegserfahrungen ins Exil mitgebracht. Es gibt unter ihnen auch zweifache Opfer, zunächst des Miloševič-Regimes und dann der Nato-Bombardierung Jugoslawiens. Sie studieren serbokroatische Literatur, weil es für sie das einfachste Fach ist und sie auf diese Weise ein Aufenthaltsrecht haben. Der Student Uroš verübt allerdings Selbstmord, was die Gruppe und die Dozentin sehr belastet.

    Den Besuch des Internationalen Tribunals über Angeklagte aus dem früheren Jugoslawien bricht die Protagonistin ab, weil dort offenbar wird, dass niemand sich in irgendeiner Weise als schuldig bekennt.

    Nach zwei Semestern ist ihr Job an der Universität beendet, den ihr der Ehemann einer kroatischen Migrantin besorgt hatte. Einer der Studenten ihrer Gruppe besucht sie in ihrer Wohnung, fesselt und knebelt sie und fügt ihr Schnitte mit einer Rasierklinge zu. Sie übersteht diese Attacke bemerkenswert stoisch und zieht in die Wohnung um, die ihr eine ihrer Studentinnen überlassen hat. Statt im Rotlichtviertel Amsterdams lebst sie nun in ›Klein-Casablanca‹, wie der Amsterdamer Vorort genannt wird. Die Protagonistin ordnet sich der Migranten-Population ihres Viertels zu, den ›Barbaren‹.

    Das Buch wird im letzten Viertel immer fragmentarischer und dunkler.

    Transitorische Mutanten nennt die Erzählerin die Exilanten, die es ›geschafft‹ haben, die sich erfolgreich ›integriert‹ haben. Sie selbst lebt weiterhin mit ihrem Trauma und Bildern, in denen sich ältere und aktuelle Erfahrungen in einem düsteren und hoffnungslos stimmenden Amalgam verbinden. Die ›Balkan-Litanei‹ wird zeitlebens ein Teil von ihr bleiben.

    Der – allerdings durchaus mehrdeutige – Titel des Buchs bezieht sich auf einen Laden mit sado-masochistischen Requisiten im Amsterdamer Rotlichtviertel.


    Dubravka Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2005

  • Ukraine-Scrapbook (2)

    Wladimir Putin und Sergei Shoigu, St. Petersburg 2017

    Ein ferner Traum?

    Der Pazifismus hat in Deutschland seit 1989 den Betrieb offenbar weitgehend eingestellt. Das ist zu beklagen, denn dadurch ist ein wichtiger Sensor für Konflikte und ihre Dynamik verlorengegangen, der vorher im Westen Deutschlands durchaus funktioniert hat. Weder als gesellschaftliche Kraft, die richtungsweisend auf die Politik einwirkt, noch als wissenschaftlicher Impulsgeber in der Politikwissenschaft und anderen Sparten hat der Pazifismus sich weiterentwickelt. Nur so ist auch zu erklären, dass er heute als Denkrichtung der Ohnemichels, Schlappschwänze und Russland-Liebchen eingestuft werden kann. Eine Meldung aus dem Deutschlandfunk über Robert Habeck:

    Frieden könne es nur geben, wenn Russlands Präsident Putin seinen Angriffskrieg stoppe, sagte der Grünen-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Es sollte bei den Ostermärschen deutlich werden, dass sie sich gegen Putins Krieg richteten. Pazifismus bezeichnete Habeck derzeit als fernen Traum. Putin bedrohe die Freiheit Europas. Zuschauen sei die größere Schuld, betonte er.

    Wörtliche Zitate dazu finden sich beim ZDF. Dass eine wesentliche Korrektur der Versäumnisse seit 1989 auch darin bestehen könnte, aus pazifistischer Sicht strategisch zu denken, kommt den vielen sogenannten Thinktanks und angeblichen NGOs (meist vollständig von der Bundesregierung finanziert wie das »Zentrum Liberale Moderne«) nicht in den Sinn.

    Stahlgewitter im Stressless-Sessel

    Schon vor einem Monat beobachtete Adam Soboczynski in der ZEIT zutreffend, dass viele Schriftsteller:innen und Intellektuelle nun in die Rolle von Militärberatern geschlüpft sind und laute Empfehlungen zur Beteiligung am Ukraine-Krieg geben, zum Beispiel durch »Schließung des Himmels«, also die Einrichtung eines Schutzschirms über dem ukrainischen Luftraum durch die Nato, wodurch auch Deutschland unmittelbare Kriegspartei würde. Die Betroffenheit über den Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine ist groß, und es scheint kein Orientierungssystem zu geben, das es ermöglicht, die Optionen einer wirkungsvollen Reaktion zu reflektieren. Statt dessen findet ein Überbietungswettbewerb statt, in dem Begriffe und Sachen eine Rolle spielen, die von vielen Beteiligten vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erwähnt werden. Anton Hofreiter fordert die Lieferung schwerer Waffen und beklagt die Zurückhaltung von Bundeskanzler Scholz. Das ist wirklich eine geistig-moralische Wende. Schwere Waffen, Waffen überhaupt, verlängern den Krieg und erhöhen die Zahl der Opfer. Dass die Wette auf einen militärischen Sieg über Russland wirklich alternativlos ist, wird jeder Begründung entzogen, sondern versteht sich zum Beispiel für Sasha Marianna Salzmann von selbst, weil sie schon immer ein schlechtes Gefühl bei Putin gehabt habe.

    Eine zögernde, zurückhaltende, vielleicht nach wirkungswolleren Alternativen suchende Position hat eine schlechte Presse, falls überhaupt noch jemand wagt, sie zu artikulieren.

