Als ich amüsiert über die Abzocke der Mineralölindustrie diese Preisanzeigen fotografierte, kam mir ein älteres Ehepaar entgegen. »Nächste Woche kostet der Liter 5 Euro«, sagte er. »Oder gar nichts mehr«, sagte sie.
Aktuelle Vergeblichkeitsforschung
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Dittsche in 07769
László Krashahorkai hat einen »Gegenwartsroman« geschrieben, der in Deutschland, genauer: in Thüringen, spielt. Sein Protagonist arbeitet als Gebäudereiniger, entfernt Graffiti, und hat sich mit einem VHS-Lehrer angefreundet, der ihm Erkenntnisse über die Quantenmechanik zu vermitteln versucht, mit denen der Protagonist, Herscht, wiederum die Kanzlerin Merkel konfrontieren möchte. Der Chef der Gebäudereinigertruppe ist ein Neonazi, der allerdings die Komponistenfamilie Bach über alles stellt. In einem einzigen Satz, der sich über 400 Seiten hinzieht – dann gibt es tatsächlich einen Punkt – verplaudert der Erzähler windungsreich und detailreich Alltagsereignisse und -aktionen, in denen sich durchaus manche deutsche Verhältnisse spiegeln und wiederfinden lassen. Der Plauderton und die sprunghafte Verknüpfung von Themen und Ereignissen erinnert an Olli Dittrichs Comedy-Figur Dittsche. Die Übersetzung aus dem Ungarischen ist erstaunlich, sie macht sich als solche an keiner Stelle bemerkbar. Das Buch ist am ehesten genießbar und zu bewältigen, wenn man es vorliest oder wie in Zeiten vor dem Buchdruck leise brabbelnd für sich selbst intoniert. Es lebt aus dem Fluss der beschriebenen Details und der kleinräumigen Wendungen. Ich habe nach einem Viertel des Textes aufgegeben, weil ich mich bis dahin nicht für die Figuren und ihre Verknüpfungen zu interessieren vermochte. Dass sich Herscht gegen Ende des Buchs zu einem haltlosen Gewalttäter entwickelt, ist mir egal. Die formale Erzählidee Krasznahorkais ist ziemlich einfach, aber schwierig zu realisieren, und dass er sie über Hunderte von Seiten durchhält, ist ein sportlicher Erfolg. Aber die Idee ist nicht neu, das Buch löst über diese Form der Prosa keine Auseinandersetzung aus, und die Story hat dies – in der Welt der Rezensionen – auch nicht getan.
László Krasnahorkai: Herscht 07769. Frankfurt a. M.: Fischer, 2021
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Homines sovietici
Wo soll man eigentlich anfangen mit der Analyse des postsowjetischen Elends? Das zaristische Russland, die Revolutionen von 1917, der Bolschewismus, die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts und des Zweiten Weltkriegs, das immer noch eiskalte Tauwetter – all das sind mögliche Einstiegssituationen für eine klärende Darstellung. Swetlana Alexijewitsch wählt für ihre umfangreiche Montage vieler Monologe von Einwohnern der ehemaligen UdSSR ein anderes Datum, das immer wieder fokussiert wird. Es handelt sich dabei um den Putsch einiger hoher Partei- und Armeefunktionäre gegen Gorbatschow im August 1991. Er sollte unter anderem den Erhalt der Sowjetunion bewirken, die nach seiner Niederschlagung dann unwiderruflich zerfiel. Am 19. August 1991 war im sowjetischen Fernsehen ununterbrochen eine Ballett-Aufführung von Schwanensee mit der Musik von Tschaikowski zu sehen – ein Detail, an das sich viele Menschen noch Jahre später erinnern. Alexijewitsch sprach zwischen 1991 und 2012 mit vielen Menschen, deren Stimmen in ihrem Buch archiviert sind. Darunter sind Parteiveteranen, die noch auf einen großen Teil der Stalin-Ära zurückblicken konnten, und ganz junge Menschen, die keine eigene Erinnerung an die Sowjetunion haben, sondern in Russland, Belarus, in der Ukraine oder Aserbaidschan aufgewachsen sind. Die 1948 geborene belarusische Autorin, die 2015 den Literaturnobelpreis erhielt, macht in ihren Projekten ihre eigene Stimme nicht geltend, sondern lässt ausschließlich ihre Interviewpartner sprechen.
Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen vor allem bei den älteren Stimmen. Antisowjetische Einstellungen kommen nicht vor, obwohl es immer den Wunsch nach einem besseren, einem guten Leben gab. Dieser Wunsch hatte und hat auch bei den Jüngeren offenbar die Priorität gegenüber der Forderung nach mehr Freiheit und Demokratie. Die Erfahrung des ersten postsowjetischen Jahrzehnts war ernüchternd. Die Realisierung von Freiheit erschien als Rehabilitierung des Kleinbürgertums. Der Kapitalismus, der nun paradoxerweise, entgegen der Abfolge der Gesellschaftsformationen in der marxistischen Lehre, aufgebaut werden sollte, ist ebenso eine Verzerrung der Modellvorstellungen einer funktionierenden Marktwirtschaft wie der überwundene Sozialismus eine Verzerrung der Ideen seiner theoretischen Ahnen war. Die Abkehr von den zuvor gelehrten Ideen ist zunächst mit Erleichterung verbunden: »Niemand sprach mehr von einer Idee, ale redeten von Krediten.« Zudem handelt es sich um einen Kapitalismus aus zweiter Hand, und auch die Ideen der westlichen Demokratie, des unbeschränkten Konsums und der individuellen Freiheit werden in kürzester Zeit verschlissen. Die Perestroika wird nicht als Prozess der Selbstwirksamkeit des Sowjetvolkes erlebt, sondern als Tat eines einzigen Manns, Michail Gorbatschow.
Ich habe 2015 schon einmal versucht, das Buch zu lesen, das mir eine belorusische Studentin empfohlen hatte. Es gelang mir nicht spontan, einen Bezug zu den Biographien und Berichten aufzubauen. Jetzt ist das anders. Das Lektüreerlebnis ist von vielen kleinen Schocks begleitet, es geht oft um konkrete Gewalt an Personen, um Ausgrenzung, Feindseligkeit und Hass (zum Beispiel beim Zusammentreffen von Armeniern und Aserbaidschanern). Gewalt war und ist in den postsowjetischen Ländern viel prominenter auf der Tagesordnung als im friedlichen Westeuropa.
»Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet.«
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. München: Hanser Berlin, 2015
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Gestern starb Wolfgang Hagen
Alphabet für Wolfgang Hagen
Apple. Das Apple-Universum ist Freunden und Schülern von Friedrich Kittler und auch Anhängern „freier“ Software meist suspekt, obwohl viele von ihnen es als akademischen Quasi-Standard akzeptieren. Die mangelnde Offenheit von Hard- und Software und die Unterwerfung aller Kundenwünsche unter ein weltumspannendes Marketingdiktat genügten lange als Argumente – auch gegen die Faszination an gelegentlichen Innovationen und vor allem am Produktdesign. WH adaptierte Mac und iPhone für sich erst spät – und dann auch, um deren Benutzeroberflächen auf ihre synästhetischen Eigenschaften hin zu untersuchen. Ein wenig mag mitgeholfen haben, dass er mit der Apple Watch seinen aktuellen Herzschlag an die meist ferne Gefährtin übermitteln kann.
Bach. In WHs Schriften ist nichts über über Johann Sebastian Bach zu finden. Das ist verwunderlich, denn er spielte über Jahre auf Tasteninstrumenten kaum ein Stück anderer Komponisten. Es kann vermutet werden, dass Bachs Musik einen Ordnungsüberschuss erzeugt, der beim Arrangement komplexer beruflicher und privater Verhältnisse nützlich ist.
Cage. „Continuity today, when it is necessary, is a demonstration of disinterestedness“. Zumindest dieser Devise von John Cage aus der Lecture on Nothing folgte WH. Dass er sich bei der Wahl seiner Themen so vom Zufall leiten ließ wie Cage, der aus den Fliegenschissen auf einem Notenblatt ein Musikstück machte, wird er selbst bestreiten.
Dr. Nox. (Vorname nicht überliefert). Bremer Musikologe und Pharmazeut. Er spielte schwarze Musik und User Generated Content. Für eine spätabendliche Community war er die Stimme eines akustischen „Survival Research Lab“. Nahm sie mit auf eine „Eroberungsfahrt, die das aufdecken will, was sie als Ereignis mit sich bringt.“ (—> Leo G. Wahnfangg).