    Soboczynski noch einmal:

    Wir zögern nicht nur aus Angst, sondern aufgrund kalter Vernunft. Die wagemutigen Herzen, die sich nun allerorts regen, entstammen noch den Zeiten konventioneller Kriege. Sie sind Atavismen in einer neuen Epoche, auf die wir hilflos reagieren. Am Ende ist es ein Segen, dass nicht die Dichter über Krieg und Frieden entscheiden.

    Später Triumph des Antirevisionismus

    Auffällig ist die frühe und massive öffentliche Intervention von ehemaligen »antirevisionistischen« Linken aus den K-Gruppen der 1970er Jahre. Für Gerd Koenen, Karl Schlögel, Ralf Fücks, Hermann Kuhn, Reinhard Bütikofer und andere war Sowjetrussland (und der Warschauer Pakt) eine ebenso böse Macht wie die USA (und die Nato). Ihr wiederbelebter berufsrevolutionärer Eifer konzentriert sich jetzt ganz auf das postsowjetische Russland und die Möglichkeit, doch noch die Stahlgewitter zu erleben, die ihrer Generation bisher erspart geblieben sind.

    Plattdeutsche Nation

    Apropos Tradition marxistisch(-leninistischer) Berufsrevolutionäre. Lafargue (nom de guerre, nicht der berühmte Schwiegersohn) spielt mit einem Auszug aus Rosa Luxemburgs 1918 geschriebenen (und 1922 erschienenen) Werks Zur russischen Revolution auf Twitter noch einmal auf die von russischer Seite negierte nationale und staatliche Selbständigkeit der Ukraine an.

    Rosa Luxemburg attackiert das von Lenin unterstützte Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Diese Differenz mag etwas irritieren und müsste des längeren erörtert werden. Lenin jedenfalls kaprizierte sich 1914 auf das Recht unterdrückter Nationen auf Selbstbestimmung und polemisierte gegen die Privilegien der ›großrussischen‹ Nation.

    Die Kunst im Kriege

    Alexander Kluge, der zeitlebens eigene und fremde Erfahrungen mit dem Krieg verarbeitet, macht in der Süddeutschen Zeitung Bemerkungen, die bei der derzeit aufgeheizten Stimmung unter den Literaten von Grünbein bis Salzmann garantiert taube Ohren finden.

    Ein Krieg ist eine Herausforderung an die Kunst. In Kriegszeiten wird sie gern von beiden Seiten für Propagandazwecke eingesetzt. Dazu taugt sie nicht. Eigentlich gehört sie zur Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein. Valery Gergiev soll dirigieren und Anna Netrebko soll singen. Ich bin entsetzt über ihren Ausschluss, darüber, dass man große russische Künstler zu opportunen Äußerungen drängen will. Ich höre dabei das Reden in Phrasen derer, die sie einst eingestellt und verehrt haben.

    Ein ägyptisches Sprichwort sagt, dass man Dämonen an ihrer Geschwätzigkeit erkennt. Der Krieg ist ein Dämon: Nicht nur auf der Lit.Cologne haben Schriftsteller kürzlich Forderungen gestellt, die, würden sie umgesetzt, den Atomkrieg auslösen könnten. Wie also gewinnen wir wieder Bodenhaftung?

    Eine schreckliche Stimme der Kunst ist Oleg Barleeg, ein ukrainischer Lyriker. Der Tagesspiegel gibt ihm Raum für eine unverhohlene Hasstirade gegen die Russen. Natascha Wodin darf darauf antworten, aber im Gegensatz zu Barleegs Text nur hinter der Paywall.

    BPB zur »Zeitenwende«

    Ein umfangreiches, 29-teiliges Dossier hat die Bundeszentrale zur Politischen Bildung zusammengestellt. Trotz starker Qualitätsunterschiede der einzelnen Beiträge und vieler fehlender Perspektiven eine lohnende Lektüre.

    Aktuelle Beiträge von Johannes Varvick

    Der deutsche Politikwissenschaftler Varwick ist eine der wenigen häufig in den Medien befragten Personen, die sich nicht der Melnyk-Fraktion angeschlossen haben. Er hält nach wie vor einen militärischen Sieg der Ukraine nicht für die alleinseligmachende Lösung des Konflikts. Seine Beiträge dokumentiert bzw. verlinkt er selbst regelmäßig.

    Stockholm-Syndrom

    Wie lässt sich das ›rücksichtslose Wohlwollen‹ (Nietzsche) der deutschen Medien, Wissenschaft und Politik gegenüber dem fanatischen Kriegs- und Siegeswillen der ukrainischen Regierung, vielleicht sogar der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit erklären? Es geht weit über die moralische, humanitäre und auch gegenständliche Hilfsbereitschaft hinaus, die dem angegriffenen Land wohl selbstverständlich zusteht. Einen Erklärungsansatz liefert Fritz Breithaupt in seinem Buch Die dunklen Seiten der Empathie (2017). Er analysiert darin den Doppelcharakter von Empathie. Das menschliche Vermögen zum Mit-Erleben mit einem anderen wird meist als positive Eigenschaft bzw. psychische Leistung beschrieben. Eine vollständige Identifikation, ein 1:1 und live sich vollziehendes Mit-Empfinden ist jedoch nicht möglich, Beobachter und Beobachteter machen ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten. Empathie hat allerdings auch eine negative Seite, die von Breithaupt im Anschluss an Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse § 207) als tendenzielle Selbstaufgabe des Beobachters gegenüber dem starken Ich eines bewunderten Subjekts beschrieben wird. Er nennt drei Aspekte:

    Das medial konzipierte und verstärkte, redaktionelle Ich des Medienprofis Selenskyi bringt beispielsweise Protagonisten und Anhänger der deutschen Grünen dazu, Werte und Eigenschaften zu verehren, die bislang für sie des Teufels waren:

    • Fanatischer Nationalismus (bei einigen Vertretern, s. o., mit rassistischen Zügen),
    • Männlichkeit (die Rollenverteilung bei ukrainischen Akteuren ist klar: Männer handeln heldenhaft, Frauen sind auf die Opferrolle beschränkt),
    • Bellizismus (die durchgängige Behauptung, dieser Konflikt könne nur mit Waffen bestanden und beendet werden).