Euroscript. «MZ10,hans»«MZ20,otto»«MA10,«ET10»+«ET20»» Der Inhalt des Textbausteins 20 wird dem Inhalt des Textbaustein 10 angefügt. Die Variable 10 hat jetzt den Wert „hansotto“.
Aus den teilweise undokumentierten Makrofunktionen, genannt „Anwenderprogrammierung“, des DOS-Textprogramms Euroscript entstand die erste Version des Musikauswahlprogramms der Radiowelle Bremen Vier. Es war die umständlichste und unzuverlässigste Option zur Bewältigung der vorgesehenen Aufgaben. Aber sie funktionierte eine Weile – und der hypnotische Sog des Programmierens setzte ein.
Feynman. Keiner der beim Abfall von den Geisteswissenschaften wirkenden großen Idole – Freud, Lacan, Foucault, Heidegger, Husserl, Turing, Shannon, von Neumann, Wiener (wer fehlt? Kerninghan? Innis?) – scheint eine so kontinuierliche und nachhaltige Resonanz in den Arbeiten WHs zu finden wie Richard Feynman. Zumindest sind es die grundlegenden Themen der modernen Physik, die Feynman in den 1960er Jahren abgehandelt hat, die immer wieder, auch an unerwartbaren Stellen, von WH aufgerufen werden. Sei es ein Vortrag zur Buchgeschichte oder einer über Smartphone-Photographie – ohne einen Hinweis auf die Quantentheorie (oder ihre Unvereinbarkeit mit der Relativitätstheorie) werden die Zuhörer nicht in die Freizeit entlassen.
Geschichte der Rundfunkwissenschaft. Sie beginnt in Deutschland zumindest unter dieser Bezeichnung mit Friedrich-Karl Roedemeyer und einem Institut in Freiburg 1939. Roedemeyer griff 1930 als Frankfurter Lektor für Vortragskunst Nietzsches Klage darüber auf, dass es in Deutschland an einem „natürlichen Boden“ für die mündliche Rede und ihre Ausbildung fehle und beklagte den Mangel an „absichtsloser Natürlichkeit“ der deutschen Radiostimmen. Seine spätere Rundfunkwissenschaft basierte ganz auf dem Erlebnis des Radiohörens. Nach WH gründet diese Freiburger Medienwissenschaft in den techno-okkulten Tendenzen, die seit Madame Blavatsky die Entwicklung der technischen Medien in Europa begleiteten und auch 1945 nicht abrupt endeten. Für die nationalsozialistischen Rundfunkwissenschaftler gipfelte die Performance des Mediums in der Formung der Volksgemeinschaft durch die Stimme des Führers. Diese Huldigung starker Medieneffekte, für die es keinen empirischen Beleg gibt, kehrte sich um in Furcht vor der Verführungskraft von Medien, von der verfassungsrichterlich imaginierten „Suggestivkraft“ des Fernsehens bis zur „Verstörung durch Vernetzung“ des Medienfeuilletonisten Pörksen. Allerdings setzte sich WH durchaus praktisch mit dem von Roedemeyer adressierten Circulus von schlechtem Sprechen und schlechtem Hören auseinander und schickte Radioanfänger mit ihren kleinen Manuskripten für Stunden zu einem erfahrenen Tonmeister ins Aufnahmestudio, um das Geschreibe sprechen und abhören zu lernen. —> Spiritismus
Helvetica. „When using Helvetica you’re never wrong, but also never right.“ Eine subliminale Spätwirkung der Mitarbeit im —> Merve Verlag ist die lebenslange Präferenz WHs für die engzeilig gesetzte Helvetica. Sie prägt auch den Satz und die schlechte Lesbarkeit der meisten Merve-Verlagsprodukte. In den Jahren der Gefangenschaft im walled garden Redmonds meinte WH bei der zumindest auf Papier durch und durch lesefeindlichen Arial Zuflucht nehmen zu müssen, die bislang am sinnvollsten zur Beschriftung von Inflationsgeld (in Zimbabwe) eingesetzt wurde. Sollte er sich gefragt haben, warum seinen Manuskripten seit 2013 mit graduell größerer Aufmerksamkeit und Sympathie begegnet wird, bietet sich die Abkehr von der Arial als Antwort an. Immerhin, es war nicht die Schriftart des Kinderschänders Eric Gill.