    Dazu auch ein (etwas zielloser) Kommentar von Daniel Schulz in der taz. Helmut Lethen fällt zum Krieg in der Ukraine nichts Substanzielles ein, er übernimmt die Identifikation von Sorglosigkeit mit Pazifismus.

    Der Preis des Friedens

    Der letzte (Co-)Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gaseta, hat seine Nobelpreis-Medaille versteigern lassen, um ukrainische Flüchtlinge unterstützen zu können. Seine Parole: »Stoppt das Schießen, tauscht Gefangene aus, unterstützt Geflüchtete.«

    Es würde mich zwar nicht wundern, wenn Präsident Selenskyi in diesem Jahr zum Friedensnobelpreis vorgeschlagen würde (wie einige kriegführende Staatsoberhäupter vor ihm), aber von der Befolgung dieser einfachen Forderung ist sein Handeln doch sehr weit entfernt.

  • Guter Todesengel

    Andrej Kurkow ist der zeitgenössische ukrainische Bestsellerautor. Mehr als zehn Bücher von ihm sind auch auf Deutsch erschienen. Darunter der Roman, dessen Originaltitel übersetzt eigentlich »Guter Todesengel« lautet, der aber nun Petrowitsch heißt, nach dem Chameleon, das die Hauptfigur in der zweiten Hälfte des Romans von Kasachstan bis in die Westukraine begleitet. Die Handlung bedient sich in Andeutungen einiger Elemente von Fantasy-Romanen. Die Hauptfigur Kolja (ein russischer Ukrainer) entdeckt in einem Buch ein zweites, das ihn auf Umwegen zu einem Toten führt, in dessen Grab er Hinweise auf irgendwo in Kasachstan versteckte Tagebücher des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko findet. Er reist auf abenteuerliche Weise dorthin und wieder zurück, ständig begleitet von ethnischen Ressentiments zwischen Russen und Ukrainern. Der Clou der Reise ist der Rücktransport einer Fuhre Sand aus Kasachstan, der auf irgendeine Weise vom Sperma Schewtschenkos imprägniert ist und nach dem Willen des Protagonisten und seiner Begleitung in Sandkästen ukrainischer Kindergärten verstreut werden soll, um dort den Geist des Patriotismus auszustrahlen.

    Gelesen habe ich den Roman hauptsächlich, weil Tatjana Hofmann ihn in ihrem Buch über Literarische Ethnografien in der Ukraine als eins der Beispiele für den nationalen Diskurs anführt, der fast unvermeidlich die literarische Produktion ukrainischer Schriftsteller in den letzten 25 Jahren leitet. Was sie meint, ist durchweg erkennbar, ansonsten ist das Buch nur an einigen Stellen erträglich, an denen es etwas seltener Abenteuer-, Krimi- und Spionageklischees bedient und der Humor etwas hintergründiger ist.


    Andrej Kurkow: Petrowitsch. Zürich: Diogenes, 2000. Die Titelvignette ist ein Clip aus der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg

  • Ukraine-Scrapbook (1)

    Der am 24.02.2022 von Russland begonnene Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Deutschland einen nach einigen Wochen allerdings schon wieder stark abklingenden Schock ausgelöst. Die mit der Ausbreitung der Corona-Pandemie verbundenen Sorgen und das Problem der mangelhaften Antworten auf den Klimawandel sind zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung durch Medien in den Hintergrund gedrängt.

    Erstaunlich ist nicht nur, dass in den letzten acht Jahren, in denen es permanente kriegerische Auseinandersetzungen in den östlichen Regionen der Ukraine gab, keine umfassende Berichterstattung darüber stattgefunden hat. Es ließen sich viele vereinzelte Berichte dokumentieren. Die meisten von ihnen fallen allerdings ebenso in die Rubrik Helikopter-Journalismus, wie der Besuch Robert Habecks im Donbas im Mai 2021 Helikopter-Politik genannt werden könnte.

    Konrad Schuller: Habeck im Krieg FAZ 30.05.2021

    Auch die auf Langzeitbeobachtung verpflichteten wissenschaftlichen Instanzen haben nur wenig dazu getan, dem Publikum Einsichten zur Konfliktlage in der Ukraine und deren Geschichte deutlich zu machen. Allerdings war und ist das Publikum auch nicht für Erklärungen der offenbar vorliegenden komplexen Zusammenhänge zugänglich – obwohl, wie nunmehr häufig zu hören ist, die Entfernung zwischen den östlichen deutschen Regionen und der Ukraine nicht größer ist als manche innerdeutschen Entfernungen. Es fehlte und fehlt in Deutschland eine gemeinsame Wissens- und Verhandlungsgrundlage, auf der ein Austausch von Argumenten und Meinungen überhaupt möglich würde – etwas ähnliches stellte auch Karl Schlögel 2015 in seiner Erlebnissammlung Entscheidung in Kiew fest.

    Dennoch sind sie plötzlich vorhanden, massiv, dezidiert und mitunter aufdringlich und unduldsam, die Haltungen und Meinungen zum Ukrainekrieg. Für mich stellt sich das Problem der öffentlichen und meiner individuellen Meinungsbildung und seiner Grundlagen somit doppelt. Warum kommt die Erklärung der politischen Entscheidungen Russlands, militärisch in die Ukraine einzudringen, nicht über oft bilderbuchmäßig klischeehafte und naiv vereinfachende Muster hinaus? Warum blendet die Wahrnehmung der Ukraine die vielschichtigen inneren Probleme und Gegensätze dieses Landes bis zur Unsichtbarkeit aus?

    Zur Selbstverständigung habe ich einige Artikel und Bücher gelesen, Audios angehört, Videos angesehen. Einen Teil dieser von ganz zufälligen Anstößen und subjektiven Vorlieben gesteuerten Erkundung liste ich hier auf – vor allem auch, um mich selbst darin zurechtzufinden. Ergänzungen werden wahrscheinlich folgen, die kriegerischen Auseinandersetzungen werden wohl leider nicht so schnell beendet sein, und das Schicksal der Ukraine bleibt weiter eine offene Frage.

    Aktuelle Berichte

    In den ersten Wochen des Krieges waren die Nachrichtenmedien voll von nicht kontextualisierten Berichten über Einzelereignisse und der Wiedergabe von Stellungnahmen der ukrainischen Regierung. Auch die russische Position kam, zumindest gelegentlich vor, wenn Präsident Putin eine öffentliche Äußerung machte. Speziell dem öffentlich-rechtliche Fernsehen gelang es gar nicht, aus einer gewissen Distanz heraus ein jeweils aktuelles Gesamtbild der Lage zu zeichnen. Die eindringenden russischen Truppen wurden offenbar durch ukrainisches Militär und andere bewaffnete Einheiten aufgehalten und teilweise heftig bekämpft. Es entspricht der Situation und sicherlich auch den Lehren aus früheren Kriegen, dass die ukrainische Seite keine ›embedded journalists‹ an ihren Fronten zuließ. Aufgrund der Bilder und Berichte entstand aber über Wochen der Eindruck, die russischen Angriffe richteten sich ausschließlich gegen militärische Einrichtungen (aus der Luft und nicht aufzuhalten) und gegen die Wohnbevölkerung, die mit Flucht, Verstecken in Kellerräumen und dem Basteln von Molotow-Cocktails darauf reagierte. Dieser Eindruck ist offenbar schief.

    Eine gute Informationsquelle über die militärischen und politischen Aspekte des Ukraine-Krieges war und ist allerdings der tägliche NDR-Podcast Streitkräfte und Strategien.

    Ein zweiter Podcast des NDR bringt wöchentlich Hintergrundanalysen.

    Es wurden und werden in deutschen Medien auch ukrainische Stimmen und Experten gesucht. Eine der ersten Stellungnahmen am Tag nach der Invasion kam von Roman Dubasevych (der weiter unten noch einmal erwähnt wird). Er formuliert in einem WDR-Interview auch seine Sorge über die unbedingte Verteidigungsbereitschaft seiner Landsleute.

    In einem weiteren Interview Ende März mit der Friedrich-Ebert-Stiftung sagt Dubasevych: »Es kommt dabei zu einer paradoxen Situation, in der der Kampf für die Selbstbestimmung und menschliche Würde höher als das menschliche Leben empfunden wird.«

    Es gibt allerdings überwiegend Stellungnahmen ukrainischer Sprecher:innen, in denen die militärische Reaktion unbedingt befürwortet und deren umfassende Unterstützung durch Deutschland eingefordert wird. Als Beispiel mag dieser Beitrag von Kateryna Zarembo und Marianna Fakhurdinova gelten. Noch etwas ausführlicher, allerdings in der Argumentation nicht komplexer ist der Beitrag »Keine Kompromisse mit dem neofaschistischen Russland«, ebenfalls von Kateryna Zarembo.

    Der unvermeidliche Pörksen: Kontroll- und Verbotsaufforderungen kommen auch aus der Ecke der Wohlmeinenden und Gläubigen, die irgendwo mal eine flüchtige Zusammenfassung von Habermas gelesen haben und nun glauben, die »Gesellschaft« wird durch die Macht des besseren Arguments zusammengehalten. Dieser hier gehört dazu.

    Informationssammlungen

    Alle offiziellen Medien haben Ticker und ständige Rubriken zur Ukraine eingerichtet, in denen sich Spuren des Kriegsverlaufs und seiner politischen Begleitung finden. Die gründlicher zu studieren und zu vergleichen überlasse ich gern anderen. Mit den üblichen inhaltsanalytischen, also quantitativen Methoden wird sich nicht viel Aufregendes finden lassen. Mein Problem mit der aktuellen deutschen Berichterstattung ist, dass die Grenze zwischen Journalismus und (Durchleiten von) Propaganda oft nicht zu erkennen ist. Gerade in einem solchen Konflikt wie diesem ist »Haltung« gefragt. Die sollte für das journalistische Gewerbe nicht darin bestehen, die Perspektive einer Seite unbefragt zu übernehmen und diese quasi in Rührung und Betroffenheit zu umarmen. Haltung verlangt Abstand.

    Von Mischa Gabowitsch gibt es eine ständig aktualisierte Bibliographie zu Geschichte und Gegenwart der Ukraine.

    Grundlegend interessant sind immer die aktuellen Studien im Russian Analytical Digest. The series is produced by a partner network that includes the Center for Security Studies (CSS) at ETH Zürich, the Research Centre for East European Studies (FSO) at the University of Bremen, the Institute for European, Russian and Eurasian Studies (IERES) at the George Washington University, the Center for Eastern European Studies (CEES) at the University of Zurich, and the German Association for East European Studies (DGO).