Impuls Verlag. Bremer Verlagsinstitut, dem Wunsch eher verbunden als der Ökonomie, und dabei so dionysisch ausgerichtet, dass die Großbuchstaben seiner Publikationen meist einen Punkt über der Grundlinie schwebten. —> Römer —> Jimmy
Jimmy. Resident DJ im —> Römer —> Vier —> Impuls Verlag.
Kleve. Niederrheinische Kleinstadt, an deren Gymnasium 1966 bis 1968 keine Schülerrevolten stattfanden, sondern Kammermusik betrieben wurde, mit WH an der zweiten(!) Geige(!). „Die Mysterien beginnen am Hauptbahnhof“ – diesen Satz kann der Klever Spiritist Josef Beuys nicht auf seine Heimatstadt gemünzt haben, denn sie hat keinen Hauptbahnhof. Bis in die 1970er Jahre hinein war Kleve bekannt für die Schuhfabrikation in vielen kleinen Fabriken und Manufakturen. Als WH ein Kind war, trugen Gleichaltrige in ganz West-Deutschland Elefantenschuhe aus Kleve. Zu seinem mütterlichen Erbe gehörte die Schuhfabrik Bernhard Rave/Wilhelm Rogmann. Mit dem demographischen Wandel („Pillenknick“) war dann die Ära der „Kleefer Schüsterkes“ zuende.
Lamprecht. Helmut Lamprecht war einer der einflussreichen Intellektuellen, die in den Kulturprogrammen des westdeutschen Radios wirkten, ein Brückenkopf der Kritischen Theorie im universitätslosen Bremen vor 1970. Für WH war er ein Gesprächspartner und in Radiodingen Mentor und Ermöglicher.
Merve Verlag. WH arbeitete in der Sponti-Phase des Verlages mit, als er noch A5-Heftchen mit dem Serientitel „Internationale Marxistische Diskussion“ und gelegentlich großformatige Sonderpublikationen verbreitete. Zu diesen gehörte das 1982 erschienene sogenannte Bangkok-Projekt mit dem Titel „Über das Nomadische“ (IMD 106). Darin findet sich der Beitrag von —> Leo G. Wahnfangg: Wie Nomaden reisen. „Weiter treibt, rennt und rast, wen kein Staat bindet.“ —> Helvetica
Nim. Die Macht der Algorithmen ließ WH bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre abendliche Besucher spüren, indem er ihnen die Daumenschrauben des Minimax-Algorithmus ansetzte – in Gestalt einer mit —> Turbo-Pascal nachprogrammierten Version von Nim. Zur Entlastung der Besucher, die sich mehrfach übertölpeln lassen mussten, wurden spieltheoretische Lesefrüchte – von Neumann und Morgenstern –, sowie süße Backwaren und Beck’s Biere verabreicht.
Ontologie. Die meistgebrauchte Vorhaltung WHs gegen metaphysische Positionen in Philosophie und Medientheorie. Whitehead, Stengers, Prigogine, Deleuze, Latour, Haraway und auch die Vertreter einer technologischen Wesensschau, einschließlich neuerer praxeologischer Obskuranten aus der Siegener Medienwissenschaft, werden unnachsichtig als Ontologen vorgeführt. Gerade weil die moderne Physik neben dem ontologischen Status der Natur auch das von ihr bis vor 100 Jahren beanspruchte „Rationalitätskontinuum“ aufgegeben hat, muss die Rationalität von punktuellen Analysen und Interventionen immer wieder erstritten werden. Der von WH in diesem Zusammenhang gern verwendete editionsphilologische Begriff der Konjektur legt allerdings nahe, dass in ihm noch ein Rest von Sehnsucht danach existiert, der Urtext könne erschlossen werden.
Pauli. Dass der Pauli-Effekt und das Pauli-Prinzip gleichermaßen auf Wolfgang Pauli, den mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Quantentheoretiker zurückgehen, ist eine schöne Bestätigung der These WHs über die spiritistische Fundierung der modernen Physik. —> Spiritismus —> Quantenmechanik
Quantenmechanik. WH wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass seit 1947/48, als Shockley den Transistor entwickelte, die industrielle Anwendung der Quantenmechanik die Welt beherrscht. Shockleys Werk „Electrons and holes in semiconductors, with applications to transistor electronics“ und natürlich auch Feynmans Ausführungen über freie Löcher, die sich in Kristallen bewegen, inspirierten ihn zum Plan eines Buchs „Das Loch“, das er seinen Lesern allerdings seit einigen Jahren schuldig bleibt.