    Die Länder-Analysen enthalten Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven, aktuelle Anstöße bei Twitter: https://twitter.com/laenderanalysen.

    Zu vorsichtigem und umsichtigen Umgang mit Karten rät Übermedien.

    Aspekte deutscher Politik

    Erstaunlich für viele ist der Einstellungswandel der Grünen. Nun liegt der Kosovo-Krieg mit der Befürwortung eines militärischen Eingriffs dort schon eine Weile zurück, und der grünen Politik haftet seitdem kein ausgesprochener Bellizismus an. Aber Robert Habeck mit seiner oben erwähnten Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine im Frühjahr 2021 steht in der Partei keineswegs allein. Ältere führende Mitglieder wie Marieluise Beck, Ralf Fücks und Rebecca Harms treiben aus welchen Motiven auch immer die Bewaffnung der Ukraine sowie Deutschlands und somit die kriegerische Konfliktlösung an. Ein Bericht der Tagesschau vom 03.03.2020 dokumentiert, wie glatt der Vorschlag eines 100-Milliarden-»Sondervermögens« zur Aufrüstung der Bundeswehr bei den Grünen durchgeht.

    Ralf Fücks übt in einem Stern-Interview eine Stimmlage ein, die in Westdeutschland seit den Zeiten des Kalten Kriegs vermieden wurde. Dabei versucht er, den Pazifismus – der tatsächlich seit 1989 unkreativ geblieben und fast eingeschlafen ist – zum Mainstream der bisherigen deutschen Politik zu erklären, der jetzt durch radikalen Bellizismus zu ersetzen ist. Vor dieser »Zeitenwende« gruselt mir, auch wenn an ihrer Begründung nichts stimmt.

    Die Gegenseite, nämlich die primär an einer Einstellung der Kriegshandlungen und nicht ihrer Verlängerung durch Aufrüstung interessierte, ist im Journalismus, in der Wissenschaft und in der Politik deutlich schwächer vertreten. Johannes Varwick äußerte sich mehrfach in den Medien, hier ein Beispiel:

    https://www.youtube.com/embed/lycIHFuvav4″

    Die Chancen des konfliktsensitiven Journalismus werden nicht einmal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der die Verpflichtung zur Darstellung aller relevanten gesellschaftlichen Perspektiven hat, aufgegriffen. Siehe das Lemma »Friedensjournalismus« im Online-Lexikon Journalistikon. Auch ein Radiogespräch mit Carola Richter äußert den Wunsch nach dem Aufzeigen von Lösungsperspektiven jenseits der militärischen Lösung (die es sicher nicht geben wird).

    Aspekte ukrainischer Politik

    Der ukrainische Präsident Selenskyi hatte bei seinem Amtsantritt 2019 einige Erwartungen erweckt. Frieden in der Ostukraine, Bekämpfung der Korruption und mehr Wohlstand waren darunter, vielleicht auch mehr Demokratie. Ukrainische und ausländische Beobachter waren noch in den Monaten vor dem Ausbruch des Krieges skeptisch im Hinblick auf die Einlösung dieser Erwartungen. Der seit 2014 anhaltende Krieg im Donbas ging unvermindert weiter, die Eindämmung der Korruption kam über eine Unvereinbarkeitsregel von Oligarchentum und politischem Mandat nicht hinaus, und in den volkswirtschaftlichen Wohlstandsindizes (GDP, HDI) hängt die Ukraine bis vor Kriegsausbruch deutlich hinter dem Kontrahenten Russland zurück. In einigen Rankings, die Freiheitsrechte zu erfassen versuchen, schneidet die Ukraine hingegen besser ab als Russland. Der Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International zeigt einen annähernden Gleichstand der beiden Länder, in denen die Oligarchenherrschaft blühte und blüht.

    Die Verwicklung des durch seine erfolgreichen Fernsehproduktionen und seine Verbindung mit ukrainischen Oligarchen reich gewordenen heutigen Präsidenten Selenskyi in internationale Finanzgeschäfte dokumentierte die Bundeszentrale für politische Bildung im Oktober 2021. Das ist immerhin eine Anregung, das Framing der Ukraine-Berichterstattung – Demokratie gegen Diktatur – zu reflektieren.

    Ein Interview Selenskyis, 90 Minuten mit Untertiteln vom 27.03.2022, zeigt einerseits die lockere Performance des Fernsehstars, enthält andererseits eine ganze Reihe von Aussagen, denen ein Faktencheck gut tun würde.

    Beide Seiten bespielen alle Kanäle, von TV bis TikTok. Zu letzterem hier etwas. Daraus geht hervor, dass Propaganda auf beiden Seiten stattfindet. Der deutsche Journalismus schaut nur auf die russische.

    Der rechte Sektor

    Die von Vertretern Russlands häufig geäußerte Behauptung, die Ukraine werden von neonazistischen Kräften beherrscht, ist in dieser Pauschalität sicher Humbug. Es gibt allerdings seit den militanten Auseinandersetzungen auf dem Kiewer Majdan 2014 die Beobachtung, dass rechtsradikale Kräfte Einfluss innerhalb der Umsturzbewegung hatten. Ein Beitrag im ARD-Magazin Panorama vom März 2014 dokumentiert das.

    Ein Deutschlandfunk-Beitrag am 11.03.2022 relativiert allerdings den Einfluss der prominentesten rechten Truppe, des Asow-Regiments. Der dort interviewte Politikwissenschaftler und ehemalige FDP-Politiker Alexander Ritzmann spricht dabei über [dieses Papier](https://www.counterextremism.com/sites/default/files/2022–03/CEP Policy Brief_Foreign Fighters in the 2022 Russia-Ukraine War_March 2022.pdf). Ritzmann tut die Relevanz des Asow-Regiments weitgehend ab. Das sehen einige der folgenden Quellen anders.

    Diese Studie eines französischen, regierungsunabhängigen, sehr konservativen Instituts von 2016 spricht von drei militärischen Formationen in der Ukraine: 1. reguläre Armee unter Befehl des Verteidigungsministeriums, 2. Nationalgarde, kommandiert vom Innenministerium und 3. Spezialkräfte, ebenfalls Innenministerium. Der Autor hat an der jüdischen Universität in Moskau promoviert und schreibt öfter in der Jüdischen Allgemeinen. Er arbeitet(e) auch am ZMINA Center for Human Rights in Kiew.

    Neuer (September 2021) und durchaus vertrauenswürdiger scheint mir diese Zusammenstellung. Sie hat allerdings wenig tiefere Einsichten. Immerhin weist sie aus, dass auch NATO-Länder an der Ausbildung von Asow-Leuten beteiligt waren, u. a. die Offiziersschule des Heeres in Dresden.

    Michael Colborne spricht in diesem Webinar über sein einschlägiges Buch. Er und Oleksiy Kuzmenko (der die eben zitierte Studie zusammenbaute) erhielten zwischenzeitlich Drohungen aus der Ukraine. Colbornes Buch.

    Newsweek zeichnet die aktuelle Lage am 02.03.2022 wiederum etwas anders. Da ist die Asow-»Bewegung« ein Teil der Nationalgarde (also Innenministerium) und in vielen Städten verbreitet, kein kleiner Haufen mehr. Sie entwickelt sich ständig weiter und wird größer: »evolving«. Sie hat ihre eigene Agenda und gibt die auch nicht auf.

    Auch interessant: Intercept über Facebook, wo jetzt wieder fürs Asow-Regiment geworben werden darf.

    Perspektiven und Ideologien

    Der Bremer Politikwissenschaftler Klaus Schlichte 2015 zur grundsätzlichen Frage, ob Gewalt legitim sein kann.

    Der langjährige Geheimdienstmitarbeiter und angebliche Präsidentenberater Olexeij Arestowytsch (einige Quellen sagen, er berät nicht mehr) macht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Putin und dem oppositionellen Häftling Nawalny.

    Über den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine hinaus rechnet Selenskys Berater Olexeij Arestowytsch mit weiteren Zusammenstößen der beiden Länder in den kommenden Jahren. »Russland sucht eine neue Form des Imperiums, entweder mit Wladimir Putin oder mit Alexej Nawalny, so in 32 bis 35 Jahren werden wir mindestens noch zwei oder drei Runden mit Russland haben«, sagte Arestowytsch nach Angaben der Agentur Unian. Ob größerer Krieg oder nur Grenzscharmützel – die Wahrscheinlichkeit neuer Zusammenstöße sah er bei 95 Prozent.

    Selbst ein Machtwechsel im Kreml würde nach Meinung von Arestowytsch die Konfrontation mit der Ukraine nicht beenden. »Da kann Einiges geschehen, es könnte sogar irgendein Liberaler übernehmen«, spekulierte Arestowytsch. »Dann gibt es eben eine Auseinandersetzung auf Ebene der Informationen, der Wirtschaft oder der Geheimdienste, auch militärisch, wenn auch ohne direkten Krieg.« Dennoch bleibe es ein »schrecklicher Zivilisationskampf«.

    FAZ 11.04.2021 https://www.faz.net/aktuell/ukraine-konflikt/ukraine-krieg-ramsan-kadyrow-droht-mit-neuen-angriffen-17950406-p2.html

    Der Begriff Zivilisationskampf erinnert an die Ideologie von Alexander Dugin, der eine russische bzw. eurasische Version von Huntingtons ›Clash of Civilizations‹ gegen den von Bernard-Henri Levy vertretenen breiten Werte-Universalismus entwickelt hat. Dugins Ideen haben nach Ansicht einiger Kreml-Ideologen Einfluss auf das Denken Wladimir Putins. Aufschlussreich sind die Erklärungen Sylvia Sasses in einem Gespräch mit Wolfgang Ellenberger im Deutschlandfunk. Ziemlich lustig ist zudem das überraschend zivil ablaufende Streitgespräch Dugins mit Bernard-Henri Lévy, dem französischen Großmeister militanter Phrasen in der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Totalitarismus.

    Ein passender Dialogpartner für Dugin wäre Durs Grünbein. Der zog am 02./03.03.2020 in der Süddeutschen Zeitung alle Register einer suprematistischen Weltsicht und empfiehlt der »freien Welt«, ihren Immunschutz durch Stärkung ihrer militärischen Versicherungsanstalt (der Nato) zu erhöhen.

    Die hätte noch gar nicht gemerkt, dass der Krieg gegen sie geführt würde. Die genannte freie Welt habe aufgrund ihrer »regelbasierten Ordnung« allein das Recht, rote Linien zu ziehen.

    Geschichte

    Ein Hörfunk-Feature des aus der Ukraine stammenden Schauspielers Mark Zak Kiew 1918. Ein Festgelage wie zu Zeiten der Pest verdeutlicht die chaotischen Zustände und Regimewechsel während des Ersten Weltkriegs und der Jahre danach. Das – auch mehrfach seine Form wechselnde – Territorium der Ukraine war der Schauplatz, auf dem sich Ansprüche und Gewalttaten mehrerer Nationen kreuzten. Gut jedenfalls auch die Erinnerung daran, dass Michail Bulgakow Ukrainer ist. Das war mir nie bewusst. Allerdings ist seine Biographie so wild wie sein literarisches Werk, und er schrieb auf Russisch. Die Lektüre von Die weiße Garde werde ich jetzt nachholen.