Römer. Eine Schnittstelle von libidinöser und diskursiver Formation (Lyotard) auf Bremer Territorium. In WHs Biographie ein entspanntes Experimentierfeld zwischen SFBeat und —> Vier. Die Destruktivkraft eines geräuschempfindlichen marxistischen Kulturwissenschaftlers hätte 1982 fast die Umwandlung des Etablissements in eine muslimische Gebetsstätte bewirkt. Einige Jahre nach der erfolgreichen Abwehr dieser Attacke verlor der Ort seinen Zauber, Libido und Diskurs verflüchtigten sich, und man wünschte sich, sie hätte Erfolg gehabt.
Spiritismus. Eine frühe Entdeckung WHs, in der er möglicherweise eine der vielen Nebenbemerkungen Friedrich Kittlers aufnahm, ist die spiritistische Fundierung der Wissenschaften und Künste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gedankenübertragung, die Freud mit seiner Tochter und seinem Freund Ferenczi zu erwecken versuchten, geisterte noch in technischen Artikeln des Radiopioniers Manfred von Ardenne 1928 herum. Spiritistisch – darauf weist WH in einem heiteren wissenschaftshistorischen Beitrag hin – mutet auch das aktuell umlaufende „anthropische Prinzip“ in der Physik an, das in manchen Varianten mit einer „Noosphäre“ kombiniert wird, einer auf den gesamten Kosmos ausgeweiteten Wikipedia.
Turbo-Pascal. Die schönste Programmiersprache der Welt. WH bemerkte aber, dass das Diktum des Urhebers dieser Sprache, Niklaus Wirth, „that software is getting slower more rapidly than hardware becomes faster“ vor allem auch auf Anwendungen mit Pascal zutraf. Die C-Sprachen erwiesen sich als effizienter.
Universität. Es ist eine lange Eroberungsfahrt. Der Abfall von den Geisteswissenschaften wurde in einem Medium ohne schriftliche Überlieferung, im Tonstudio und am Turbo-Pascal-Editor bereits vollzogen, während andere von Politiken des Subjekts gegenüber den Materialien schwärmten, ohne auch nur eine ungefähre Vorstellung von deren Materialität zu haben. WHs never ending tour ist mit einem institutionell verankerten Lehrstuhl nicht vereinbar, sie findet auf einem mobilen Multifunktionssitz statt.
Vier. „Ich sag Bremen – du sagst Vier.“ Die erste junge Welle im öffentlich-rechtlichen Hörfunk war eine Reaktion auf die Einführung des „dualen Systems“ und mit einer Kette von Pioniertaten verbunden: Selbstfahrerstudio, Computereinsatz für die Musikauswahl, Live-Chat im Internet. Innovatoren haben es immer schwer, Freunde in den eigenen Reihen zu finden. Eine Moderatorin blickt auf die Gründungsphase zurück: „Unvergesslich die Konferenzen, in der Anfangszeit Plenum genannt. Alle mussten kommen. Dann hat der Chef eine neue Programmveränderung vorgeschlagen und sie zur Diskussion gestellt. Zwei Stunden lang sind wir gemeinsam dagegen Sturm gelaufen, mit leidenschaftlich vorgetragenen Argumenten. Danach hat der Chef beschlossen, dass sein Vorschlag ab sofort gilt und umgesetzt wird. Und damit war die Konferenz beendet.“
Wahnfangg, Leo G. Niederrheinischer Organist und Zoroastrier. Sein Hauptwerk Wie Nomaden reisen erlebte 1983 und 2001 durch Gottfried von Einem gleich zweimal eine akustisch-szenische Bearbeitung und Aufführung. Als Spätwirkung des Werks kann die zunehmende Verbreitung des mobilen Un/behaustseins im akademischen Lüneburg gelten. Sein Lebensmotto: „Die wirklichen Reisen sind solche ohne Ziel“.
Xanten. Von —> Kleve 29 Kilometer entfernt, auch schon zur Zeit des Drachentöters Siegfried, dessen Geburtsort Xanten war. Walter Seitter lässt es in seinen bei —> Merve erschienenen Vorlesungen über die politische Geographie der Nibelungen auch als möglichen Geburtsort Hagens (von Tronje) gelten. An Kleve reichten seine assoziativen Gedankenspiele 1986 nicht heran.