    Unmittelbar vor der russischen Invasion wurde über den Konflikt um die Ukraine in deutschen Medien noch aus einem wohltuenden Abstand berichtet. Das ZDF brachte zwei kurze Hintergrunddarstellungen: Ukraine: Was seit der Krim-Annexion geschah (09.02.2022) und Warum Moskau den Donbass für sich beansprucht (22.02.2022).

    Interessant ist es, sich über die territorialen Veränderungen im 20. Jahrhundert – und nicht nur derjenigen des ukrainischen Staatsgebiets – ein Bild zu machen. In diesem interaktiven historischen Atlas geht das in beiden Richtungen < PREV | NEXT >.

    Christine Hamel in einem einstündigen Radio-Feature aus dem Jahr 2017 über die russische Erinnerungspolitik Geschichte maßgeschneidert – Wie Russland Vergangenheit schreibt.

    Geschichte maßgeschneidert - Wie Russland Vergangenheit schreibt | Bild: BR Bild
    Geschichte maßgeschneidert – Wie Russland Vergangenheit schreibt | Bild: BR Bild

    Recht differenziert ist eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik über den Donbas-Konflikt 2019.

    Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages stellte noch im Januar 2022 eine Argumentation zu den Minsker Abkommen der Jahre 2014 und 2015 zusammen.

    Ukrainische Literatur

    Taras Schewtschenko (1814–1861) wird als der größte Nationaldichter der Ukraine verehrt. Er schrieb Gedichte auf Ukrainisch, Prosa und Tagebücher auf Russisch. 1838 wurde er von Freunden durch Veranstaltung einer Lotterie aus der Leibeigenschaft eines ukrainischen Gutsherren freigekauft. Erst 1861 wurde im Zarenreich, zu der die Ukraine damals gehörte, die Leibeigenschaft abgeschafft. Zwischen 1850 und 1857 war er, in die Rolle eines einfachen Soldaten gezwungen und unter Schreib- und Malverbot, in die Festung Nowopetrowsk am Kaspischen Meer verbannt, die heute Fort Schewtschenko heißt.

    Dieser Ort spielt unter anderem eine wichtige Rolle in einem der Romane des ukrainischen Bestsellerautors Andrej Kurkow, den ich kurz besprochen habe.

    Zur ukrainischen Gegenwartsliteratur seit 1991 gibt es einige interessante Arbeiten.

    Roman Dubasevych, Matthias Schwartz (Hrsg.): Sirenen des Krieges. Diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts. Kadmos, 2019.

    Die Beiträge des Buchs offenbaren unter anderem die gegenseitigen Ressentiments und die geschichtspolitischen Obsessionen, die bereits lange vorher in künstlerischen Werken und kulturellen Diskursen präsent waren – wie schon der Klappentext zutreffend sagt.

    Spannend ist die Erläuterung des Umschlagbildes in der Einleitung der Herausgeber. Es handelt sich um das Gemälde Der Krieg eröffnet Möglichkeiten für Neonazis und Faschisten auf beiden Seiten des anarchistischen Kiewer Künstlers Davyd Čyčkan. Es zeigt Vertreter kämpfender Parteien, die einander immer ähnlicher werden. Dubasevych und Schwarz schreiben dazu: »Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die anarchistische und radikal linke Szene, verkörpert neben Davyd Čyčkan auch durch den Soziologen Volodymyr Iščenko und die Zeitschrift Spil’ne (Das Gemeinsame), noch während der Euromaidan-Proteste« vor den Gefahren einer nationalistischen Gewalteskalation prophetisch warnte und die Sinnlosigkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland durchschaute.« (S. 30)

    Das Bild war 2017 Teil einer Ausstellung in Kiew, die einige Tage nach der Eröffnung von einer Gruppe Vermummter verwüstet wurde. Sie sprühten Parolen an die Wand und vernichteten unter anderem dieses Bild. An dessen Stelle prangte die Parole, die auch Selenskyi in seiner Rede im Deutschen Bundestag am 17.03.2022 verwendete: »Ruhm der Ukraine«.

    Aus dem Band Sirenen des Krieges, S. 31

    Sachlich spannend ist die literaturwissenschaftliche Dissertation von Tatjana Hofmann: Literarische Ethnografien der Ukraine. Prosa nach 1991. Basel: Schwabe, 2014, die sich auch zum Download findet.

    Der in Gießen lehrende ukrainische Literaturwissenschaftler Alexander Chertenko untersuchte 2019 das Bild des Donbas in Jevhen Položis Roman Ilovajs’k: »Hier gibt es keine Unschuldigen«. Die Mikrokolonisierung des Donbas. Eine kürzere Fassung seiner Darstellung ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

    Interessante Dissertation von Tetiana Ivanchenko (2021) über Internet-Memes zum ukrainisch-russischen Konflikt: https://tud.qucosa.de/api/qucosa%3A77486/attachment/ATT-0/

    Die Zusammenfassung im Vorwort in Form eines Memes.

    Das Fazit stellt die Spiegelbildlichkeit des Feindaufbaus fest.

    Es erinnert an die systemtheoretische Analyse der Friedensproblematik durch Gertrud Brücher – Frieden als Form. Opladen: Leske + Budrich, 2002.

    Filme

    Drei Filme dokumentieren auf jeweils unterschiedliche Weise die mit dem seit 2014 tobenden Krieg im Donbas verbundenen Perspektiven.