Zeitunglesen. … des Morgens früh. Hegels „realistischer Morgensegen“ brachte WH und den Autor dieses Alphabets zusammen.
Aus der Festschrift zu Wolfgang Hagens 70. Geburtstag: Klaut, Manuela; Pias, Claus; Schnödl, Gottfried (Hg.): Stimmen hören. Berlin: ciconia ciconia, 2020, S. 317–323
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Tage aus Blei
Selbstverständlich bin ich kein Freund von Programm-Literatur. Ich las oder hörte irgendwo einen Hinweis auf Radka Denemarkovás Roman und entschloss mich, ihn zu lesen, weil ich glaubte, es sei ein multiperspektivisches Großwerk, zudem mit China befasst wie ich gerade auch. Die Erwartung vielfältiger Perspektiven erweist sich schnell als Illusion. Zwar ist fast jeder der vielen Abschnitte des Buchs einer Figur zugeordnet – die Schriftstellerin, der Programmierer, die chinesische Studentin, die amerikanische Studentin, der Diplomat, Olivie, Pommerantsch, um nur die wichtigsten zu nennen. Zuordnung bedeutet hier aber nicht Perspektive. Die Erzählperspektive ist immer dieselbe, eine Erzählerin erzählt die Personen und Dinge, der Leseprozess ist ein einziger Nachvollzug dieser einen Perspektive. Immer wieder gibt es allerdings Zitate – am häufigsten von Konfuzius und Václav Havel – und längere, vielleicht essayistisch gemeinte, aber eher doch als politische Pamphlete daherkommende Passagen. Diese finden sich besonders häufig in den Abschnitten, die dem Kater Pommerantsch zugeordnet sind – eine ausnehmend blöde Idee; es gibt sogar noch einen zweiten denkenden und sprechenden Kater.
Die Autorin war einige Male in China und lernte dort, wie sie in einigen Interviews berichtet hat, eine Studentin kennen, die später aufgrund kritischer Äußerungen verhaftet wurde und offenbar in der Haft starb. Der Roman walzt diese Begegnungen und das Verschwinden der Studentin zu einer brutalen Tat aus, die in kurzen Episoden »enthüllt« wird: Die Studentin wird vom chinesischen Polizeitapparat gefoltert, ihr werden bei vollem Bewusstsein die Nieren entnommen, sie wird dann ermordet. Es gibt mehrere ähnliche Episoden über mordende staatliche Agenten, zum Beispiel diese:
Eine Greisin steht vor dem Parlament, sie schreit und droht mit dem Zeigefinger. Freundlich stellen sie sich zu ihr, ihre Stimmen reden sanft auf sie ein, natürlich lösen wir das Problem, kommen Sie mit, wir plaudern in Ruhe, Sie müssen nur ein Formular ausfüllen. Die Frau wird um die Ecke in einen grünen Kastenwagen geschoben, und unterwegs wird der Querulantin die Kehle durchgeschnitten. Das erfährt keiner.
Erklärungsansätze zur Sicht der Autorin auf die Verhältnisse in China gibt es nicht. Sie schickt ihre in Tschechien gewonnenen Einsichten und Haltungen sozusagen in den Krieg mit China. Denemarková bzw. ihre Figuren fordern vier Faktoren ein: Individualität, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie. Ein Land, das diese Forderungen nicht erfüllt, ist für die Autorin nicht akzeptabel. Václav Havel, der sich ab 1968 kompromisslos für diese Faktoren einsetzte und als Mitinitiator der Charta 77 und nicht nur als Theaterautor weltweit bekannt wurde, steht für ein Muster des Widerstands, den sie in China vermisst. Statt Individualität zählen dort immer noch Familienwerte, statt um Menschenrechte geht es den meisten Menschen um »Business«, um Wohlstand. Bevor die chinesische Studentin durch ihre Gespräche mit der Schriftstellerin zu oppositionellen Äußerungen motiviert wird, wird sie so gezeichnet:
Für die junge Chinesin ist Mao ein Held, und die Geschäfte sind zum Bersten voll, zum Bersten voll. Die Augen sehen Waren. Von der jungen Chinesin und ihrer Generation kann man nichts erwarten.
Diese Diskrepanz zwischen den aus der Geschichte der Tschecholawakei gewonnenen Erwartungen und der von ihr wahrgenommenen Situation in China motiviert die Autorin zu einer 880-seitigen Predigt, mit Václav Havel als Lichtfigur, dessen Beispiel China erlösen könnte. Ihre Kritik entspricht dabei einer pauschalen und unterscheidungslosen Variante der Totalitarismus-Doktrin. Dabei ebnet sie die Verfolgung und Ermordung tschechischer Juden durch die Nazis, die Unterdrückung der antisowjetischen Opposition in der ČSSR und die umfassende Überwachung der Bevölkerung in China ein. Der chinesische »Totalitarismus« wird zudem vom postsowjetischen Tschechien und irgendwie auch vom ganzen Westen willfährig unterstützt. Statt dessen sollten alle Menschen guten Willens aufschreien oder zumindest nach dem Muster Havels unablässig Briefe schreiben …
Es ist nicht mein Anliegen, China oder irgendeine Institution auf der Welt, die Menschenrechte verletzt und keine Demokratie zulässt, zu verteidigen. Es gibt im Buch jedoch nicht den kleinsten Ansatz zur Erklärung des chinesischen Entwicklungsprozesses und auch keinen Versuch, die offenkundig in China dominierenden Traditionen zu verstehen. Sie stören die Autorin – die auch die chinesische Sprache nicht beherrscht – einfach, und allein das scheint für sie genug Legitimation für ihre Tiraden zu sein. Deshalb fängt sie mich mit solchen Sätzen, die sie einer ihrer Figuren in den Mund legt, nicht ein:
Ein alter Zyklus geht zu Ende. Die Welt strudelt. Eine Welt kastrierter Seelen. Es wird ein Krieg um die Menschlichkeit geführt. Nichts Geringeres steht auf dem Spiel. Das eigene Ich zu behalten gleicht heute einem Wunder. Überall nur Erfüller von Befehlen, Vorschriften, Anordnungen, Bekanntmachungen, Fragebögen, Formularen. Ihre Waffen haben sie gegen Druckspalten, Berichte und Denunziationen eingetauscht. Blicke nach China, bald lebt die ganze Welt so.
Ein einziges Mal gibt es eine gegenläufige Einsicht, der allerdings nicht weiter nachgegangen wird. Die Großmutter der ermordeten Studentin sagt, China zahle den Preis für die westliche Vorstellung vom Fortschritt. Diesen Gedanken würde ich gerne in den Kontext der chinesischen Geschichte stellen: Vo 1850 an hat das Land um seine territoriale Einheit gekämpft, gegen Kolonialmächte, Warlords, Invasoren und schließlich im Bürgerkrieg gegen opponierende politische Kräfte. Danach war es dazu verurteilt, Akteur in Systemauseinandersetzungen zu sein, unter anderem in Form einer Beteiligung am Koreakrieg und am Vietnamkrieg. Es musste verfehlte Entwicklungsstrategien wie den »Großen Sprung nach vorn« und die auf dessen Scheitern reagierende Kulturrevolution verkraften. Wen kann es da wundern, dass heute das Einheits- und Harmoniedenken von Konfuzius vorherrscht und vielen Chinesen eine Konfliktstrategie nach dem Muster Havels vielleicht nicht nur aus Angst vor der oppressiven Staatsmacht unattraktiv und unopportun erscheint?
Ich möchte keine Propagandaschriften in Romanform lesen, ob ich nun die Position ihrer Verfasser teile oder nicht. Aus Empörung und der Absicht, der anderen Seite »kompromisslos« die Meinung zu sagen, wird auch nie gute Literatur. In Denemarkovás Roman dienen viele Passagen nur dem Transport ihrer Polemik, die meisten Dialoge (es gibt offenbar Rezensenten, die sie als »sokratisch« bezeichnen) werden inszeniert, um die Überlegenheit einer Position, einer Haltung, einer Gefühlswelt hervorzuheben. Über die chinesische Studentin heißt es nach vielen Dialogen: »Zum ersten Mal begreift sie sich als Individuum«.
Die Übersetzerin Eva Profousová hat sich in einem Journal zur Übersetzung von Stunden aus Blei von Radka Denemarková geäußert:
https://www.toledo-programm.de/journale/3734/zwischen-log-und-tagebuch
Radka Denemarková: Stunden aus Blei. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022