    1. Donbass (2018) von Sergei Loznitsa – unter anderem bei Amazon.
    2. Кiборги/Cyborgs bzw. Heroes never die (2017) von Achtem Seitablajew.
    3. Leben und Sterben im Donbass (2022) von Wilhelm Domke-Schulz.

    Loznitsas Film ist von einem sarkastischen, teilweise absurdistischem Humor geprägt. Er zeigt den Zerfall menschlicher Werte im umkämpften Donbas aus ukrainischer Perspektive

    Der Cyborg-Film ist ein reiner Propaganda-Spielfilm, der das völlig sinnlose Durchhalten eines kleinen ukrainischen Trupps auf dem bereits zerstörten Flughafen von Donezk zeigt. Roman Dubasevychs Artikel über diesen Film ist quasi eine Kurzfassung seines Beitrags in dem oben erwähnten Buch Sirenen des Krieges. Genre und »Haltung« entsprechen dem Durchhaltefilm Kolberg von Veit Harlan.

    Die pro-russische bzw. pro-separatistische Dokumentar-Montage des deutschen Regisseurs Domke-Schulz ist als propagandistisches Gegenstück nicht so beklemmend wie Seitablajews Spielfilm, was auch an seinen handwerklichen Mängeln liegt.

  • Das Coca-Cola-Dosen-Zerwürfnis

    Lea Ypi, geboren 1979 in Albanien, lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics. Ihr autobiographischer Roman Free ist auch auf Deutsch erschienen und heißt hier einfach Frei. Die Cola-Dose auf dem Cover ist ein Element ihrer Erzählung: In Tirana wurden in den 1980er Jahren leere Cola-Dosen gehandelt und wie Ikonen auf den Wohnzimmerschrank gestellt. Die von Leas Familie erworbene Dose verschwand eines Tages und tauchte bei den Nachbarn auf, die jedoch einen Diebstahl leugneten.

    Das ganze Buch besteht aus einer Unmenge von Anekdoten, jeweils aus der kindlichen und jugendlichen Sicht der Autorin erzählt. Der Strom der Geschichten beginnt Mitte der 1980er Jahre und endet 1997, gefolgt von einem Epilog.

    Die Autorin stellte ihr Buch am 15.03.2022 in Frankfurt in einem langen Gespräch mit Steffen Mau vor, das als Video dokumentiert ist:

    In dem Video erzählt sie die Geschichte eines Albaners, die im Buch nicht enthalten ist. Es handelt sich um den Sohn einer sowjetrussischen Mutter und eines albanischen Vaters. Diese Konstellation war im antisowjetischen System Enver Hoxhas grundsätzlich verdächtig. Der junge Mann wurde ständig von der Polizei beobachtet, die einen Vorwand suchte, ihn hinter Gitter zu bringen. Sie machte eines Tages eine Wohnungsdurchsuchung und fand eine CD von Joe Cocker. Ob sie ihm gehöre und ob er sie höre, wurde der junge Mann gefragt. Er bejahte, wurde festgenommen und blieb bis zum Zusammenbruch des realstalinistischen Systems zehn Jahre im Gefängnis. Er reist in den Westen und besucht ein Joe-Cocker-Konzert. Dort dringt er bis zu seinem Idol vor, hält ihm seine CD, die er immer noch besitzt, zum Signieren hin und ruft, er sei seinetwegen zehn Jahre im Gefängnis gewesen. Joe Cocker macht sich nicht die Mühe, hinter die Aufregung des Albaners zu dringen, sagt nur: »Wir haben alle mal Drogen genommen« und lässt die Polizei kommen, um den Belästiger abzuführen.

    In Albanien fiel 1990 nach dem Tod Enver Hoxhas, der das Land mit seinen 3 Millionen Einwohnern über 45 Jahre unter ein stalinistisches Zwangsregime gestellt hatte, die Mauer in der Weise, dass Hunderttausende über die Adria nach Italien fahren wollten, um den liberalen Westen zu erleben. Die Kontakte mit den Bürgern westlichen Staaten waren dann schnell ernüchternd: »Plötzlich kamst du nicht mehr aus einem gescheiterten Staat, sondern du warst eine gescheiterte Person«.

    Die Übergangsphase, die 1991 mit den ersten pluralistischen Wahlen begann – bei der die regierenden Kommunisten noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit errangen – entwickelte sich recht chaotisch. Ein Kulminationspunkt war der manchmal Lotterieaufstand genannte Bürgerkrieg 1997, der durch den Einsatz von 6.000 ausländischen Soldaten aufgrund eines Uno-Mandats beendet wurde. Einige Firmen hatten Pyramidensysteme aufgezogen und Tausenden von naiven Albanern um ihr Erspartes gebracht, und die Regierung hatte nichts gegen die betrügerischen Umtriebe unternommen.

    Die Autorin, väterlicherseits Urenkelin des kurzfristigen albanischen Ministerpräsidenten Xhafer Ypi (1922) und mütterlicherseits Enkelin eines muslimischen Gläubigen, der sich 1947 mit dem Ruf Allahu akbar! von einem Hochhaus stürzte, erfuhr diese und viele andere Details ihrer Familiengeschichte erst nach der Befreiung des Landes vom Stalinismus. Nach ihrem Schulabschluss und dem Tod von Großmutter und Vater verließ sie Albanien. So ist es nicht nur der zeitliche, sondern auch der räumliche Abstand, der es ihr ermöglicht, heiter und ohne Bitterkeit ihre Geschichte zu erzählen.


    Lea Ypi: Free/Frei. London: Allen Lane, 2021/Berlin: Suhrkamp, 2022